9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Europa

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.04.2024 - Europa

Im SZ-Interview mit Jens-Christian Rabe und Lothar Müller debattieren die SPD-Politikerin Gesine Schwan und der Osteuropa-Historiker Martin Schulze Wessel über die deutsche Haltung im Ukrainekrieg. Wenn man sich nicht dazu entscheide, die nötigen Waffen an die Ukraine zu liefern, damit diese die russischen Truppen aus ihrem Gebiet drängen kann, lasse man sie de facto "ausbluten", kritisiert Schulze-Wessel scharf: "Wenn man Russlands Aggression nicht entschieden entgegentritt, stachelt man den imperialen Ehrgeiz Putins an - über die Ukraine hinaus. Scholz geht den Weg eines trügerischen Mittelwegs. Besser wäre, die Ukraine so zu unterstützen, dass sie den Krieg gewinnen kann." Schwan sieht hier vielmehr taktische Klugheit: "Der Eindruck der Halbherzigkeit und des Hinterherhinkens entsteht nicht, weil sie nichts riskieren wollen, also weil sie es sich nicht mit Russland verderben wollen und Rücksicht nehmen auf innerparteiliche Strömungen. Der Eindruck entsteht, weil sie bei diesem Krieg mehr im Blick haben müssen als nur das Verhältnis der Ukraine zu Russland und Fragen des Waffennachschubs. … Konkret heißt das: Bei jeder Waffenlieferung muss mitüberlegt werden, ob sie eine nicht mehr steuerbare Eskalation des Krieges begünstigt oder nicht."

Vermittlungsgespräche mit Putin werden scheitern, bekräftigt Jean-Claude Juncker nochmal im FAZ-Gespräch mit Simon Strauss, in dem er ebenfalls die Defensivität von Olaf Scholz kritisiert: "Es wäre der EU zu raten, ihre Mitglieder zu bitten, nicht mit öffentlichen Vorschlägen vorzupreschen, die nicht mit den anderen Partnern in der Europäischen Union abgesprochen sind. Wer dies dennoch tut, der macht sich schuldig, ob bewusst oder unbewusst, das Spiel von Putin mitzuspielen. Ich bin der Auffassung, dass man in einem so zugespitzten Konflikt nie sagen sollte, was man nicht tut, weil das das Geschäft des Gegners, in diesem Fall Putin, vereinfacht. Ich bin aber auch dagegen, dass man europäische Soldaten in die Ukraine schickt. Dies würde einen Schaden provozieren, der lange anhalten könnte."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.04.2024 - Europa

Die Gesundheitswissenschaftlerin Daphne Hahn hat einen großen Bericht über "Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer" vorgelegt und wirft im taz-Gespräch mit Patricia Hecht einen sehr kritischen Blick auf die Versorgungslage in Deutschland: "Mehr als die Hälfte der befragten Frauen fand es schwierig, ausreichende und gute Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen zu finden. Von denen wiederum hatte die Hälfte Angst, dass schlecht über sie gedacht wird, wenn sie einen Abbruch wollen. Fast die Hälfte wollte oder musste den Abbruch geheim halten. Beides spiegelt Stigma wider."

Der Westen begegnet Russland häufig mit "Meinungen und Hypothesen"; eine tiefere Kenntnis von Land und Leuten fehlt oft, kritisiert der Schriftsteller Christoph Brumme in der NZZ, der seit 2016 in der Ukraine lebt. Immer wieder wird der Gegner falsch eingeschätzt, so Brumme, der die enge Verquickung von Mafia und Staat in Russland erläutert, die sich in Putins Politik niederschlägt: "Eines der wichtigsten Kriegsziele Putin-Russlands ist die Durchsetzung des Rechts des Stärkeren, die Herrschaft der rohen Gewalt, der Prinzipien der Mafia-Kultur im globalen Maßstab. ... Russland kann im friedlichen Wettbewerb mit entwickelten Ländern nicht mithalten. Seine Innovationskraft ist bescheiden, seine Soft Power angsteinflößend, seine demografische Entwicklung düster, die Gewalt gegenüber Frauen weltrekordverdächtig. In Bezug auf Frieden und Freiheit ist der Westen Russland in allen Belangen haushoch überlegen. Er ist ökonomisch weitaus flexibler, produktiver und stärker, diplomatisch und kulturell besser vernetzt, bietet seinen Bürgern die höhere Lebensqualität, hat die produktivere Selbstorganisation und deshalb mehr Handlungsmöglichkeiten. Putins Russland fühlt sich aber körperlich (militärisch) stärker, weil es bereit ist, rohe Gewalt zum Erreichen seiner Ziele einzusetzen."´

Putin ist nicht verrückt, versichert der britische Russlandexperte Mark Galeotti im SZ-Interview mit Cathrin Kahlweit. Vielmehr sei er "ein zutiefst unheimlicher, rationaler Akteur, der viele seltsame Dinge glaubt", meint Galeotti. An eine Bedrohung der Nato glaubt Galeotti nicht: "Putin versucht nicht, die Sowjetunion wiederzubeleben und auch nicht das Zarenreich. Er will die Länder nicht zwingend regieren, die er zu seinem Interessengebiet zählt. Ihm hätte es gereicht, wenn die Ukrainer ihren Platz in der russischen Welt nicht infrage gestellt hätten. Derzeit lautet die Frage, ob Putin weitere Länder angreift. Ich persönlich sehe keine territorialen Ambitionen. Dieses Land hat 20 Jahre lang Milliarden in seine Armee investiert, in eine glänzende Maschine, die von außen sehr eindrucksvoll aussah, wenn sie über den Roten Platz rollte. Und dann hat er alles zunichtegemacht. Die zweitstärkste Armee der Welt erwies sich als die zweitstärkste Armee in der Ukraine. Und jetzt will er eine Armee aufbauen, welche die Nato herausfordert?"
Stichwörter: Abtreibung, Russland

