9punkt - Die Debattenrundschau

Der Boden ist trocken

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.05.2023. Die Ukrainer sind für Putin schon deshalb Nazis, weil sie nicht zugeben wollen, dass sie Russen sind, sagt der polnische Publizist Piotr Skwieciński in der FAZ. Nicht nur Gerhard Schröder und die üblichen Rinkslechten waren zu Gast beim russischen Botschafter, um zum "Tag des Sieges" anzustoßen, außerdem war ein gewisser Verleger namens Holger Friedrich da, um angelegentlich mit dem russischen Botschafter zu plaudern, berichtet der Tagesspiegel. In der Berliner Zeitung singt unterdessen Kai Diekmann Lobeshymnen auf Schröder und Putin. In der Zeit verteidigt Susanne Schröter sich und andere Teilnehmer ihrer Konferenz gegen Rechtsextremismusvorwürfe von Antirassisten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.05.2023 finden Sie hier

Europa

Die Idee des "russkij mir", einer länderübergreifenden russischsprachigen Gemeinschaft, ist durch den Krieg endgültig zerstoben, sagt der polnische Publizist Piotr Skwieciński im Gespräch mit Gerhard Gnauck von der FAZ. Inzwischen dominieren gegenüber der Ukraine radikalere Diskurse, die mit Versatzstücken des Antifaschismus eine Rerussifizierung der Ukraine fordern. Sie sagen laut Skwieciński in etwa: "Was wollt ihr denn, diese Gebiete waren nach Kriegen mehrfach entvölkert, und andere haben sie dann besiedelt. Diesmal machen wir das. Wenn Ukrainer dagegen Widerstand leisten, sind sie Verräter, und Verräter behandelt man bekanntlich schlimmer als gewöhnliche Feinde. Dann tritt der Satz in Kraft, den kürzlich die Russlandkennerinnen Fiona Hill und Angela Stent formulierten: 'Für Putin sind die Ukrainer Nazis, weil sie nicht zugeben wollen, dass sie Russen sind.' Anders gesagt: Da die Sowjetunion die Welt vom Faschismus gerettet habe und das heutige Russland ihre Nachfolgerin sei, sei jeder, der heute gegen Russland ist, ein Faschist. Dieser Glaube ist in Russland ziemlich verbreitet."

Für die ukrainische Frühjahrsoffensive ist alles bereit, berichtet Anastasia Magasowa in der taz: "Die westlichen Partner erklären nun, dass die geplanten Lieferungen fast hundertprozentig abgeschlossen seien. Auch das Wetter in der Ukraine hat sich gebessert, der Boden ist trocken und die Aufstellung neuer Kampfeinheiten ist ebenfalls in der Endphase. Analysten sagen voraus, dass in den kommenden Tagen oder Wochen eine ukrainische Offensive beginnen könnte. Das Hauptziel dieser Operation könnte die Stadt Melitopol sein. Die Befreiung dieses Gebiets wird die Landverbindung zwischen der besetzten Krim, dem besetzten Donbass und Russland unterbrechen."

Die New York Times zeigte neulich in einer langen Reportage auf, wie sich der serbische Präsident  Aleksandar Vucic mit kriminellen Banden zusammentut, um vor allem im Kosovo Druck auszuüben (unser Resümee in der Magazinrundschau). Erich Rathfelder beobachtet heute in der taz, dass sowohl die Amerikaner als auch die EU Bündnisse mit den nationalistischen Strömungen in Serbien, Bosnien-Herzegowina und Kroatien suchen: "Die Politik der USA und der EU stützt die demokratiefeindlichen Kräfte auf dem Balkan und schafft damit gefährliche Konfliktpotenziale. Viele Menschen in Sarajewo fragen sich, wo eigentlich die vor Kurzem noch als positiv wahrgenommene Stimme der deutschen Politik bleibt. Die ist derzeit nicht zu hören. Will Berlin, die Außenministerin, wollen die Grünen und die deutschen Menschenrechtler den Paradigmenwechsel auf dem Balkan wirklich unwidersprochen hinnehmen?"

