Vorgeblättert

Leseprobe zu Richard Hughes: In Bedrängnis. Teil 1

06.08.2012.
ERSTER TEIL - Der Anfang

Unter den Menschen, die mir begegnet sind, ragt in meiner Erinnerung ganz besonders ein gewisser Mr. Ramsay MacDonald heraus. Er war Leitender Ingenieur und, nach eigenem Bekunden, ein weitläufiger Vetter von Mr. J. Ramsay MacDonald, dem Staatsmann. Er besaß auch wirklich, was Gesicht und Schnurrbart betraf, große Ähnlichkeit mit seinem "Vetter"; und zuerst verblüffte mich der Anblick, wie da anscheinend mein Premierminister im Overall und mit der Aura echter Autorität und Fachkenntnis resolut unter einer demontierten Maschineneinheit hervorkroch.
     Denn ursprünglich bin ich Mr. MacDonald während der ersten Labourregierung im Jahr 1924 begegnet, auf der Archimedes, einem einschraubigen Turbinendampfer von etwas über 9000 Tonnen.
     Es war ein prächtiges Schiff. Ein reines Frachtschiff (es sei denn, man weigert sich, die moslemischen Pilger, die es gelegentlich beförderte, als Fracht zu klassifizieren). Die Reederei, ein hoch angesehenes Handelshaus in Bristol, besaß eine große Flotte, doch sie liebte jedes einzelne Schiff und spornte es zur Höchstleistung an, als wäre es ihr Kind - eine tiefe, aufrichtige, eigennützige Liebe, keine bloße Gefühlsduselei. Die Reederei baute ihre Schiffe nach eigenen Entwürfen. Sie achtete auf deren perfekten Zustand und zögerte nie, alles abzuwracken, was veraltet oder unsicher schien. Sie schloss für ihre Schiffe keine Versicherung ab. Eventuelle Verluste wollte sie ebenso wenig teilen wie die Gewinne. Darum waren alle, von der Firmenleitung bis zur Bordkatze, bedingungslos entschlossen, jedes Verlustrisiko zu vermeiden.
     Man traf die allergrößten Vorsichtsmaßnahmen. Nehmen wir zum Beispiel die Schornsteinstage der Archimedes. Sie waren ausgelegt, einer Belastung von einhundert Tonnen standzuhalten! Aber wie konnte es jemals zu einer Belastung von einhundert Tonnen für die Schornsteinstage kommen? Ein Sturm von fünfundsiebzig Meilen pro Stunde risse einem Segelschiff jeden Fetzen Leinwand aus der Takelage; und selbst ein derartiger Hurrikan würde, nach den Berechnungen der Konstrukteure, den Schornstein der Archimedes höchstens mit einem Gesamtdruck von zehn oder fünfzehn Tonnen belastet haben. Der Schornstein (er bestand aus einem inneren und einem äußeren Teil, die miteinander verklammert wurden) war an sich schon stabil genug, um jeder gewöhnlichen Belastung zu trotzen. Bei korrekt montierten Stagen stand dieser Schornstein so sicher wie die Bank von England.