9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.04.2024 - Europa

Die Russische Orthodoxe Kirche rüstet rhetorisch weiter auf, schreibt der Kirchenhistoriker Reinhard Flogaus in der SZ. Ende März wurde bei einer Sonderversammlung des Weltkonzils des Russischen Volkes (WKRV) eine Grundsatzerklärung zu "Gegenwart und Zukunft der Russischen Welt" verabschiedet, in der vom "Heiligen Krieg" und dem "vereinigten russischen Staat" gesprochen wird: "Was mit einem solchen 'vereinigten russischen Staat' gemeint ist, macht die Erklärung unmissverständlich klar, wenn sie fordert, dass nach Ende des Krieges 'das gesamte Territorium der modernen Ukraine in eine Zone des ausschließlichen Einflusses Russlands übergehen' solle. Im Übrigen solle Russland 'zu der seit mehr als drei Jahrhunderten bestehenden Doktrin der Dreieinigkeit des russischen Volkes zurückkehren, wonach das russische Volk aus Großrussen, Kleinrussen und Weißrussen besteht, die Zweige (Unterethnien) eines Volkes sind'. Mit anderen Worten: Nicht nur eine Eigenstaatlichkeit der Ukraine, sondern auch eine echte Unabhängigkeit von Belarus ist nach dieser Doktrin ausgeschlossen, da alle Ostslawen Teil ein und desselben Volkes und 'Nachkommen des historischen Russlands' seien." Flogaus fordert Sanktionen aus Brüssel gegen das WKRV und dessen Vorsitzenden, Patriarch Kyrill.

Nach dem Anschlag auf die Crocus City Hall in Moskau gibt es in Russland keinerlei Aufklärung, das Bekenntnis des IS verkauft Putin als westliche Fehlinformation, berichtet Silke Bigalke in der SZ aus Russland: "Moskau wirkt wie begraben unter mehreren Schichten aus Propaganda, Zensur, Schock, Trauer, Terror und wieder Propaganda." Schon die Warnungen des amerikanischen Geheimdienstes hatten die Russen in den Wind geschlagen: "Um einen Terroranschlag zu verhindern, sagt Geheimdienstexperte Andrej Soldatow, sei es nicht nur wichtig, die richtigen Informationen zu sammeln, sondern auch sie auszutauschen. Und das sei schon innerhalb der russischen Dienste problematisch, weil man einander nicht traue. Noch schwieriger ist das auf internationale Ebene. Seit Kriegsbeginn, sagt Soldatow in einem Videotelefonat, 'können wir vor allem von westlichen Geheimdiensten nicht zu viel Kooperation erwarten.' Der Experte lebt in London, gilt in Russland als 'ausländischer Agent' und wurde obendrein wegen angeblicher Falschnachrichten über die Armee angeklagt. Wenn also eine Warnung aus Washington komme, sagt er, dann brauche man innerhalb der russischen Dienste Leute, die sie richtig einschätzen und dafür werben, sie ernst zu nehmen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.04.2024 - Europa


Serhij Zhadan sollte eigentlich "eine Urkunde für den Nobelpreis in der Hand halten, kein Gewehr", meint der ukrainische Übersetzer Juri Durkot in der Welt, nachdem er erfahren hat, dass sich Zhadan zur Armee gemeldet hat. Zhadan habe lange geglaubt, man müsse dem Westen diesen Krieg erklären, so Durkot, "heute glaubt er das nicht mehr. Oder nicht mehr richtig. Wie kann man denn wirklich glauben, dass Worte wichtig sind, wenn deine Stadt, Charkiw, wieder regelmäßig unter Beschuss steht, und der Westen eher ratlos zuschaut? Wenn die dringend notwendigen Abwehrsysteme gegen russische Raketen in unendlichen, zermürbenden Diskussionen im US-Kongress feststecken? Und dies zu einer Zeit, zu der Russland laut dem ukrainischen Energieexperten und Vorsitzenden des Thinktanks 'Strategie XXI', Mychajlo Hontschar, die 'Aleppo-Taktik' anwendet - die Stadt wird Schritt für Schritt zerbombt, ohne einen Unterschied zwischen ziviler Infrastruktur und militärischen Objekten zu machen. Inzwischen geht man davon aus, dass das städtische Fernwärmenetz nicht mehr wiederherzustellen ist. Steht die Stadt nun auf der 'Todesliste' der russischen Führung, weil sie, vor dem Überfall überwiegend russischsprachig, nicht die Regeln der 'russischen Welt' akzeptieren wollte? Und wie reagiert der Westen darauf?"

