Vorgeblättert

Leseprobe zu Ulrike Edschmid: Das Verschwinden des Philip S. Teil 1

04.03.2013.
Vor den Krankenwagen sind die Fotografen da. Die ersten Zeitungsbilder zeigen einen Polizisten, niedergesunken an einem Maschendraht. Er liegt auf dem Rücken zwischen zwei Autos. An der Uniform ein großer dunkler Fleck in Höhe des Brustkorbs. Sein Körper auf dem Kopfsteinpflaster bereits von der Kreidelinie umfahren, die ihn von den Lebenden trennt. Ein schöner junger Mann mit Schatten unter den Augen. Die Waffe muss ihm im Fallen aus der Hand geglitten sein. Noch im Tod geht von seinem angewinkelten Zeigfinger eine Bewegung aus, die Philip S. folgt, der einige Meter entfernt an einem Stacheldraht zusammengebrochen ist. Sein Fuß hat sich im Draht verfangen. Ein Bein der schwarzen Hose ist aufgerissen. Er trägt Schuhe, in denen man rennen kann, mit Gummisohlen. Leichter als die, die er früher trug, mit Kappen aus Pferdeleder, doppelt genäht. Schulter und Arm verdecken sein Gesicht. Die schwarze Lederjacke ist ein wenig hochgeschoben. Darunter sein Gürtel. Er hatte ihn aus dem Riemen machen lassen, an dem die Kühe auf der Alm ihre Glocken tragen. Ein Kälbergurt. Vielleicht das einzige, was er noch aus seinem früheren Dasein besaß.
     Die Taschenlampe eines Polizisten leuchtet ihn an. Es ist ein öffentliches Sterben. Philip S. liegt in hartem, niedrigem Gestrüpp. In einer letzten Fluchtbewegung. Wie im Sprung.



I
Philip S. kommt im Spätsommer 1967 nach Berlin. Er trägt einen Anzug, der nicht zu seinem Alter passt, und einen Vornamen, der nicht in seinem Ausweis steht. Mit dem schmalen Bart, der seinem ländlichen Gesicht eine altmodische Strenge verleiht, ähnelt er dem Basler Bonifacius Amerbach, wie ihn der jüngere Hans Holbein vor etwa fünfhundert Jahren gemalt hat. Er ist zwanzig, und es scheint, als hätte er sein Alter bereits mit weitausholenden Schritten durchquert. Aber er bewegt sich nicht mit fliegenden Rockschößen, eher bedächtig und die Augenblicke dehnend, als müsse er sie ausschöpfen bis auf den Grund. Alles, was er tut, tut er langsam. Und doch treibt ihn eine verborgene Eile an, der sein langer Körper nur zögernd folgen will.

Als ich ihn das erste Mal sehe, lehnt er an einer Wand und wartet. Er wartet, dass ich mein Gespräch an dem alten schwarzen Telefon im Flur der Berliner Filmakademie beende. Ich bin siebenundzwanzig, habe ein Kind mit einem Mann, der mich verlassen hat, und lebe im Stadtteil Kreuzberg in einer Wohnung, die früher ein Bäckerladen war. Noch immer gehe ich in die Filmakademie, wenn ich kein Kleingeld für die Telefonzelle habe. Es zieht mich an diesen Ort, obwohl ich weiß, dass ich den Vater meines Kindes dort treffen könnte. Ich schaue in die offenen Schneideräume, wo Spulen mit Filmmaterial leise surrend hin- und herlaufen. Manchmal will es der Zufall, dass auf dem Bildschirm am Schneidetisch ein Gegenstand aus meiner Wohnung auftaucht, eine Lampe, die sich Studenten für eine Szene bei mir ausgeliehen haben, ein Tisch, an dem ein Schauspieler sitzt, oder mein aus der Mode gekommener Pelzmantel, den jetzt irgendeine Frau trägt, als sie aus dem Auto steigt. Oder ich sehe an einem anderen Schneidetisch Bilder eines Lumpensammlers, der seinen Karren durch die Straßen Kreuzbergs zieht. Er kommt auch an dem Bäckerladen vorbei, in dem ich wohne. Hier lädt er etwas auf den Karren, woanders lädt er es wieder ab: einen gebrauchten Kinderwagen mit verchromten Schutzblechen oder ein altes Fahrrad. Hustend schleppt er seinen Karren abends in das Wohnheim für Obdachlose am Schlesischen Tor. In den Fluren gehe ich an Fotowänden vorbei, auf denen auch der Vater meines Kindes zu sehen ist, der nicht mehr mein Mann ist. Ich trinke einen Kaffee bei der Sekretärin, die sich erinnert, wie ich das erste Mal herkam, mit einem Baby auf dem Arm.

