9punkt - Die Debattenrundschau

Pilcherhaft schöne Stunden

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.05.2023. Heute ist Internationaler Tag der Pressefreiheit. Die taz hat ihm eine ganze Ausgabe gewidmet und berichtet unter anderem, wie der türkische Staat versucht, Journalisten für sich spionieren zu lassen. In Indien achtet die Regierung darauf, dass Journalisten und Wissenschaftler "hinduistische Gefühle" nicht verletzen, erzählt die FAZ. Die FR befürchtet, dass KI der Pressefreiheit den Rest geben könnte. In der NZZ erzählt Mario Vargas Llosa, wie in Peru Reporter angegriffen werden, die über sexuellen Missbrauch von Priestern berichten.  Die Welt versichert, Frauen müssen keine Angst haben: Auch nach dem neuen Selbstbestimmungsgesetz wären sie in ihren Frauensaunen sicher vor "bärtigen Rockern namens Lisa".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.05.2023 finden Sie hier

Medien

Heute ist Internationaler Tag der Pressefreiheit. Die taz hat eine ganze Ausgabe dazu zusammengestellt. Ali Çelikkan erzählt die Geschichte des syrischen Journalisten Sami, der in der Türkei geblieben war, wo er studierte, als der Bürgerkrieg in seinem Land ausbrach. Doch dann forderte ihn der türkische Geheimdienst auf, andere Journalisten auszuspionieren. Sami floh wieder und sitzt jetzt - fern von seiner Familie - auf den Philippinen fest, wo ihm die Ausweisung droht, wenn demnächst ein Pass abläuft. Die Türkei will ihn nicht verlängern und lässt ihn auch nicht wieder einreisen. "In der Türkei leben derzeit 5,5 Millionen Migranten, etwa 3,5 Millionen stammen aus Syrien, davon sind 200.000 eingebürgert, weitere 100.000 besitzen eine offizielle Aufenthaltsgenehmigung. Alle anderen haben einen Status als 'temporärer Gast'. Migranten können bei rechtswidrigem Verhalten abgeschoben werden. Die Stimmung gegen sie ist rassistisch aufgeladen. Populisten machen sie für die Wirtschaftskrise verantwortlich. Fast alle Oppositionsparteien fordern ihre Ausweisung. ... Für Journalisten kann jegliches Verhalten in der Türkei eine Rechtswidrigkeit darstellen."

Schlecht sieht es auch in Russland aus, wo gerade der Wall Street Reporter Evan Gershkovich vor Gericht steht: Der russische Staat wirft ihm "Spionage" vor, berichtet taz-Korrespondentin Inna Hartwich, "eine Beschuldigung, die zu 20 Jahren Freiheitsentzug führen könnte. 20 Jahre Haft, weil der Journalist in einem Land seiner Arbeit nachgegangen ist, das Krieg führt und diesen offiziell nicht so benennen will. Der Fall Gershkovich trifft alle westlichen Korrespondenten, die in Moskau leben und arbeiten, ins Mark. Es stellt sich wie so oft seit dem 24. Februar 2022 die Frage: 'Gehen oder bleiben?' Ich schreibe seit mehr als fünf Jahren aus und über Russland. Es ist mein zweiter Aufenthalt als Korrespondentin in Moskau. Auch ich stelle mir täglich diese Frage."

In der FR befürchtet Thomas Kaspar, dass Künstliche Intelligenz die Pressefreiheit "extrem bedrohen" wird: "Künftig wird die Schwemme an strategisch erstellten Gratisinhalten mit Hilfe von künstlicher Intelligenz enorm zunehmen. Hinzu kommt eine immer präzisere Kenntnis der Nutzerschaft. Profit bringt hier, was sich schnell verbreitet. Mit Hilfe von künstlicher Intelligenz beschleunigt sich dieser Prozess: Auf Knopfdruck können Texte, Bilder, aber auch Podcasts und Videos zielgenau auf die innere Erregung der Einzelnen zugeschnitten werden. Die Fülle an künstlich erzeugten Texten und Bildern wird die Glaubwürdigkeit der Medien beim Publikum weiter aushöhlen. Die Zahl der Behauptungen ohne Faktengrundlage wird dadurch enorm zunehmen. Wer sieht, wie langsam die Regulierung des Internets vorangeht, kann wenig Hoffnung haben, dass Inhalte, die mit künstlicher Intelligenz erzeugt werden, auch nur ausreichend schnell reguliert werden."