In der NZZ versucht Viktor Jerofejew am Beispiel seiner Großmutter zu erklären, warum Russen nie eine Schuld zugeben. Und resümiert: "Vollkommenes Vergessen und kein Schuldgefühl, das ist das Schicksal unserer Landsleute. Wer von ihnen erinnert sich noch an den sowjetisch-finnischen Krieg? Jeder Finne weiß um diesen Krieg, aber bei uns gibt es keinen einzigen Schuldigen. Das Gleiche lässt sich über den Krieg in Afghanistan und über beide Kriege in Tschetschenien sagen. Warum ist das so? Weil dies keine Kriege des Volkes sind. Auch der Krieg gegen die Ukraine ist kein Krieg unseres ganzen Volkes (wie der gegen Nazideutschland). Wie kann das sein, wo doch das Volk darin umkommt? Es ist ein Krieg um großes Geld, wie russisches Roulette, entweder werde ich getötet, oder ich verdiene gutes Geld. Das wirkt verlockend für eine bestimmte Bevölkerungsschicht."

Die taz bringt ein Dossier mit vielen Artikeln zum "Tag der Roma". Die Ausgrenzung hält an, schreibt Nizaqete Bislimi-Hošo, Vorsitzende des Bundes Roma Verbandes, im Leitartikel: "Geschichte braucht die Verantwortungsübernahme in der Gegenwart. Diese suchen wir aber vergeblich. Still war und ist es, wenn es um Abschiebungen geht. Wenn Staaten als sicher erklärt oder neue Verschärfungen eingeführt werden. Die permanente Ausgrenzung produziert permanente Migration. Menschenrechtlich und auch wirtschaftlich ist dies fatal, doch der Wille zur Ignoranz scheint unermesslich."

Dass es einen Porajmos, eine systematische Ermordung von Roma und Sinti durch die Nazis gab, haben die Deutschen noch später registriert als den Holocaust, sagt auch der Autor Gianni Jovanovic im Gespräch mit Ulrich Gutmair von der taz: "In den Bildungsinstitutionen war das bestenfalls eine Randnotiz oder wurde gar nicht erwähnt. Im Bereich der Kultur, in der Musik, im Theater, in der Literatur, aber auch im familiär weitergegeben Wissen wurden auch nach dem Krieg extrem rassistisch konnotierte Bilder überliefert. Sinti und Roma haben darin den Charakter des Antagonisten im Sinne von: Die dürfen wir angreifen, alle anderen nicht, aber die sind so, mit denen darf man das machen."

Zwei Fälle extremer Gewalt an Schulen erschüttern Frankreich - und dann doch wieder nicht, denn die Medien berichten äußerst zurückhaltend. In Montpellier wurde die 13-jährige Samara von einer Mitschülerin und Kumpanen bewusstlos geschlagen - erst im Krankenhaus erwachte sie wieder aus ihrem Koma. Grund: Sie trug kein Kopftuch, schminkte sich (mehr etwa hier in Le Point). In Viry-Châtillon, einer ruhigen Kleinstadt in der südlichen Pariser Banlieue, wurde der 15-jährige Shamseddine von vier oder fünf Mitschülern so brutal zusammengeschlagen, dass er es nicht überlebte. Im Midi Libre werden nun erste Vermutungen über Motive bekannt: "Nach ersten Erkenntnissen der Ermittlungen und den Aussagen der Angeklagten wurde der 15-jährige Shemseddine von einer Gruppe Jugendlicher, zu der auch zwei Brüder gehörten, wegen eines Streits im Zusammenhang mit ihrer 15-jährigen Schwester über 'Themen im Zusammenhang mit  Sexualität' verprügelt, wie Staatsanwalt Grégoire Dulin erläuterte. Laut dem Staatsanwalt, der von BFMTV zitiert wurde, hätten die Geschwister 'um den Ruf ihrer Schwester gefürchtet', während Shamseddine 'damit prahlte, dass er frei mit ihr sprechen könne, da es noch keinen Druck von ihrer Seite gegeben habe'." Mehr im Figaro.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.04.2024 - Europa

Etwa einhundert ukrainische Kulturschaffende sind laut PEN Ukraine seit Kriegsbeginn ermordet worden, aber es dürften wesentlich mehr sein, sagt Tetyana Teren, Generalsekretärin des PEN Ukraine, in der FAS zu der in Moskau geborenen Schriftstellerin Anna Prizkau: "'Wir wissen, dass es viel mehr ermordete Künstler und Intellektuelle gibt, als uns bekannt sind.' Warum? 'Weil wir nicht in die besetzten Gebiete reingehen können, weil wir über die russischen Verbrechen dort nichts wissen.' Und werden sie gezielt getötet? Gibt es denn diese Listen der ukrainischen Intellektuellen, die die Russen töten wollen, töten sollen? 'Oh ja, die Russen bereiteten sie in großem Stil schon vor der Invasion vor. Wir haben sie gesehen. Selbst jetzt schreiben sie noch ihre schwarzen Listen, sogar von Büchern, sogar von Artefakten, die sie auch töten wollen. Es sind die gleichen, alten Methoden - sind die des russischen Reiches und des sowjetischen', sagt sie."