Die juristische Drohungen gegen Bülent Mumay und andere Journalisten in der Türkei sind Symptom einer großen Angst im Umfeld Erdogans, schreibt der Dokumentarfilmer Osman Okkan in der FAZ. Eine Niederlage bei den Wahlen "würde nicht nur den Verlust seiner Alleinherrschaft als Oberhaupt einer Präsidialautokratie bedeuten, sondern ihm womöglich nur die Wahl zwischen Exil oder Gefängnis lassen - so erdrückend sind die bisher von mutigen Journalisten und von ehemals mit ihm verbandelten Mafia-Bossen vorgelegten Beweise, denen aber noch kein Staatsanwalt nachzugehen wagte. Doch die Ankündigungen des Sechserbündnisses unter dem Präsidentschaftskandidaten Kemal Kilicdaroglu sind eindeutig: Ihr Hauptversprechen besteht darin, als erstes die Unabhängigkeit der Justiz und der Sicherheitskräfte wiederherzustellen und die weit verbreitete Korruption, die auch höchste Staatsämter erreicht haben soll, einzudämmen."
Archiv: Europa

Medien

Gestern zitierten wir einen Artikel von Michael Maier von der Berliner Zeitung über die Feierlichkeiten zum "Tag des Sieges" in der russischen Botschaft. Gerhard Schröder gehörte zum Kreis der illustren Engeladenen, aber auch die erwartbaren Politiker aus dem rotbraunen Sumpf. Nur ein kleines Detail fehlte in Maiers Artikel, das heute Christian Latz und Lea Schulze  im Tagesspiegel ergänzen: "Auch der Verleger der Berliner Zeitung Holger Friedrich war anwesend, ein Foto zeigt ihn im angeregten Gespräch mit dem russischen Botschafter Sergei Jurjewitsch Netschajew."

Ex-Bild-Chef Kai Diekmann war einer der Hauptverantwortlichen für die Hetzjagd der Medien auf Christian Wulff, die wohl kaum je in diesen aufgearbeitet werden wird. Nun hat er seine Memoiren geschrieben, in dem er seine Version der Geschichte erzählt. "Das Amt war vermutlich eine Nummer zu groß für ihn", sagt er im Gespräch mit Tomasz Kurianowicz in der Berliner Zeitung über Wulffs Fehler, ihm auf dem Anrufbeantworter zu drohen, und findet statt dessen lobende Worte für einen anderen Politiker: "Gerhard Schröder hätte das nicht getan. Er hat mir mal gesagt: 'Man ruft bei Chefredakteuren nicht an. Und wenn ich Sie angerufen hätte, hätte ich allerhöchstens gesagt: Sie Armleuchter! Das hätte ich aber auch nicht selbst getan, ich hätte es jemanden sagen lassen.' Was für ein Selbstbewusstsein. Schröder war geschnitzt für sein Amt. Wulff war es nicht." Wenig später wird's zur Propaganda: "Aber es ging Schröder, davon bin ich heute überzeugt, auch wirklich um Aussöhnung, um die Fortführung der deutsch-russischen Freundschaft, die Gorbatschow und Kohl angestoßen haben. Und das ist auch der Grund, warum Gerhard Schröder bis heute Putin gegenüber loyal ist. Schröder ist bereit, bürgerliche Nachteile in Kauf zu nehmen, weil er einen Mann, den er seinen Freund nannte, nicht verraten möchte."
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Urheberrecht

Die Urheberrechte an Micky Maus laufen aus. Aber der Disney-Konzern war durchtrieben genug, Micky Maus auch als Marke zu konzipieren. Das könnte Rechtsstreitigkeiten geben, die Anwälten Millionen einbringen, meint Philipp Bovermann in der SZ. "Preisfrage: Ist Micky Maus - diese 'universelle Figur', deren aus drei Kreisen bestehende Kopfsilhouette auf der ganzen Welt erkannt wird, wie eine kürzlich erschienene Disney-Doku sicher nicht zufällig betonte - eine Kunstfigur? Oder eine Art wandelndes Logo? Von dieser Frage wird viel abhängen, denn anders als die Urheberrechte gelten Markenrechte unbefristet. Die Fronten in diesem Konflikt sind diffus."
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Wissenschaft