Außerdem: Julian Reichelt hat gegen die ARD-Sendung "Reschke Fernsehen" mit dem Titel "Julian Reichelt und die Frauen: Bumsen, belügen, wegwerfen" eine einstweilige Verfügung bewirkt, Reichelts Anwalt Ben Irle verzierte seine Pressemitteilung mit dem Titel "Landgericht Hamburg untersagt frei erfundenen Vorwurf des Machtmissbrauchs", meldet Laura Hertreiter in der SZ und richet Irle aus: "Das Problem heißt, herzliche Grüße an Herrn Irle, selbstverständlich Machtmissbrauch. Und das Verrückte daran ist, dass Machtmissbrauch auch ganz einvernehmlich, glücklich und harmlos passieren kann. Selbst wenn alle der 13 Frauen, mit denen die Reschke-Redaktion gesprochen hat, pilcherhaft schöne Stunden, Wochen oder Jahre mit Julian Reichelt hatten: Wer unüberschaubare Affären am Arbeitsplatz hat, mit Menschen, die er befördert und entlässt, missbraucht seine Macht. Einfache Faustregel: Der Chef verhält sich bitte wie ein Chef, den er seinen eigenen Töchtern zumuten würde."
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Religion

Die peruanischen Journalisten Pedro Salinas und Paola Ugaz berichteten in einer sorgfältig recherchierten Reportage von Gewalt und sexuellem Missbrauch an Schülern der vor mehr als fünfzig Jahren gegründeten religiösen Vereinigung Sodalicio de Vida Cristiana, schreibt Mario Vargas Llosa in der NZZ. Sogar mit dem Papst sprachen sie, aber was folgte, waren "Prozesse, Schmutzkampagnen in der Presse, Beleidigungen und Schikanen jeglicher Art gegen sie und ihre Familien. Was zeigt, dass wir in Peru noch immer in der Kolonialzeit leben, in der es niemand wagt, gegen die Kirche oder ihre als Priester verkleideten Verbrecher (es gibt Ausnahmen) aufzubegehren. (…) Das alles ist umso merkwürdiger, als Peru doch in vielen Dingen sehr fortschrittlich wirkt, besonders in seinen Gesetzen. Das gilt jedoch nur, solange die Kirche in Ruhe gelassen und ihr nicht untersagt wird, der Gesellschaft zu schaden, wie es beispielsweise die korrupten Führungskräfte getan haben, die jahrelang an der Spitze der Sodalicio standen. Gleichzeitig haben viele Radiosender und Zeitungen noch immer eine gewisse Furcht vor der heiligen Mutter Kirche und getrauen sich nicht, sie zu kritisieren."
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Europa

Im FR-Interview mit Uli Kreikebaum spricht der russische Aktivist und Investigativjournalist Georgy Alburov, der am heutigen Internationalen Tag der Pressefreiheit den Günter-Wallraff-Preis für Pressefreiheit und Menschenrechte stellvertretend für Alexej Nawalny entgegennehmen wird, über seine Sorge, dass Nawalny in Haft ermordet wird, die Hoffnung, dass Russland eine freie, demokratische Zukunft vor sich hat und das Verstummen der Massenproteste in Russland: "Massenproteste gibt es nicht, weil jeder, der etwas gegen den Krieg oder gegen Putin sagt, riskiert, sofort inhaftiert zu werden. … Sobald Putin den Krieg begonnen hatte, führte er zahlreiche Gesetze ein, die es ermöglichen, Menschen für alles ins Gefängnis zu schicken. Die Leute bekommen sieben, acht, zehn Jahre für ein paar Worte. Jeder Versuch, zu protestieren, führt zu 100 Prozent zu einer hohen Geldstrafe oder zu einer Gefängnisstrafe. Was jetzt mit den Kriegsgegnern in Russland geschieht, kann nur als Terrorismus bezeichnet werden. Die Menschen werden vom Regime Wladimir Putins buchstäblich als Geiseln gehalten. Diejenigen, die es sich leisten konnten, haben das Land verlassen - seit Beginn des Krieges fast eine Million Menschen. Aber die meisten der zig Millionen Kriegsgegner sind in Russland geblieben."
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Politik

Noch heute wächst jedes Kind in China mit den "Gesprächen" des Konfuzius auf, aber China ist dennoch kein konfuzianisches Land mehr, sagt der Sinologe Hans van Ess im Gespräch mit der FR: "Vieles, was der Konfuzianismus fordert, hat mit der Lebenswelt der Menschen von heute einfach nichts mehr gemeinsam. Man muss sich nur die konfuzianischen Familienwerte anschauen: In einem Land mit einer derart niedrigen Geburtenrate wie China ist es unrealistisch, sich so um seine Eltern zu sorgen, wie es Konfuzius fordert. Vor ein paar Jahren wurde ein Gesetz veröffentlicht, das Chinesen dazu verpflichtet, ihre Eltern zweimal im Jahr zu besuchen. Dass es so ein Gesetz braucht, zeigt schon, dass es mit der konfuzianischen Kindespflicht nicht mehr weit her ist." Und: "Ein Grundgedanke im Konfuzianismus ist: Der Herrscher darf gestürzt werden, wenn er nicht dafür sorgt, dass die Erde in Ordnung ist, sondern sie in Chaos versinkt. Ich glaube, dass die Kommunistische Partei ganz massiv von diesem Gedanken geprägt ist und von der Angst, in China könnte etwas passieren, das zu ihrem Sturz führen könnte."