Wegen Krieg, Pandemie und einer niedrigen Geburtenrate ist die demographische Lage in Russland schlecht, deshalb kämpft Russland bereits seit vergangenem Jahr gegen Abtreibungen, schreibt Katharina Wagner in der FAZ: "In einem ersten Schritt soll nun Privatkliniken die Möglichkeit genommen werden, Abtreibungen anzubieten. Aus Sicht des Regimes machen sie es Frauen zu leicht, halten sich angeblich nicht an die Vorgaben, etwa vor dem Eingriff eine 'Woche der Stille' abzuhalten, in der sich die Frauen möglichst noch umentscheiden sollen. Im Herbst verzichteten Privatkliniken in mehreren Regionen schon 'freiwillig' darauf, Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen - nachdem örtliche Beamte ihnen nahegelegt hätten, einen 'Beitrag zur Verbesserung der demographischen Lage im Land zu leisten', wie die Zeitung Kommersant herausfand. In Mordwinien, den Kaliningrader, Kursker und Twerer Gebieten wurde außerdem das 'Drängen zur Abtreibung' unter Strafe gestellt, wobei unklar bleibt, was genau als 'Drängen' gilt."

Der Historiker Jan C. Behrends gehört zu den Mitunterzeichnern des Brandbriefs, der die Russlandpolitik der SPD attackiert (Unser Resümee). Der Brief sollte auch ein "Zeichen gegen diese anhaltende Entintellektualisierung der SPD", sagt er im SpOn-Gespräch, in dem er der SPD auch Wissenschaftsfeindlichkeit vorwirft. Zudem bekräftigt er die Forderung nach Aufarbeitung der Russlandpolitik der SPD, die keineswegs zur deutschen Einheit geführt habe: "Diese Geschichte hat man sich in der Partei 30 Jahre lang erzählt - sie ist historisch falsch. Das wissen wir heute aus amerikanischen und sowjetischen Archiven. Auch sollte uns diese Ostpolitik den Weg zu einem Kant'schen ewigen Frieden mit Russland ebnen. Man hat sich dieses ostpolitische Gute-Nacht-Lied immer wieder vorgesungen, was das politisch-kritische Denken in der Partei eingeschläfert hat."

"Scholz zaudert nicht, er ist schlicht gegen die Lieferungen von Taurus", verteidigt indes Juli Zeh den Kanzler im großen Gespräch mit der Berliner Zeitung: "Aus Scholzens Sicht, und das ist auch meine Sicht, darf Deutschland nicht Kriegspartei werden. Bei allem anerkannten Bedürfnis der Ukraine, sich gegen den russischen Aggressor zu verteidigen, darf man die Eskalationsgefahr nicht aus dem Blick verlieren." Dem Journalismus wirft sie im Gespräch Meinungsmache vor: "Eigentlich sollte doch neutrale Berichterstattung im Vordergrund stehen. Meinungsartikel sind selbstverständlich erlaubt, aber sie sollten die Ausnahme, nicht die Regel darstellen. Zu viel journalistisch verkündete Meinung erzeugt Unmut in der Bevölkerung. Weil die Leute den Eindruck bekommen, dass ihnen die Medien sagen wollen, was sie zu denken haben. Niemand lässt sich gerne bevormunden."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.04.2024 - Europa

Im Mai wird Emmanuel Macron zum großen Staatsbesuch in Berlin erwartet. FAZ-Korrespondentin Michaela Wiegel versucht Macrons Gesinnungswandel gegenüber Russland auf die Spur zukommen. Von seiner Friedensrhetorik hat er abgelassen. Eine russische Niederlage bezeichnet er nun als Voraussetzung für eine neue europäische Friedensordnung. "Innenpolitisches Kalkül kann ausgeschlossen werden. Mit Kriegsrhetorik lassen sich keine Sympathien gewinnen. Macrons verbale Aufrüstung hat alle Oppositionsparteien verschreckt. Die geplante Militärhilfe in Höhe von drei Milliarden Euro für die Ukraine in diesem Jahr stößt angesichts der Sparzwänge des überschuldeten Landes auf Kritik. Den Preis einer zunehmenden Entfremdung vom eigenen Souverän nimmt der Präsident in Kauf. Es wäre für ihn politisch wesentlich vorteilhafter gewesen, sich als Friedensengel zu gerieren, wie Marine Le Pen es macht."

Die Debatte um nukleare Abschreckung in Europa muss neu geführt werden, finden der Historiker Michael Jonas und der Politologe Severin Pleyer in der FAZ, und benennen zugleich die Schwierigkeiten: "Für die Debatte über die strategische Orientierung des Landes scheint das Fortwirken eines vermeintlich 'friedenswissenschaftlich' sozialisierten politisch-kulturellen Milieus ebenso symptomatisch wie gravierend zu sein." Darüberhinaus "zog die Abwesenheit des Krieges zumindest auf dem europäischen Kontinent eine gleichsam kollektive Entwöhnung nach sich - nicht nur vom Krieg als Erlebtem und Erfahrenem, sondern als überhaupt Vorstellbarem. Krieg ist dabei insbesondere der deutschen Gesellschaft, vielmehr aber noch ihren Eliten in einem Maße fremd geworden, dass man selbst das Instrumentarium eingebüßt zu haben scheint, um diesen überhaupt systematisch verstehen und damit gegebenenfalls auch beschränken und einhegen zu können."