Der Vater meines Kindes gehörte zu den ersten Studenten an der Akademie. Während unserer kurzen Ehe in dem ehemaligen Bäcker­laden hat er einen einzigen Film gedreht: die letzten Lebensminuten des Sokrates, gespielt von einem Bettler mit langen weißen Haaren, der auf der Potsdamer Straße Zigarettenkippen sammelt und Platons Text mit Berliner Akzent spricht. Der Darsteller des Kriton, seines Schülers, ist ein ostpreußischer Knecht, der nachts in einer Eckkneipe neben dem Kohleofen schläft. Die letzten Minuten des Sokrates spielen sich auf einem Friedhof ab zwischen Lebensbäumen, Grabsteinen und Laub.

Zu Beginn des Jahres 1967, als es in dem Bäckerladen so kalt geworden ist, dass die Eisblumen am Kinderzimmerfenster nicht mehr auftauen, packe ich einen Seesack und steige in den Zug nach Rom. Mein Sohn kriecht auf dem Boden des Abteils herum und wird von den heimkehrenden Italienern mit Süßigkeiten gefüttert. Wir fahren zu meiner Freundin C., die mit ihrer im letzten Frühling geborenen Tochter in einer Wohnung in Trastevere lebt und sich ihren Unterhalt damit verdient, dass sie in einer Bibliothek des Vatikans kirchliche Texte vom Italienischen ins Deutsche überträgt. Hin und wieder gibt sie Arbeiten an mich weiter, ich übersetze sie aus dem Englischen. An den Wochenenden, wenn sie nicht in der Bibliothek sitzen kann, nehmen wir die Rückbank aus dem alten Volkswagen, stellen die beiden Kinderwagen hinein und machen Ausflüge an den Nemisee; manchmal legen wir uns an der Via Appia Antica in die frühe Sonne oder fahren Richtung Norden in die verkehrte Welt des Parks von Bomarzo mit dem schiefen Haus und den in Vulkangestein gehauenen Monstren. An Werktagen bestellt sie sich morgens in der Bar in Trastevere noch schnell einen Espresso und ein Cornetto con panna, bevor sie zu ihrer Arbeit eilt. Ich versorge ihre winzige Tochter bis zum Mittag. Wenn sie zurückkommt, mache ich mich mit meinem Sohn auf den Weg durch die Kirchen, über die Friedhöfe, die Märkte, durch Gärten und Museen. Ich durchquere die Plätze wie nicht enden wollende Räume, einer schöner eingerichtet als der andere. Tagsüber ist unser Leben leicht und voller Bewegung. An den Abenden aber, wenn unsere Kinder schlafen, sitzen wir in der halbleeren Wohnung und halten zuweilen mitten im Gespräch inne, wenn uns einfällt, dass wieder keine Post gekommen ist. Dann versucht jede eine aufsteigende Ahnung niederzuhalten, dass unsere Männer, die an der Akademie in Berlin ihre ersten Filme drehen, mit anderen Frauen zusammen sein könnten. Als der Mietvertrag ausläuft, packen wir alles zusammen und räumen die Wohnung aus. Rot-weiß gestrichene Böcke und Bretter, die uns als Tische dienten, tragen wir zurück auf die Baustellen, von denen wir sie geholt hatten. Kinderbetten und Matratzen hatten uns amerikanische Künstler ausgeliehen, die sie wieder an sich nehmen würden, sobald wir uns nach der letzten Nacht auf den Heimweg gemacht hätten.

