9punkt - Die Debattenrundschau

Ziemliches Gerangel

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.05.2023. Der Streit um die Benin-Bronzen geht weiter. Wird schon alles gutgehen, antworten in der FAZ Hermann Parzinger und Barbara Plankensteiner auf die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin, die fürchtet, dass die Bronzen im Palast und der Geschichtsversion des Oba von Benin untergehen. In der NZZ  wirft die Kulturhistorikerin Agnieszka Pufelska dem Humboldt Forum vor, den innereuropäischen Kolonialismus Preußens nicht mal wahrzunehmen. Die Zeitungen streiten außerdem über die Chancen einer ukrainischen Sommeroffensive. Und das Erinnern an 1848 in der Paulskirche überzeugte laut FAZ nur zu zwei Dritteln.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.05.2023 finden Sie hier

Kulturpolitik

Im Ton recht dezidiert, in der Sache etwas unscharf, antworten Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, und Barbara Plankensteiner, Direktorin des Hamburger Museums am Rothenbaum, auf den FAZ-Artikel der Göttinger Ethnologie-Professorin Brigitta Hauser-Schäublin, der die neueste Debatte zu den Benin-Bronzen auslöste (unser Resümee). Hauser-Schäublin hatte die verblüffte deutsche Öffentlichkeit informiert, dass der scheidende letzte Präsident Nigerias, Muhammadu Buhari, die restituierten Benin-Bronzen aus Berlin in  einem Dekret dem König von Benin übereignet hatte - also jenem hohen Adligen aus einer ehemaligen Sklavenhändler-Dynastie, vor dem man in Audienzen niederknien muss. Parzinger und Plankensteiner beharren auf der Richtigkeit der bedingungslosen Restitution und darauf, dass möglicherweise alles halb so schlimm ist: "Nach Amtsantritt der neu gewählten nigerianischen Regierung ab Ende Mai 2023 muss geklärt werden, ob, wann und wie die in dem präsidentiellen Dekret verfügten Schritte in Kraft treten." Noch seien "keine Anzeichen zu erkennen, dass die neue Regierung von der am 1. Juli 2022 von Nigeria und Deutschland gemeinsam erklärten Absicht abzuweichen gedenkt, die Werke weiterhin öffentlich zugänglich zu machen". Die Rolle Benins im globalen Sklavenhandel (die in den Ausstellungen im Humboldt-Forum allenfalls sehr schüchtern erwähnt wurde) sei sekundär: "So historisch zutreffend dies auch sein mag, ist es eine historische Tatsache, dass gerade die europäischen Kolonialmächte den Handel mit versklavten Menschen maßgeblich befördert hatten."

Nach dem Dekret des nigerianischen Präsidenten Buhari, mit dem dieser sämtliche bereits zurückgegebenen Benin-Bronzen dem Oba von Benin übereignete, legen allerdings das zur Universität Cambridge gehörende Museum für Anthropologie und Archäologie als auch das Bundesland Sachsen ihre Rückgabe-Pläne zunächst auf Eis, meldet Susanne Lenz in der Berliner Zeitung.

Das Berliner Humboldt Forum hat sich die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit auf die Fahnen geschrieben, nur der euopäische Binnenkolonialismus wird leider übersehen, ärgert sich die Kulturhistorikerin Agnieszka Pufelska in der NZZ mit Blick auf Preußens "kolonialistisch-imperiale Ausdehnung nach Polen". Sie wirft dem Humboldt Forum Ignoranz und ein "stark reduktionistisches Verständnis von Europa" vor: "Tatsächlich fand die territoriale Expansion Preußens vor allem auf Kosten Polens statt. Noch 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, in dem auch zahlreiche polnische Soldaten in deutschen Uniformen an den Fronten starben, schrieb der frühere Reichskanzler Bernhard von Bülow: 'Das Kolonisationswerk im deutschen Osten, das, vor beinahe einem Jahrtausend begonnen, heute noch nicht beendet ist, ist nicht nur das größte, es ist das einzige, das uns Deutschen bisher gelungen ist.' (…) Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Besiedlung des Ostens in das deutsche Kolonialismusmodell als 'Ostkolonisation' eingespeist und als 'Grenzkolonialismus' gerechtfertigt. In der Publizistik, in der Literatur, aber auch in der Geschichtsschreibung und in der Öffentlichkeit ganz allgemein sah man die Deutschen insgesamt in der Rolle der 'Kulturträger' gegenüber den Slawen."