Die CHP konnte bei den türkischen Kommunalwahlen auch deshalb so viele Stimmen gewinnen, weil sich durch Erdogans zunehmend islamistischen und nationalistischen Kurs rechts der Mitte eine Lücke geöffnet hatte, erklärt Deniz Yücel in der Welt: "Jahrelang konnte Erdogan seinen Wählern weismachen, dass Wahlen Entscheidungen zwischen Gläubigen und Ungläubigen seien. Diese Propaganda hat die CHP durchbrochen. Sie verteidigt den säkularen Lebensstil ihrer Stammwählerschaft gegen Einmischungen des Erdogan-Regimes. Aber zumindest bei einem Teil der frommen Wähler konnte sie das Misstrauen abbauen, die CHP wolle sich in ihren Lebensstil einmischen." Zudem konnte Imamoglu nicht nur fromme und nationalistische Stimmen gewinnen, "sondern, so widersprüchlich dies klingt, auch kurdische."

"Kann es sein, dass die Grünen die Wehrhaftesten sind?", fragte Claudius Seidl gestern der FAZ und sorgte damit schon für allerhand Wirbel auf Twitter. Eigentlich sind es ja die Rechten, die "soldatische Tugenden" für sich beanspruchen und nicht müde werden, einen Mangel an Männlichkeit, Stärke und Durchhaltevermögen zu beschreien. Aber, sagt Seidl, das ist nur heiße Luft: "Tapfer sind diese Rechten nur, wenn es gegen Flüchtlinge geht, gegen Deutsche mit Migrationsgeschichte, gegen eine muslimische Invasion, die es nur in ihrer Einbildung gibt. ... Es gibt ein Wort für diese Art von Tapferkeit. Man nennt sie Feigheit." Vielmehr Potenzial sieht Seidl da, wo man es erstmal nicht erwarten würde - bei den Grünen: "Dort hat man längst gelernt, dass Wohlstand, Komfort, Bequemlichkeit nicht zu den unveräußerlichen Menschenrechten gehören."

Gelesen hat man das, was Yanis Varoufakis im zweiseitigen FR-Interview von sich gibt, oft genug - allerdings nicht derart brachial. Der griechische Ökonom ist natürlich für Verhandlungen mit Russland, will der Ukraine unter anderem den Nato-Beitritt verwehren, spricht von "ethnischer Säuberung" und "Deportation" durch Israel und hat natürlich auch eine Lösung für den Nahostkrieg parat: "Wie wäre es mit der Beendigung der Apartheid?"

9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.04.2024 - Europa

Gestern frohlockte Can Dündar (SZ) noch angesichts der Kommunalwahlen in der Türkei (Unser Resümee), heute fragt er sich nüchtern, was Erdogan unternehmen könnte, um die "Gunst" seiner Wähler zurückzugewinnen: "Wird Erdogan erneut den Trumpf der Sicherheit ausspielen und den Massen, denen er wirtschaftlich nichts versprechen kann, sagen: 'Ihr hungert zwar, aber ihr lebt in Sicherheit'? Wird er seine schwindende Popularität mit einer größeren Militäroperation im Irak und mit einem Aufruf zur Einheit stärken? Oder wird er seinen früheren liberalen Anstrich auffrischen, bevor er im Westen anklopft, um die leere Staatskasse aufzufüllen? Werden die politischen Gefangenen, die er seit Jahren hinter Gittern festhält, bald freikommen? Werden wir noch vor den für 2028 angesetzten allgemeinen Wahlen in eine demokratische Türkei heimkehren können?"

Mit Sorge berichtet Moritz Pieczewski-Freimuth bei hpd.de über das Zurückweichen britischer Behörden gegenüber einem radikalen Islamismus. Der Abgeordnete Mike Freer, der einen Wahlkreis mit starker jüdischer Bevölkerung vertrat, seine Solidarität erklärte und überdies offen homosexuell lebt, hat inzwischen seinen Abschied aus der Politik verkündet. Aber das Phänomen hat größere Ausmaße: "Bemerkenswert ist die regelrechte Selbstsicherheit der Judenfeinde, die sich größtenteils aus islamischen Extremisten, pro-palästinensischen Aktivisten und Linksidentitären rekrutieren: Mal überklebt man den Davidstern der Amy-Winehouse-Statue mit einem Palästina-Sticker, dann wird das Holocaustarchiv als 'feindliches' Gebäude mit roter Farbe markiert. Hier hissen Islamisten auf pro-palästinensischen Demonstrationen Fahnen mit dem islamischen Glaubensbekenntnis ('Schahada'), die als Erkennungsmerkmal des Islamischen Staates oder der Hizb ut-Tahrir gelten, dort setzt der Mob unter antisemitischen Parolen ein Wohnhaus in Brand. Hetzjagden auf Juden scheinen mittlerweile zum tragischen Alltag Londons zu gehören."