In der FAZ berichtet Andreas Eckert von einer Diskussionsveranstaltung zu Rajeev Bhargavas Essayband "Between Hope and Despair. 100 Ethical Reflections on Contemporary India" in Delhi. Der politische Theoretiker beschreibt darin, wie die Hinu-Nationalisten unter Premierminister Narendra Modi in den letzten Jahren immer wieder die Diversität Indiens in Frage gestellt haben. "In der vergangenen Dekade hat die Regierung durch Zensur und Gewalt massive Eingriffe in die akademische und intellektuelle Freiheit vorgenommen. An vielen Hochschulen und Forschungseinrichtungen wurden Parteiloyalisten in Leitungspositionen berufen, um das politische Verhalten von Mitarbeitenden und Studierenden zu kontrollieren und antimuslimische Stimmungen zu etablieren oder zu fördern. Vom Regime als 'sensibel' eingestufte Themen, vor allem solche, die vermeintlich 'hinduistische Gefühle' verletzen oder Angelegenheiten der nationalen Sicherheit betreffen, können auf wissenschaftlichen Tagungen kaum noch behandelt werden. Viele Intellektuelle und Studierende muslimischer Herkunft wurden ohne Gerichtsverfahren inhaftiert."

"Dass die Lage in Ländern wie dem Sudan, aber auch in Mali und der Demokratischen Republik Kongo so schlecht ist, wie sie ist, hat viel mit dem Kolonialismus zu tun, der künstliche Grenzen schuf, und den korrupten Eliten", meint Bernd Dörries in der SZ: "Und mit dem Volk, das, wenn es denn einmal die Gelegenheit hat zu wählen, sich nicht immer diejenigen aussucht, die eine Alternative bieten. Aber es hat eben auch mit einer deutschen und europäischen Politik zu tun, die viel zu oft auf Stabilität setzt. (…) Im Sudan kann Deutschland auch auf eine Historie der Einmischung zurückblicken, meist auf der falschen Seite. Die damalige Bundesrepublik unterstützte seit den Sechzigern das Militärregime mit Waffen, die dank deutscher Ingenieurskunst bis heute töten. Damals sollte der Kommunismus abgewehrt werden, später galt es Flüchtlinge fernzuhalten. Mehrere Hundert Millionen Euro pumpte die EU in den Sudan - verantwortlich für den Schutz der Grenzen dort sind auch die 'Rapid Support Forces', die in der Region Darfur einen Völkermord begingen, jetzt eine der beiden Armeen sind, die gegeneinander kämpfen - und für Europa ein Partner. Klar, durch Strafen hätten sich die beiden Armeen nicht aufgelöst. Dennoch hätte man nie so tun dürfen, als seien sie normale, akzeptable Akteure."
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Gesellschaft

99,9 Prozent des Landes werden trotz Selbstbestimmungsgesetz weiterleben wie bisher, glaubt Constantin van Lijnden, der in der Welt auch nicht davon ausgeht, dass "bärtige Rocker namens Lisa" künftig Frauensaunen stürmen werden: "Ist es wirklich plausibel, dass eine nennenswerte Zahl von Männern oder Frauen ihren Geschlechtseintrag spaßeshalber oder in Missbrauchsabsicht ändern wird, nur weil das künftig umstandslos möglich ist? Der gesunde Menschenverstand sagt nein, und sieht sich bestätigt durch die Erfahrungen aus immerhin neun anderen EU-Staaten, die bereits über vergleichbare Gesetze verfügen. … In Saunen, Umkleidekabinen und Toiletten, aber auch in Frauenhäusern und Haftanstalten gilt nach wie vor das Hausrecht der Betreiber beziehungsweise das Vollzugsermessen der Anstaltsleitungen, die auf die Intimitäts- und Sicherheitsinteressen der übrigen Personen Rücksicht nehmen müssen. Ein männlicher Sexualstraftäter, der sich ohne hormonelle oder operative Eingriffe rein formal zur Frau erklärt, muss also auch in Zukunft nicht im Frauengefängnis untergebracht werden."

In der FAZ warnt Thomas Thiel davor, Boris Palmers Auftritt bei der Frankfurter Migrationskonferenz der durchaus differenzierten Konferenz und ihrer Leiterin, der Ethnologin Susanne Schröter anzulasten. "Vom ersten Moment an war die Konferenz von Protestaktionen begleitet. Von dem Forschungszentrum Normative Ordnungen, mit dem das FFGI das Gebäude teilt, hing kurz ein Plakat herab, das Schröters Entlassung forderte, bevor man es eiligst entfernte. Sprechchöre, die in den Konferenzraum drangen, skandierten 'Schröter raus' und 'Nazis raus'. An Gesprächen zeigten sich die Demonstranten nicht interessiert. Besucher der Konferenz wurden durch die Bank als 'Nazis' und 'Rassisten' bezeichnet, was dann wohl auch für den teilnehmenden hessischen Justizminister galt. Man vermisst dazu eine entsprechende Stellungnahme des Frankfurter Universitätspräsidenten Enrico Schleiff, der von Palmer am nächsten Tag eine Entschuldigung forderte. Anscheinend hält er es für ganz normal, dass Gäste auf dem Frankfurter Campus belegfrei als 'Rassisten' und 'Nazis' tituliert werden."
Archiv: Gesellschaft