Es war eine Freundin, die in meinem Bett gelegen hatte. Dass sie in meiner Abwesenheit auch meine Kleider getragen hat, erfahre ich von einer Nachbarin. In jenen Frühlingstagen bin ich in anderen Stadtteilen unterwegs, besuche die Menschen, die ich dort kenne, und lasse mir nichts anmerken. Wenn ich keine Besuche mache, gehe ich mit meinem Kind am Ufer des Landwehrkanals spazieren, bis ich an die Mauer komme, wo die Stadt endet, und kehre wieder um. Ich schiebe den Kinderwagen an Kellerwohnungen vorbei: Auf geblümten Wachstuchdecken schwankt der Lichtkreis nackter Glühbirnen hin und her. Ein alter Mann sitzt am Tisch, eine Frau. Oder ein Paar, das schweigt. Abends, wenn mein Kind schläft, setze ich mich an den großen Zeichentisch im Ladenraum. Zwischen den Materialien für meine Doktorarbeit über einen expressionistischen Schriftsteller liegen noch die Standfotos von den Dreharbeiten des Sokrates-Films. Ich starre auf Bücher und Papiere, ohne einen Gedanken fassen zu können. Durch die Milchglasfolie auf den Schaufensterscheiben sehe ich Schattenrisse von Menschen, die sich kurz auf den Sims setzen und dann weitergehen.
     Im Morgengrauen des zweiten Juni wache ich von Geschrei auf. Ich sehe Umrisse von Polizisten, die einen Knäuel bilden, einen wabernden Haufen. Arme mit Stöcken und Beine mit schweren Stiefeln lösen sich aus dem Knäuel Sie schlagen und treten auf einen Menschen ein, der am Boden liegt. Wie gelähmt stehe ich hinter Glas. Das ist die Welt, denke ich, in der mein im Hinterzimmer schlafendes Kind aufwachsen soll. Nachmittags gehe ich zur Demonstration gegen den persischen Schah. Aber ich bleibe mit dem Kinderwagen am Rand, tauche nicht ein in die Menge. Abends geht das Gerücht von einem toten Demonstranten um. Das Foto des erschossenen Studenten gehört zu den unauslöschlichen Erinnerungsbildern meiner Generation. Nichts blieb, wie es gewesen war.

Im Spätsommer höre ich auf, an die Rückkehr meines Mannes zu denken, und suche mir eine neue Wohnung. Ich finde sie im Herbst, in Charlottenburg, in einer Straße an den Bahngleisen. Alle drei Minuten fährt eine S-Bahn zwischen Bahnhof Friedrichstraße und Bahnhof Wannsee vorbei. Die meisten Dinge im Bäckerladen habe ich zusammengepackt, zwei durchgesessene Ledersofas lasse ich zurück. Auf dem Flur der Filmakademie organisiere ich von dem schwarzen Telefon aus meinen Umzug. Philip S. lehnt an der Wand und hört mir zu. Er trägt einen Anzug mit Nadelstreifen und ein Hemd mit einem Monogramm, das sichtbar wird, wenn er die Hand in die Hosentasche steckt. Ich trage ein altmodisches Kleid aus Kunstseide und Stiefel. Er sagt: "Ich möchte Ihnen gerne helfen." An den Wörtern "möchte" und "gerne" höre ich, dass er Schweizer ist.
     Er kommt am nächsten Tag in einem langen schwarzen Mantel, schleppt Kisten und Möbel die Treppen hoch und bleibt. Er kündigt sein Zimmer im Souterrain einer Villa, durch dessen halbhohe vergitterte Fenster er die Reifen der Lastwagen sah, die auf einer breiten Ausfallstraße von der Grenzstation Staaken in die Stadt und wieder aus der Stadt hinaus nach Westdeutschland rollen. In meine Wohnung kommt er mit einer lindgrünen Hermes-Reiseschreibmaschine ohne "ß", einem lindgrünen Koffer und einer Foto­ausrüstung, für die er Fächer eingepasst hat in eine alte Arzttasche mit Stangenverschluss: eine Spiegel­reflexkamera, drei Objektive, vierundzwanzig, fünfzig und hundertfünf Millimeter, die passenden Sonnenblenden, eine Lupe, Drahtauslöser, Belichtungsmesser, Reinigungspinsel, Ledertuch. Die Kamera war in Zürich gekauft worden, kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag. Die Rechnung, ausgestellt auf den Namen des Vaters und mit einem hohen Rabatt versehen, befindet sich noch immer in einer Hängeregistratur, die er einmal für uns beide angelegt hatte. Die Kamera war kein Geschenk. Sie war eine Investition, von der die Eltern sich erhofften, dass sie sich auszahlen würde bei diesem Sohn, der nicht in die Familie passte.

zu Teil 2
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