Das neue Gesetz gegen "Hate Speech" (Unser Resümee), das in Schottland verabschiedet wurde, könnte erst der Anfang einer weltweiten Einschränkung der Meinungsfreiheit sein, befürchtet Peter Rásonyi in der NZZ. Doch "die linke Koalition aus schottischen Nationalisten, der Labour-Partei und Liberaldemokraten, die das Gesetz verabschiedete, ist nicht allein. Auch im seit 14 Jahren von den Konservativen geführten England nehmen die Bestrebungen zur Einschränkung der freien Rede zu. So kündigte der Minister Michael Gove unlängst die Schaffung einer schwarzen Liste an, auf der extremistische Gruppierungen und Nichtregierungsorganisationen aufgeführt werden sollen, die keinen Kontakt zur Regierung mehr haben dürfen. Was als extremistisch gilt, bleibt unklar und der Interpretation der Ministerialbürokratie überlassen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.04.2024 - Europa

Die breite Unterstützung für den Krieg in der Ukraine, wie sie propagiert wird, gibt es in der russischen Bevölkerung nicht, meint im SpOn-Gespräch die Ökonomin Alexandra Prokopenko, die ihren Job bei der russischen Zentralbank mit Kriegsausbruch kündigte. Viele Beamte sind mit Ausreisesperren belegt oder werden mit geheimen Dokumenten unter Druck gesetzt - und auch der Westen bietet ihnen keinen Ausweg, erklärt sie. Um die russische Wirtschaft wirklich zu schwächen, müsste der Abfluss von Kapital aus Russland stimuliert werden: "Jede Milliarde weniger in Russland bedeutet weniger Unterstützung der Kriegsmaschinerie. Selbst zu einem Zeitpunkt, als die russische Zentralbank bereits Kapitalverkehrskontrollen eingeführt hatte, flossen immer noch Dutzende Milliarden Dollar ins Ausland. Warum sollte der Westen solche Bewegungen nicht fördern, statt sie wie aktuell zu bekämpfen? Ich glaube, es wäre an der Zeit, dass der Westen alles tut, um sowohl den Braindrain als auch die Kapitalflucht aus Russland zu fördern. Das würde Putins Regime aushöhlen. Es wäre an der Zeit, Russlands Wirtschaft so langsam ausbluten zu lassen."

Die Ukraine hat nach internationalem Recht den Vorrang, wenn es darum geht, Russland für seine Kriegsverbrechen anzuklagen. Aber ist es auch sinnvoll, dieses Vorrecht zu nutzen, wie das gerade passiert, fragt Ronen Steinke in der SZ. Bei einer Konferenz in Den Haag wurde klar: "Der ukrainische Generalstaatsanwalt zeigt sich fest entschlossen, möglichst alles unter seiner Kontrolle zu behalten. Er und seine Leute wollen Russen anklagen, sie bestehen auf Tempo - notfalls klagen sie Russen auch in Abwesenheit an, ohne Verteidigung. Nach dem Recht Deutschlands und der meisten anderen europäischen Staaten wäre so ein Vorgehen undenkbar." Eigentlich, meint Steinke "wäre das Weltstrafgericht prädestiniert, um hier aus neutraler Warte zu urteilen - über Vorwürfe gegen Russland, aber auch gegen die Ukraine, die derzeit kaum aufgeklärt, auch kaum ausgeräumt werden können."

Vier Gründe macht Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne für das Scheitern Erdogans bei den Kommunalwahlen aus: Einen starken Gegenkandidaten, die schwache Wirtschaft, den Wahlboykott enttäuschter Erdogan-Wähler und: "Dass Ankara trotz der Ereignisse in Gaza die Handelsbeziehungen zu Israel nicht aussetzte, dürfte der dritte Grund für Erdogans Schlappe gewesen sein. Selbst Islamisten, die zuvor für die AKP gestimmt hatten, entschieden sich nun anders, weil sogar Schiffe im Besitz von Erdogans Kindern Waren nach Israel transportieren. Die neue Wohlfahrtspartei YRP, nicht zuletzt durch ihre antiisraelische Haltung groß geworden, machte einen überraschenden Sprung und wurde mit mehr als sechs Prozent drittstärkste Partei."

Die Türkei hat das Ruder herumgerissen und ist in Richtung Demokratie unterwegs, frohlockt hingegen Can Dündar auf Zeit online: "Im Gegensatz zur weltweiten Tendenz bewegt sich die Türkei auf eine Wende zu, die sie vom Autoritarismus entfernen und wieder näher an demokratische Prinzipien heranführen wird. Ein konkretes Zeichen für diesen Wandel ist, dass die einst von der AKP über und über orange gefärbte politische Landkarte bei der Wahl am letzten Wochenende von der CHP zu großen Teilen in Rot getaucht wurde."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.04.2024 - Europa

Appeasement oder das Einfrieren eines Konflikts hat schon 447 n. Chr. nicht funktioniert: Die Hunnen fielen trotz aller Zugeständnisse im römischen Osten ein, warnt der Althistoriker Mischa Meier in der FAZ mit Blick auf Putin: "Das hunnische Machtgebilde war im Kern nichts anderes als eine Kriegerkoalition, die von Einnahmen lebte, die im Wesentlichen durch Raub und Erpressung erreicht wurden. ... Die Hunnen und insbesondere ihre Herrscher waren zur Kriegführung verdammt, weil es ihrem Machtgebilde an den strukturellen Voraussetzungen für eine friedliche Koexistenz mit seinen Nachbarn mangelte. Wer hier nachgab, einseitig Frieden suchte oder sich darum bemühte, Konflikte einzufrieren, hatte unweigerlich das Nachsehen. ... Russland, das man treffend als 'Tankstelle mit Atomwaffen' bezeichnet hat, gehört aktuell in diese Kategorie ..."