II

Mr. MacDonald, ich sagte es wohl bereits, war Leitender Ingenieur. Er herrschte unumschränkt im Maschinenraum, im Feuerungsraum und in diversen Außenbereichen.
     Ein Maschinenraum lässt sich mit keiner Architektur an Land vergleichen. Es ist ein gewaltig hoher Raum - der mehr oder weniger das ganze Schiff von oben bis unten durchzieht. Riesig. Doch anders als die meisten großen architektonischen Räume (mit Ausnahme der Hölle vielleicht) betritt man ihn durch ein kleines Schott ganz oben.
     Diese ungeheure Leere füllen ausgeklügelt und planvoll aufgestellte Maschinen: Hochdruck- und Niederdruckturbinen, Untersetzungsgetriebe, Kondensatoren, Pumpen. Dem Besucher bleibt die eigentliche Natur dieser Maschinen jedoch verborgen, denn jede ist fest mit aberhundert schweren Eisenbolzen in einen Eisenmantel eingeknöpft. Große, unterschiedlich dicke Rohre, manche - kalt - aus blankem, betautem Kupfer und andere in weißen, wärmespeichernden dicken Umhüllungen, verbinden die Maschinen.
     Haben Sie an einem Nebeltag schon mal diese Spinnfäden gesehen, die wie Stege zwischen den Zweigen eines Gebüsches verlaufen? Im Maschinenraum gibt es ebenfalls kleine Metallstege in verschiedener Höhe und filigrane Stahltreppen, über die man zu jedem Teil dieser riesigen Eisenklötze gelangt; und über sich sieht man Kräne und Hochbahnen zum Transport von Werkzeugen und Ersatzteilen, denn diese Werkzeuge und Ersatzteile wiegen oft etliche Tonnen.
     Die Handläufe aus poliertem Stahl sind schlüpfrig durch Feuchtigkeit und Öl. Und die Luft hier kontrastiert mit der schneidenden Seeluft draußen, sie ist warm und weich vom Dampf (der in kleinen Mengen stets irgendwo entweicht), und der Maschinenlärm im Raum bleibt erträglich.
     Im Kesselraum (oder Feuerungsraum), den man gewöhnlich von unten her durch ein niedriges Schott am Boden des Maschinenraums betritt, herrschen ganz andere Zustände. Hier ist die Luft noch heißer, aber recht trocken. Außerdem waltet hier eine ähnliche Symmetrie, wie man sie auch in architektonischen Räumen an Land findet: eine Reihe gleichartiger Heizkessel, die unten schmal sind, sich nach oben verbreitern und unter der Decke zusammentreffen gleich gotischen Bögen in einer Metallkrypta (oder wie die Wände eines Zimmers in einem Traum).
     Dem Zugang vom Maschinenraum vis-à-vis erstreckt sich eine Reihe Feuertüren, jede mit einem kleinen Guckloch, das von den Flammen dahinter hell erleuchtet wird. Späht man durch so ein Loch in den tobenden Feuerbrand, kann man sich schwer vorstellen, dass er sich nur aus der Verbrennung eines einzigen dünnen, heißen Ölstrahls speist, den eine Düse zerstäubt, die so klein ist, dass sie in die Westentasche passt! Neben jeder Feuertür steht ein Behälter, einem Schirmständer nicht unähnlich. Darin steckt eine Fackel - eine lange Eisenstange mit einem Bündel ölgetränkter Stofffetzen am Ende. Zum Wiederentzünden einer Feuerung (solange sie noch warm ist) muss man nur ganz behutsam zwei Hahnventile öffnen, das eine liefert heißes Öl, das andere einen Druckluftstrom: Und dann zündet ein Chinese die Fackel an und stößt sie durch eine kleine Öffnung in das leere, ofengleiche Gewölbe der Feuerung, wo der heiße Öldunst sofort zu einem brüllenden Flammenmeer explodiert.
     Hier - im Feuerungsraum - befindet man sich natürlich direkt unter dem Fuß des Schornsteins. Eine Stahlleiter führt hinauf in den Raum, der ihn an der Basis umgibt, der sogenannte Schornsteinmantel; durch ein Schott gelangen die Heizer direkt an Deck und in die frische Luft. Aber der Besucher, den Mr. MacDonald durch sein Reich führt, kehrt normalerweise wieder in den Maschinenraum zurück.
     Und dort, jenseits der Unzahl Heizkessel und klirrender Maschinen, findet man schließlich die schlichte Sache, um die es eigentlich geht: nämlich eine glatte Säule aus Stahl, die in kühlen und komfortablen Lagern ruht und lautlos rotiert - die Schraubenwelle. Sie verläuft in voller Länge durch einen nicht ganz mannshohen Gang bis zum Heck des Schiffs.
     Stellen Sie sich einen Baum vor. Die Wurzeln eines Baumes durchziehen als hochkompliziertes Netzwerk den Boden und entnehmen ihm alles Notwendige. Diese Nährstoffe steigen vereint die unscheinbare Säule des Stammes empor und explodieren oben in der Luft in einer Vielzahl von Blättern. Ebenso werden die diversen Kräfte - Druck und Zug -, die von diesem Maschinenwirrwarr ausgehen, in der schlichten Rotation dieser liegenden Säule gebündelt und ruhig ins Meer geleitet, wo sie plötzlich das weiße und glasgrüne Blattwerk der Wirbel und durcheinanderschießender Strömungen entfalten, das gewaltige Gewühl durchpflügter Wogen, aus denen das Kielwasser eines Schiffes besteht.