Seit 1992 sammelt die Unesco das Weltdokumentenerbe, 64 neue Dokumente, darunter vier aus Deutschland kommen dieses Jahr hinzu. Aber das "Memory of the world" bildet auch "die globalen Unverhältnisse des Bedeutenden ab", meint Till Briegleb in der SZ: "So rühmt sich der größte Zulieferer, Deutschland, so vieler Auszeichnungen wie der afrikanische Kontinent. Europa und die USA stellen über die Hälfte des Weltgedächtnisses, die arabische Welt gerade einmal 2 Prozent. Rund ein Drittel der UN-Staaten taucht überhaupt nie als weltwissentauglich auf."
Archiv: Kulturpolitik

Europa

Bringt die ukrainische Gegenoffensive in diesem Sommer keine Wende, wird der Glaube fehlen, dass die Ukraine irgendwann doch noch siegen könnte, befürchtet Christoph B. Schiltz in der Welt: "Schon jetzt glauben weder europäische noch amerikanische Spitzendiplomaten daran, dass die Ukraine jemals die annektierte Halbinsel Krim und den gesamten Donbass wieder zurückerobern wird. Das sagt aus Rücksicht auf die ukrainische Regierung niemand offen. In Wahrheit hat der Westen an einer Rückeroberung auch kein ernsthaftes Interesse - die Nato fürchtet Vergeltungsschläge des Kreml, der den Verlust der Krim zur 'roten Linie' erklärt hatte."

"Wenn der Westen genügend Waffen liefert, damit sich die Ukraine weiter verteidigen kann, ist zumindest die Existenz des Staates gesichert", meint hingegen der Militärhistoriker Sönke Neitzel im Tagesspiegel-Gespräch mit Jan Kixmüller: "In der deutschen Debatte kann man den Eindruck gewinnen, dass es nach jeder Lieferung die Hoffnung gibt, dass es nun aber auch gut sein muss, dass die Ukraine damit jetzt gewinnen muss und wir uns dann wieder um die anderen Probleme der Welt kümmern können. Es ist sicher nicht von allen verstanden worden, dass es hier nicht um die Lieferung von einigen Dutzend Leopard-Panzern geht. Vielmehr haben wir einen andauernden Krieg, und wir brauchen fünf Monate, um die Panzer, die wir an die Ukraine geliefert haben, nachzubestellen. So ganz scheinen wir den Schuss noch nicht gehört zu haben."

"In diesen Wochen bietet sich der Ukraine die beste Gelegenheit, eine substanzielle Fläche des besetzten Territoriums zu befreien und Russland einige Niederlagen zuzufügen", hofft der Militärexperte Michael Kofman im SZ-Gespräch.

Die Vertretung von Rechtsradikalen in den politischen Institutionen der Ukraine ist erheblich geringer als in vielen Ländern Westeuropas, darunter Österreich und Deutschland, schreibt der Politikwissenschaftler Martin Malek, der in der NZZ auch daran erinnert, was die Vereinigung der jüdischen Organisationen und Gemeinden der Ukraine Putin in einem offenen Brief erwiderte, als dieser bereits 2014 in einer historischen Rede behauptete, die Hauptausführenden des Kiewer Umsturzes seien Nationalisten, Neonazis, Russophobe und Antisemiten: "Von einer Zunahme des Antisemitismus könne keine Rede sein. Möglicherweise seien Putins Berater einer Verwechslung der Ukraine mit Russland zum Opfer gefallen, wo jüdische Organisationen im Jahr 2013 einen Anstieg des Antisemitismus verzeichnet hätten. In Russland lebten Anfang 2022 noch etwa 165 000 Juden (1989 waren es 570 000 gewesen); nach Angaben der (in Jerusalem beheimateten) Jewish Agency verließen bis August 2022 20.500 das Land."
Archiv: Europa