"Der Konflikt mit Putins Russland wird eine Generationen-Aufgabe", meint der SPD-Abgeordnete Michael Roth, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, der in der Welt für eine europäische Abschreckungsstrategie plädiert, denn Russland sei "zurzeit wieder im Vorteil und setzt auf eine jahrelange Abnutzungsstrategie. Es wäre jedoch ein schwerer Fehler, die weiße Fahne zu hissen. Europa hat die finanziellen und industriepolitischen Ressourcen, die Ukraine wieder in eine Position der Stärke zu bringen, wenn wir es nur wollen. Falls die Unterstützung vonseiten der USA weiterhin komplett ausfällt, sollte die EU ein gemeinsames Schuldenaufnahmeprogramm nach dem Vorbild des Corona-Wiederaufbauprogramms beschließen, um die Ukraine-Hilfe langfristig zu finanzieren."

"Der Niedergang der AKP ist unübersehbar", kommentiert Deniz Yücel in der Welt die Kommunalwahlen in der Türkei: "Die AKP ist im Niedergang, Erdogan hat eine Niederlage erlitten. Ihn sollte man trotz dieses Wahlergebnisses nicht abschreiben, auch über 2028 hinaus nicht - ungeachtet dessen, dass die Verfassung keine dritte Amtszeit als Staatspräsident erlaubt. Sofern sein Gesundheitszustand dies irgendwie zulässt, dürfte Erdogan einen Trick finden, diese Hürde zu umgehen. Es gibt keine Macht, die ihn davon abhalten könnte. Was er aber nicht umgehen kann, und darin liegt die über die Türkei hinausweisende Botschaft dieser Wahl: Kein autoritäres Regime währt so lange, wie es Autokraten gerne glauben. Anders als Diktaturen beziehen Autokratien ihre Legitimität aus Wahlen. Sie können die Gewaltenteilung abschaffen, Kritiker verfolgen, den Staatsapparat ihren persönlichen Zielen unterwerfen. Doch wenn auch alle unfairen und rechtswidrigen Mittel nicht mehr helfen, dann ist tatsächlich Ende."

"Der wohl wichtigste Grund für das schwache Abschneiden der Regierungspartei ist die hohe Inflation von derzeit 67 Prozent", meint in der FAZ Friederike Böge zu den Wahlen in der Türkei. "Mehr als die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung lebt vom Mindestlohn. Er liegt inzwischen unterhalb dessen, was laut dem Gewerkschaftsverband nötig ist, um eine Familie gesund zu ernähren. Viele Türken kommen nur noch über die Runden, indem sie immer neue Schulden machen. Viele wollen auswandern."

"Am Sonntag hat Erdogans Ende begonnen", konstatiert auch Raphael Geiger in der SZ mit Blick auf den Wahlsieg Ekrem Imamoglus bei der Istanbuler Oberbürgermeister Wahl: "Was Erdogan treffen muss: Viele seiner eigenen Leute haben ihn verlassen. Die vielen, mit deren Stimmen er sich den Staat unterworfen hat, die Justiz, die Armee. Das schaffte er, der Außenseiter aus dem Armenviertel, stets mit den Stimmen einer Mehrheit seines Volkes. In der Putschnacht damals gingen sie für ihn auf die Straße, manche in den Tod. Und jetzt? Hat seine AKP im Vergleich zu den Wahlen vergangenes Jahr Millionen Wählerinnen und Wähler verloren, ein Massenschwund" Und auch Jürgen Gottschlich sieht in der taz "Erdogans Götterdämmerung" anbrechen.

In Schottland tritt heute unter dem neuen Premier Humza Yousaf ein neues Gesetz gegen "Hate Speech" in Kraft, das in ganz Britannien für viel Belustigung, aber auch scharfe Kritik sorgt. Bei der Polizei werden 400 Meldestellen für "Non Crime Hate Speech" eröffnet, bei denen man sich melden kann, wenn ein Mitbürger Missliches sagte. Die schottische Polizei überwacht. Und sie warb mit diesem Video für ihre neue Politik.



Bei Unherd äußert die Feministin Kathleen Stock scharfe Kritik (deren Name auch in Deutschland bekannt wurde, weil sie ihre Uni wegen ihrer "Transphobie" hatte verlassen müssen, unsere Resümees): "Es ist schon eine Ironie, dass so viele heute zu glauben scheinen, Biologie sei sozial konstruiert, die Bedeutung von Hass aber sei natürlich und feststehend. Tatsächlich ist das, was als adäquater Ausdruck einer bestimmten Emotion gilt, zumindest teilweise kulturell bedingt, und heutzutage scheint die Kategorie des Hasses sehr viel weiter gefasst zu sein als früher. Früher wurde er durch Gewaltausbrüche gegenüber fremden Gruppen und durch die Verwendung aggressiver Schimpfwörter zum Ausdruck gebracht. Im heutigen Schottland scheint er jedoch gemessen an Aussagen wie 'die Entscheidung, sich als 'nicht-binär' zu identifizieren, ist genauso gültig wie die Entscheidung, sich als Katze zu identifizieren' - so eine Äußerung des konservativen MSP Murdo Fraser, die anschließend von der Polizei als nicht strafbarer Hassvorfall registriert wurde, ein Urteil, das er nun vor Gericht anzufechten gedenkt."

