9punkt - Die Debattenrundschau
Zögerliche Solidarität
Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Politik
Dienstagnacht gab es einen versuchten Brandanschlag auf eine Synagoge in Berlin-Mitte. Seit den Hamas-Attentaten ist die Anzahl antisemitischer Straftaten gestiegen, meldet Konrad Litschko in der taz. In Berlin bildete die Polizei eine eigene Arbeitsgruppe "Nahost", lesen wir: Allein "dort wurden seitdem 369 antiisraelische Straftaten gezählt. Darunter fallen 110 Sachbeschädigungen, 31 Volksverhetzungsdelikte sowie vier Propagandadelikte. Im gesamten Vorjahr hatte die Polizei in Berlin 381 antisemitische Straftaten erfasst." Auch die Recherche- und Informationsstelle Rias meldete am Mittwoch einen "massiven" Anstieg von Antisemitismus seit den Hamas-Attacken, so Litschko. In Berlin wurden außerdem Haustüren mit Davidsternen markiert, berichtet Paul Middelhoff in der Zeit: "Mittlerweile ermittelt der Staatsschutz, ein politisches Motiv sei nicht auszuschließen, heißt es von der Berliner Polizei, möglich, dass die Davidsterne in Verbindung mit dem Geschehen in Israel stehen. Das Graffito an der Haustür in Prenzlauer Berg ist nicht das einzige. An mehreren Wohnhäusern in Berlin waren in den letzten Tagen Davidsterne entdeckt worden, die Fotos gingen zuerst auf WhatsApp innerhalb der jüdischen Community von Berlin hin und her, dann auch in der Chatgruppe 'Israelis in Berlin', schließlich landeten die Bilder offen zugänglich im Netz. Ausgerechnet in Berlin, der Stadt mit ganzen Straßenzügen voller glänzender Stolpersteine."
Der Philosoph Slavoj Žižek hielt zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse eine heftig umstrittene Rede, in der er auch auf den Terroranschlag auf Israel einging. Zizek verurteilte den Anschlag zwar, fand aber die Israelis kaum weniger brutal in ihrer Behandlung der Palästinenser. Nachdem sich Protest erhoben hatte, beschwerte er sich über ein "Analyseverbot". Er stritt sich außerdem mit dem hessischen Antisemitismusbeauftragten Uwe Becker, der Žižek die Relativierung des Hamas-Terrors wie des Leids der Menschen in Israel vorwarf. Da scheinen zwei Rollenerwartungen miteinander kollidiert zu sein, meint Jens-Christian Rabe in der SZ: "Im Rahmen der Eröffnung der Messe war alles auf die (symbolpolitischen) Notwendigkeiten des Moments ausgerichtet, die nach den bestialischen Morden der Hamas in der Öffentlichkeit uneingeschränkte Unterstützung für Israel verlangen. Žižek dagegen wollte der kühle Analytiker sein, als hätte er in der Sache das Privileg einer Art neutralen Position. Für einen Philosophen ist das verständlich, für einen aufmerksamen Zeitgenossen, der Žižek ja auch ist, war es verblüffend naiv. Und genau das wiederum schafft Platz für den Verdacht, dass es ihm am Ende doch eigentlich vor allem um Israelkritik beziehungsweise das Ausagieren eines antisemitischen Ressentiments ging, das bei Linken im Westen ja leider keine Seltenheit ist. Anders gesagt: Entweder war Žižek dumm - oder er war gewissenlos rechthaberisch. Dumm ist er sicher nicht, bleibt nur Letzteres. Aber warum sollte man in dieser Situation gewissenlos rechthaberisch sein wollen?"
Streit muss sein, das ist schon gut so, meint Tobias Rapp im Spiegel zur Zizek-Rede. Aber so? Indem man wie Zizek versucht, die rechte Regierung in Israel quasi neben die Hamas zu stellen? "Der Angriff der Killerkommandos vom 7. Oktober galt nicht der Regierung Netanyahu. Er galt dem Staat Israel als Ganzem. Und jedem Einzelnen seiner Bewohner. Žižek ahnt das wohl. Deshalb betont er, dass er das Recht der Israelis auf einen militärischen Gegenschlag sehr wohl sehe und billige. Er sagt es aber nicht. Stattdessen stellt er die Hamas und die Regierung Netanyahu gegeneinander. Das ist aber eine unzulässige Vermischung der Ebenen. Die Hamas will Israel vernichten. Nicht bloß die rechte Regierung. Israel wird in den kommenden Monaten versuchen, die Hamas zu zerstören. Nicht Palästina. Das kann man schlimm finden und auch kritisieren. Man sollte es aber auseinander halten."
In der taz möchte der in Beirut geborene französische Journalist Selim Nassib hingegen beide Seiten gleichermaßen in die Verantwortung nehmen: "Das desolate Spektakel hat allen, insbesondere in der arabischen Welt, gezeigt, dass diejenigen, die den Preis für den von der Hamas provozierten mörderischen Wahnsinn zahlen, nicht die Anführer dieser islamistischen Bewegung sind, sondern die unglücklichen Menschen, die fliehen, erneut fliehen, immer weiter fliehen, bis sie auf die verschlossenen Grenzen des Gazastreifens, ihres Gefängnisses, stoßen. Auch Israel hat jetzt eine unterschwellige Botschaft gesandt: 'Wir wollen euch nicht in diesem Land sehen, wir wollen euch alle vertreiben!' Fantasie gegen Fantasie, Albtraum gegen Albtraum, wir sind zum Nullpunkt des israelisch-palästinensischen Konflikts zurückgekehrt."