III

All das lag ausschließlich in Mr. MacDonalds Zuständigkeit, ebenso wie bestimmte andere Mechanismen im Schiff. Die Rudermaschine, zum Beispiel, in ihrem "Haus" auf dem Achterdeck (im Heck). Das ist eine wuchtige Maschine, trotzdem lassen sich ihre immensen Kräfte, die das schwere Ruder mit höchster Präzision einstellen, an- oder abschalten vom schmalen Handgelenk eines chinesischen Rudergängers, der auf der Brücke leicht am Steuerrad dreht. Und sollte das Steuerrad auf der Brücke aus irgendeinem Grund nicht funktionieren, dann lässt sich ein Notsteuer im Heck ankoppeln. Sollte aber die Dampfrudermaschine selber ausfallen, dann säße man in der Klemme. Denn ein so schweres Ruder kann man nicht von Hand bewegen. Die geballte Kraft der ganzen Crew würde nicht ausreichen, es auch nur einen Zoll zu drehen.
     Was kann ich Ihnen noch erzählen, damit Sie eine Vorstellung von der Archimedes gewinnen? Ich schweige über ihren prächtigen Anstrich und ihre schönen Linien, denn ich möchte nicht, dass Sie sie so sehen wie ein Verliebter eine Frau sieht, sondern so, wie ein Medizinstudent es tut. (Der Liebhaber erhält später das Wort.)
     Hier noch ein paar Informationen. Der Rumpf eines Schiffes besteht aus zwei Hüllen, und der Raum dazwischen ist in Sektoren gegliedert. Diese Sektoren in der Schiffswand heißen Tanks. Sie dienen verschiedenen Zwecken. Einige fassen das Heizöl (denn die Archimedes ist ein Dampfer mit ölgefeuerten Kesseln). Andere können, lässt man sie mit Meerwasser volllaufen, als Ballast dienen, um die Stabilität des Schiffes zu kontrollieren und zu regulieren. Wieder andere enthalten Frischwasser. Zu diesen Tanks gelangt man durch Mannlöcher, die sich zum Teil im Boden des Maschinenraums befinden; belüftet werden sie (denn Heizöl entwickelt explosive Gase) durch jene Rohre, die Ihnen auf dem Promenadendeck eines Linienschiffes unweit der Reling vielleicht schon aufgefallen sind. Es ist die Aufgabe des Schiffszimmermanns, sie auf jeder Wache auszuloten und den Stand ihres Inhalts genau zu protokollieren.
     So viel also zu Mr. MacDonalds Reich. Ihm waren sieben Ingenieuroffiziere unterstellt, ein Stückchen roter Stoff neben den goldenen Ärmelstreifen kündete von ihrer tartareischen Tätigkeit, und ihnen wiederum unterstand eine aufgeweckte und geschickte Crew von chinesischen Heizern und Schmierern. Das übrige Schiff - der Rumpf, die Decks und allem voran der Laderaum - gehörte Mr. Buxton, dem Ersten Offizier alias I.O.
     Es ist schon merkwürdig, wie wenig Deckoffiziere und Ingenieuroffiziere (der alten Schule) sich für den Arbeitsbereich des anderen interessieren. Dahinter steckt weniger taktvolle Vermeidung eines Übergriffs als völliges Desinteresse. Der Ingenieuroffizier muss sicherstellen, dass bestimmte Maschinen funktionieren, doch es interessiert ihn nicht, wozu sie dienen. Es kümmert ihn ebenso wenig, wohin sie ihn bringen, wie es den Bauch interessiert, wohin die Beine unterwegs sind. Der Deckoffizier wiederum scheint kaum zu wissen, ob er sich auf einem Motorschiff oder auf einem Dampfer befindet (er merkt es höchstens an den stark verschmutzten Decks). Er kann nicht einmal die Funktionsweise der einfachsten, tagtäglich von ihm benutzten technischen Vorrichtung erklären. Auch sonst leben Deckoffiziere und Ingenieuroffiziere ähnlich isoliert voneinander wie Jungen und Mädchen im englischen Schulwesen.
     Selbst auf der Archimedes, wo man die Politik verfolgte, die Parteien zusammenzuwürfeln, klappte die Sache nicht so recht. In der blitzblanken Offiziersmesse aus Mahagoni aßen sie an verschiedenen Tischen, wobei ihnen der Tisch für die Kadetten als Barriere diente. Ihre Quartiere waren getrennt. Sogar die chinesischen Heizer schliefen am einen Ende des Schiffs und die chinesischen Decksmänner am anderen!
     Es gibt natürlich gewisse Bereiche des Schiffs, wo sich die Grenze kaum ziehen lässt - doch sie wird gezogen, überall. Das Schornsteininnere gehörte zum Beispiel Mr. MacDonald, die Außenseite Mr. Buxton. Die Dampfpfeife gehörte Mr. MacDonald, das Nebelhorn jedoch fiel fraglos in die Zuständigkeit von Mr. Buxton. Dieser Umstand war auf der Archimedes nicht so bedeutungslos, wie es klingt. Mr. Buxton besaß nämlich einen trägen Lemuren, einen Katta aus Madagaskar, namens Thomas. Und Thomas schlief tagsüber regelmäßig im Nebelhorn. Er besaß das Recht dazu, denn das Nebelhorn unterstand ja seinem Herrn. Es war Thomas' Zufluchtsort.
     Der kleine Thomas schlief den ganzen Tag und war nicht einmal nachts besonders munter. Ein Manko jedoch besaß er. Er hatte ein Faible für das menschliche Auge und missbilligte dessen geschlossenen Zustand. Kam er in Mr. Buxtons Kabine, während sein Herr schlief, dann sprang er sacht auf den Rand der Koje und hob mit seinen langen Fingern ebenso geschickt wie behutsam die Lider des Schlafenden, bis der ganze Augapfel frei lag. Das tat er auch bei anderen Deckoffizieren, wenn er sie (zu seinem Kummer) nachts mit geschlossenen Augen vorfand. Sie mussten Thomas natürlich ertragen (wenn es nachts zu heiß war, um die Schotten zu schließen): Es war eine Frage der Disziplin. In der englischen Gesellschaft kommt der Ehefrau der Rang ihres Gatten zu; und auf See kommt dem Haustier der Rang seines Besitzers zu. Eine Kränkung des Lemuren des Ersten Offiziers wäre gleichbedeutend mit einer Kränkung des Ersten Offiziers gewesen.
     Was die Ingenieuroffiziere betraf, da wusste Thomas ganz genau, dass er nicht einmal in die Nähe ihrer Unterkünfte kommen durfte, aber im Nebelhorn seines Herrn wagte niemand, sich an ihm zu vergreifen.

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