In Zeit online ist auch Jochen Bittner eher mulmig bei dem schottischen Gesetz: Den Schutz der Meinungsfreiheit brauche es "nirgendwo so sehr wie auf eben jenen umstrittenen Debattenfeldern. Werden diese zu Zweifelsräumen über das Erlaubte, dann sagt man lieber weniger. Das schadet nicht nur dem gesellschaftlichen Fortschritt, sondern auch der liberalen Demokratie." Schottlanbd steht mit der Idee jedenfalls nicht allein da, auch in Berlin gibt es Meldestellen, mehr hier.

Die Österreicher haben Erfahrung im Umgang mit rechten Parteien, da könnte man von lernen, empfiehlt der Wiener Rundfunkregisseur René Rusch in der taz und widerspricht Marc Felix Serrao, der kürzlich in der NZZ vor einer "Ausgrenzung" der AfD gewarnt hatte. Doch das Argument, man müsse die Rechten mal mitregieren lassen, dann würden sie sich schon entzaubern, habe sich in Österreich als falsch herausgestellt, schreibt Rusch: "Die FPÖ hat nach der vorzeitig gescheiterten Regierung Schüssel I noch zweimal mitregiert; jede einzelne Koalition war von Skandalen geprägt. Die letzte ÖVP/FPÖ-Koalition endete damit, dass der FPÖ-Vizekanzler Österreich im globalen Maßstab blamierte. Dass sich die FPÖ im Laufe ihrer Regierungsbeteiligungen gemäßigt hätte, behauptet heute niemand. Tatsächlich wurde die Partei zunehmend radikaler. "

9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.03.2024 - Europa

Catherine Belton, Autorin eines der wichtigsten Bücher über Putin und seine westlichen Helfershelfer, lobt im Gespräch mit Jens Uthoff von der taz die Entschlossenheit der EU gegenüber Putin ("abgesehen von ein paar Ausrutschern des Bundeskanzlers Olaf Scholz"). Auf die Frage, ob sie eine Niederlage Putins für denkbar hält, antwortet sie: "Das kommt darauf an, wie man Niederlage definiert. Es gab einen Punkt vor etwas einem Jahr, als Putins Thron gewackelt hat, als Russland militärisch schwach war und Jewgeni Prigoschin einen Putsch plante. Es besteht immer noch die Möglichkeit, Russland derart militärisch zu schwächen. Aber nur wenn der Westen die Kurve kriegt und die Ukraine in die Lage versetzt, sich nicht nur selbst zu verteidigen, sondern tatsächlich einen bedeutenden militärischen Angriff an der Frontlinie zu starten. Die Frontlinie ist aber über tausend Kilometer lang... Der Westen muss umdenken, die Waffenindustrie muss mehr produzieren."

Neulich hat der renommierte SPD-Außenpolitiker Michael Roth, einer der wenigen Putin-Kritiker in der Partei, seinen Rückzug aus der Politik angekündigt - er folgt damit anderen Außenpolitikern der SPD, der so langsam die letzten Reste von Expertise abhanden kommen, fürchtet der Historiker Martin Schulze Wessel in der FAZ. Beispiel: Martin Schulz, Ex-Kanzler-Kandidat der SPD, der jetzt bei der Friedrich-Ebert-Stiftung sein Gnadenbrot verdient. Er hat dem ukrainischen Präsidenten in Zeit online vorgeworfen, dieser habe das Minsker Abkommen sabotiert. "Das Gegenteil ist der Fall. Tatsächlich war Selenski im Wahlkampf im Frühjahr 2019 Befürworter einer Verständigung mit Russland. Als Präsident war er bereit, für Frieden in der Ostukraine schmerzhafte Kompromisse mit Russland einzugehen, bis er bei dem Gipfeltreffen im Elysée-Palast im Dezember 2019 auf den unbedingten Machtwillen Putins stieß. Fälschlich zu behaupten, Selenski sei der erklärte Gegner der Vereinbarungen von Minsk gewesen, ist keine Petitesse. Es stellt die Genealogie des aktuellen Kriegs auf den Kopf."

"Wir müssen uns daran gewöhnen, dass eine neue Ära begonnen hat, die Vorkriegszeit" warnt der polnische Premier Donald Tusk im Gespräch mit der Welt am Sonntag. Ihm geht ein Bild nicht aus dem Kopf: "Ich erinnere mich an ein Foto aus meiner Kindheit, das im Haus meiner Familie hing. Es zeigte den Strand von Sopot voller lachender Menschen. Aufgenommen wurde es am 31. August 1939 - ein paar Stunden später begann fünf Kilometer entfernt der Zweite Weltkrieg. Ich weiß, es klingt niederschmetternd, vor allem für die jüngere Generation."

In der Türkei sind morgen Kommunalwahlen. Unter anderem wird die wichtige Frage entschieden, wer Bürgermeister von Istanbul sein wird. Für Erdogan ist diese Wahl entscheidend, schreibt Bülent Mümay in seiner FAZ-Kolumne. "Umfragen zum Wahlergebnis in Istanbul weisen darauf hin, dass es für Erdogan nicht nach Wunsch läuft. Obwohl er das gesamte Kabinett zum Wahlkampf nach Istanbul geschickt und sämtliche Ressourcen des Staates mobil gemacht hat, sieht es nicht danach aus, dass der AKP-Kandidat, ein Mann aus der Verwaltung, Ekrem Imamoglu besiegen kann."