Politik

Seit Xi Jinpings Amtsantritt bewegt sich Chinas Wirtschaftswachstum nur noch nach unten, inzwischen auf drei Prozent, die Arbeitslosigkeit junger Menschen liegt bei 20 Prozent, während 70 Prozent der chinesischen Haushalte verschuldet sind, schreiben die Sinologin Kristin Shi-Kupfer und ihr Ehemann, der Journalist Shi Ming in der NZZ. Umso mehr setzt China auf Nationalismus: "Mag sein, dass sich die Chinesen - ähnlich wie die Russen - durch die aggressiv vorgetragene Vision des eigenen Weltmachtstatus verführen lassen. Allerdings werden Teile der Bevölkerung sich nüchtern fragen, woher jene 'Stürme' und 'Wogen', vor denen Xi Jinping so eindringlich warnt, denn kommen werden und ob sie nicht ein Versagen der Regierung darstellen. Die nationalistische Verführung könnte sich so gegen die Verführer selber richten. Man könnte darin ein Zeichen der Hoffnung erkennen, allerdings muss man die Sache auch dialektisch sehen. Je mehr sich die chinesische Führung infrage gestellt sieht, desto mehr könnte sie versucht sein, die internen Aggressionen nach außen zu lenken - und eine Operation Taiwan zu starten."

Syrien ist wieder in die Arabische Liga aufgenommen worden, ein "Triumph der Straflosigkeit", schreibt Pierre Haski in seiner France-Inter-Kolumne. Die Hoffnung auf eine Demokratisierung Syriens und auf eine Bestrafung von Assads Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind zerstoben. Wieder konnte Assad die Flüchtlinge, die er selbst produziert hat, als Erpressungsmittel benutzen: "Bei seiner Wiederaufnahme in die Arabische Liga verpflichtete sich Damaskus, die Bedingungen für die Rückkehr der Flüchtlinge zu schaffen, aber wer wird ohne politische Lösung und ohne Gerechtigkeit zurückkehren, um in dem System zu leben, das dazu geführt hat, dass Millionen von Syrern das Land verlassen haben? Das zweite Thema sind die Drogen. Syrien ist zum größten Produzenten und Exporteur von Captagon geworden, jenen süchtig machenden Amphetaminen, die im Nahen Osten und darüber hinaus verheerende Schäden anrichten. Saudi-Arabien und Jordanien sind besonders betroffen und üben Druck auf Damaskus aus, um den Handel zu kontrollieren."
Archiv: Politik

Geschichte

Vor 175 Jahren bildete sich in der Frankfurter Paulskirche das erste das erste deutsche Parlament - überall erinnern in diesen Tagen Artikel an dieses Ereignis. Kann es sein, dass die deutschen Parlamentarier zuerst eine Bahnsteigkarte ziehen wollten? So klingt es im FAZ-Leitartikel von Peter Sturm: "Die Absicht, den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. zum 'Kaiser der Deutschen' zu wählen, misslang gründlich. Der Monarch sah nämlich nicht ein, dass er sich vom Volk bestätigen lassen solle. Er und maßgebliche Vertreter seines und anderer Staaten hingen noch der These an, Herrscher seien von Gott höchstselbst auf ihre Throne berufen worden und deshalb auch nur durch diesen wieder abzuberufen. Die Zeit, die die Parlamentarier für die Verfassungsberatungen brauchten, nutzte die Gegenseite, um ihre Schockstarre abzuschütteln. Die Herrscher schlugen, am Ende auch militärisch, zurück und beendeten das demokratische Experiment."

Über den Zustand der jetzigen deutschen Demokratie sagte auch die Feierstunde in der Paulskirche etwas, über die Matthias Alexander im FAZ-Feuilleton berichtet (mach acht auf die Bemerkung in Klammern): "Sieben Politiker haben sich auf die Rednerliste für die Feierstunde setzen lassen. Um die Liste hat es während der Vorbereitung ein ziemliches Gerangel gegeben, sodass man sich im Zeitgeist maximaler Partizipation kurzerhand entschloss, alle zum Zuge kommen zu lassen (die vier Vertreter der Exekutive haben gegenüber drei Parlamentariern die Oberhand)." War aber nicht so schlimm, das ganze fand in einer nur "zu zwei Dritteln gefüllten Paulskirche" statt.
Archiv: Geschichte