Am nächsten Tag trafen sich auf der Buchmesse Doron Rabinovici, Tomer Dotan-Dreyfus und Meron Mendel zu der kurzfristig anberaumten Diskussionsrunde "Sorge um Israel". Dabei "wurde auch auf Slavoij Žižeks Rede Bezug genommen, überhaupt das Schweigen und die zögerliche Solidarität von Teilen der Linken diskutiert, ihre pro-palästinensichen Sympathien", berichtet Gerrit Bartels im Tagesspiegel. "So sagte Meron Mendel: 'Mir fehlt bei vielen Linken gerade die Grundlage dafür, dass Wort 'Be'eri' als Synonym für das absolut Böse zu betrachten, das, was da passiert ist, so wie es bei Sabra und Shatila der Fall ist, bei Srebrenica, dass das ein Wort für sich ist, und zwar ohne dass mir ein Slavoij Žižek erklärt, das müsse kontextualisiert werden. Erst wenn wir diese gemeinsame Grundlage haben, können wir über alles reden, über die politischen Zusammenhänge, auch über die Fehler Israels. Über Be´eri, Nir Oz und die anderen Orte: Darüber kann man nicht diskutieren.'"
Auch Anna Mayr überlegt in der Zeit, warum die postmoderne Linke so offensichtlich ein Problem damit hat, das Hamas-Massaker an Israelis zu verurteilen. Weil sie sich gerade in ihren eigenen verqueren Logiken verfängt? "Die postkoloniale, die antiimperialistische, identitätspolitische, woke, die alles in allem postmoderne Linke, so werden wir sie hier nennen, hat schon lange nichts mehr hervorgebracht, was weltbewegend gewesen wäre, und nach dem 7. Oktober 2023 wird sie sich neu sortieren müssen. Denn einer ihrer inhaltlichen Kernpunkte war es ja immer, dass jedes Leid spezifisch ist. Es gibt antiasiatischen Rassismus und Antiziganismus, es gibt queerfeindliche Aussagen, und es gibt sexistische Strukturen. Um all diese Boshaftigkeiten zu verbinden, erfand man das Schlüsselwort 'Intersektionalität', das bedeutet, dass man unter mehr als einer Diskriminierungsform gleichzeitig leiden kann. Wer unter einer Diskriminierung nicht leidet, wird sie nie nachempfinden können, er kann nur ein ally sein, ein Verbündeter, was zufälligerweise direkt nach Kampf klingt. Jetzt zeigt sich: Alle Menschen sind spezifisch diskriminiert - nur wenn Gewalt gegen Juden passiert, dann reicht schnöder, allgemeiner Weltschmerz als Reaktion."
In der SZ berichtet der Historiker Amir Teicher über seinen Alltag in Israel, der vor allem eines zeige: dass nämlich der Staatsapparat kollabiert sei. "Von Freunden, Kollegen und Reportern, denen ich vertraue, höre ich, dass die Soldaten nicht einmal über die Grundausstattung verfügen, ob Sicherheitswesten oder Verpflegung, und dass es Privatbürger sind, die das alles organisieren, finanzieren, besorgen und verteilen. Dass es keine psychische Betreuung für die traumatisierten Überlebenden gibt, von offizieller Seite niemand mit ihnen spricht und sich Privatinitiativen um sie kümmern." Die Schuld liegt bei der Regierung, so Teicher: "Dieser Zusammenbruch wiederum basiert auf dem Vorgehen der israelischen Regierung, die jeden Posten mit unfähigen Leuten besetzt hatte (einziges Kriterium dabei war die Loyalität zum korrupten Premierminister); die über Jahre eine extrem neoliberale Politik vorangetrieben und damit den öffentlichen Dienst lahmgelegt hat; und die den Siedlern im Westjordanland auf Kosten aller anderen Belange Priorität eingeräumt hat."
Europa
Ivo Mijnssen reflektiert in der NZZ die politische Geschichte Polens im Vergleich zu Ungarn und Russland. Die Polen haben der Opposition einen klaren Regierungsauftrag erteilt und gezeigt, dass die Demokratie "stärker ist als die giftigste Rhetorik". Damit räumten sie, so Mijnssen, auch mit dem "Zerrbild einer religiös-konservativen und autoritätsgläubigen Nation auf, das die PiS ebenso gerne pflegte wie ihre ignoranten Kritiker in Westeuropa. Polen ist kein zweites Ungarn", stellt er fest. Und weiter: "Die Rechtsnationalen erweiterten das Feld der Themen, über die im Land diskutiert und leidenschaftlich gestritten wird. Allerdings mobilisierte die PiS mit ihrer 'konservativen Revolution' ihre Gegner stärker als ihre Unterstützer. Es spricht für demokratische Reife, dass die Bevölkerung auf autoritäre Gelüste nicht wie in Ungarn oder Russland mit Passivität reagiert, sondern mit Widerstand."