Im Interview mit der Zeit verteidigt sich die Ethnologin Susanne Schröter vehement gegen den Vorwurf, sie sei rechts. Boris Palmer war bei der von ihr ausgerichteten Veranstaltung entgleist, nachdem er selbst als Nazi beschimpft worden war, gibt sie zu, aber dass die taz die Rednerliste ihrer Konferenz als "whos who der Rechten" bezeichnete, findet sie absurd, zumal die taz "vor nicht langer Zeit selber noch Boris Palmer als Redner zu ihrer Jahreskonferenz eingeladen" hatte. "Krass" findet sie auch, dass "alle Redner durch einen lärmenden Mob als Rassisten beleidigt wurden", die Presse dies aber kaum thematisierte. Und was die übrigen Redner anging: "Heinz-Peter Meidinger, der Präsident des Lehrerverbandes, referierte über die hohe Quote von Schülern nichtdeutscher Staatsangehörigkeit, die ihren Schulabschluss nicht schaffen. Er stellte einen ganzen Katalog möglicher Hilfen vor, damit diese Schüler gleiche Chancen bekommen und letztlich nicht in der Arbeitslosigkeit landen. Außerdem haben wir über positive Entwicklungen wie die zunehmende Zahl deutscher Akademiker mit Migrationsgeschichte geredet. Die Kritiker der Konferenz aber behaupteten, wir würden Nichtdeutsche als weniger intelligent darstellen, also rassistisch diskriminieren. Das ist ein Missbrauch des Rassismusbegriffs. Als Ethnologin kann ich nur warnen: Rassismus ist ein ernstes Problem! Man sollte das Wort nicht als Label benutzen, um Wissenschaftler, deren Ergebnisse einem nicht passen, niederzumachen."
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Politik

Omri Boehm hofft in der Zeit, dass die gegenwärtige politische Krise in Israel am Ende in einer egalitären Verfassung münden kann, die die Araber einschließt: "Wir können die israelische Unabhängigkeitserklärung, und das ist eine ihrer schönsten Seiten, so verstehen, dass sie nicht mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte unvereinbar ist, sondern vielmehr an sie anknüpft. Das ist das Denken, das in den nächsten 75 Jahren zum Tragen kommen und die Träume für Israels Zukunft ebenso wie die Opposition gegen die jetzige Regierung bestimmen muss."
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Kulturpolitik

Dass ein Erbe der Menschheit reprivatisiert und einer royalen Geschichtsversion unterworfen wird, die das Blutige an seiner Geschichte ausblendet, müssen wir hinnehmen, meint Ijoma Mangold in der Zeit zum neuerlichen Streit um die Benin-Bronzen: "Wenn es aber darum geht, koloniale Machtasymmetrien zurückzubauen, dann kann der Westen nicht ein weiteres Mal seine Wertvorstellungen anderen überstülpen. Das tut Deutschland ja mit Blick auf Charles III. auch nicht. So kommt es zu dem Paradox, dass Dekolonisation von der Idee her ein modern egalitärer Diskurs ist, der praktisch zur Aufwertung traditioneller Hierarchien führen kann. Damit sollten wir leben - und zwar in dem Bescheidenheitsbewusstsein, dass es nahezu geisteskrank wäre, aus dem fernen Deutschland zu entscheiden, wer in Nigeria der angemessene Hüter der Tradition ist."

Die Stiftung Humboldt Forum hat ein Gutachten zum Großspender Ehrhardt Bödecker in Auftrag gegeben, ohne den die Schlossattrappe kaum zustande gekommen wäre. Der Architekt Philipp Oswalt hatte 2021 Bödeckers auf rechtsextreme Gesinnung hingewiesen (unser Resümee), der Anwalt Peter Raue hatte vorgestern im Tagesspiegel empört diese Behauptung zurückgewiesen (unser Resümee). Das Gutachten gewährt nun Einblicke in die recht spezifische Gedankenwelt des Großspenders, berichtet Christiane Peitz im Tagesspiegel: "Rassismus und Antisemitismus sah er vor allem als britische und amerikanische Importe. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg habe es englische Konzentrationslager gegeben, Sklavenhaltung und Rassendiskriminierung seien Teil der amerikanischen Geschichte, 'an Verbannung und Arbeitslager war die russische Bevölkerung gewöhnt', heißt es im Band 'Die europäische Tragödie' von 1998. ... Hätten der Förderverein Berliner Schloss und die Stiftung Humboldt Forum Bödeckers zahlreiche, sich zu einer Million Euro summierende Spenden angenommen, wenn sie diese Texte gekannt hätten?" Offenbar hätten sie, erkennt Peitz.
Archiv: Kulturpolitik