9punkt - Die Debattenrundschau

Kontinentale Kolonisierung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.04.2023. Die Verachtung für Minderheiten hat in Russland eine lange Tradition, erklärt in der FAZ der Polonist Heinrich Olschowsky - weshalb eine Mehrheit in Russland Putins Krieg unterstütze. In Italien versucht die Regierung Meloni den Faschismus in eine mildes Licht zu tauchen, berichtet die SZ. In der Welt erklärt der  Islamwissenschaftler Alfred Schlicht, wie vor allem Russland von den Konflikten im Sudan profitiert. Die NZZ erzählt, wie schnell man in Belarus im Gefängnis landet.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.04.2023 finden Sie hier

Europa

In der FAZ widerspricht der Polonist Heinrich Olschowsky Durs Grünbein, der kürzlich erklärt hatte, der Ukrainekrieg sei Putins Krieg. Doch die Mehrheit der Russen gibt ihm den nötigen Rückhalt, meint Olschowsky mit Verweis auf eine Umfrage. Und das hat durchaus Tradition in Russland, an der auch Dichter wie Puschkin, Dostojewski oder Tolstoi eifrig mitwirkten: "Das Zarenreich war das Ergebnis einer jahrhundertelangen kontinentalen Kolonisierung, sprich, der Eroberung nicht-russischer Territorien und Völker vornehmlich nach Osten und Süden hin, wo es keine staatlichen Strukturen gab, die Widerstand hätten organisieren können. Im Alltagsbewusstsein der Russen wird das Imperium bis heute nicht als historisches, sondern als quasi naturgesetzliches Phänomen betrachtet, das es schon immer gab. Und zwar nicht als Resultat kolonialer Raubzüge. ... Der Epochenumbruch von 1917 änderte daran nichts." Und die Dichter? Zeichneten Polen, Ukrainer, Tschetschenen, Tscherkessen, Abreken, Tataren und andere, die für ihre Freiheit kämpften, immer wieder als Verräter oder unterentwickelte "Bergbewohner".

Im Interview mit der taz kritisiert Michail Chodorkowski die westlichen Staaten, die immer noch auf Verhandlungen mit Russland hofften und die Ukraine nicht genug unterstützten: "Einerseits geht es um eine Reindustrialisierung des Westens. Die gegenwärtige militärische Situation hat gezeigt, dass die Abkehr des Westen von der Rüstungsindustrie ziemlich fatal war. Das wird sich wohl ändern, und das wäre eine weise Entscheidung. Der Westen muss sich aber auch von seinen roten Linien verabschieden. Ich meine damit eine schnelle Lieferung auch von Kampfflugzeugen sowie eine entsprechende Ausbildung von Piloten. Nur so wird die Ukraine in der Lage sein, den Fortgang des Krieges zu drehen. Wenn das nicht passiert und weiter eine Millionen Granaten jährlich geliefert wird, die andere Seite aber zehn Millionen hat, werden die Probleme nicht gelöst werden. Der Westen muss für sich entscheiden: Wenn er will, dass die Ukraine nicht verliert, muss er jetzt inne halten und Kyjiw nicht zu einer selbstmörderischen Offensive drängen. Wenn der Westen will, dass die Ukraine den Krieg gewinnt, müssen Waffen in dem dafür erforderlichen Umfang geliefert werden."

Schon ein falscher Like oder ein öffentlicher Protestakt kann in Belarus zu langen Haftstrafen führen, schreibt Felix Ackermann, der in der NZZ einen Blick auf die drakonischen Strafen gegen Regimegegner wirft: "Die wachsende Zahl politischer Gefangener mit langjährigen Haftstrafen deutet auf die weiterhin hohe Nervosität des Regimes von Alexander Lukaschenko. Jüngst traf es zwei Forscherinnen, die Umfragen durchgeführt und ausgewertet hatten, um sich ein Bild von der Veränderung der Gesellschaft nach 2020 zu machen. Walerija Kasciugowa und Tatiana Kouzina wurden in Minsk jeweils zu zehn Jahren schwerer Lagerhaft verurteilt, weil sie mit den Untersuchungen des Think-Tanks Sympa angeblich die nationale Sicherheit gefährdeten. Wenn zwei Politologinnen einen Staatsapparat mit etwa 100 000 bewaffneten Männern bedrohen sollen, kann es um dessen Stabilität nicht sehr gut bestellt sein."

In Italien ist Giorgia Meloni recht moderat rechts, konstatiert Andrea Bachstein in der SZ. Doch der Versuchung, die Geschichte umzudeuten, widersteht sie nicht: "Unübersehbar wird, dass sie das Revisionismus-Projekt alter und neuer Faschisten betreiben: die Vergangenheit umdeuten, historische Fakten verdrehen oder weglassen, um den historischen Faschismus in mildes Licht zu tauchen, besser noch: in Nebel. (…) Kurz vor dem 25. April sprach der Senatspräsident nun, die Verfassung erwähne Antifaschismus nicht. Der zweithöchste Repräsentant des Staats hatte ignoriert, dass die ganze Verfassung im Geist des Antifaschismus steht. Dann ist da der Agrarminister und Schwager Melonis, der in ultrarechter Manier von 'Umvolkung' durch Migranten faselte. Provinzpolitiker begleiten das mit rassistischen Phrasen, manchmal wird einer beim Faschistengruß ertappt - Meloni lässt es geschehen. So gruselig das ist, in Italien droht keine rechte Diktatur, auch keine autokratische Demokratie wie bei Melonis Vorbild Viktor Orbán. Aber Elemente des Faschismus, Nationalismus und Feindbilder, Rassismus und das Diskriminieren bestimmter Gruppen schimmern durch in der Regierungspolitik. Am deutlichsten, wo es um Migranten geht oder Familien mit gleichgeschlechtlichen Partnern."
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Politik

In der Welt skizziert der Islamwissenschaftler Alfred Schlicht, wie vor allem Russland von den Konflikten im Sudan profitiert: "Wichtiger auswärtiger Akteur ist wohl Russland, das einerseits Sudan als strategischen Baustein und Partner im Rahmen seiner weltweiten Strategie der Einflussausweitung ansieht. Im Februar 2023 besuchte der russische Außenminister Sergej Lawrow Khartum, im Mittelpunkt stand die geplante Schaffung einer Militärbasis in Port Sudan im Roten Meer. Von hier aus könnte Russland nicht nur Ziele in der Region rasch erreichen, sondern auch schnell in die Mittelmeerregion im Konfliktfall vorrücken, ohne auf die Wasserstraße des Bosporus angewiesen zu sein, die das Nato-Land Türkei jederzeit sperren könnte. Die Basis im Rotmeerhafen Port Sudan soll noch 2023 betriebsbereit werden. Andererseits ist Russland auch am sudanesischen Gold stark interessiert, in zunehmendem Maß aufgrund der krisenhaften Entwicklung. Die russische Wagner-Miliz soll einige Goldminen ganz im Westen des Landes bereits direkt kontrollieren. Signifikant ist, dass General Dagalo einen Tag vor Ausbruch des Ukraine-Krieges nach Moskau reiste. Auch soll die Wagner-Miliz Waffen an die RSF, die von Dagalo geführt wird, geliefert haben."

Auch wenn China aktuell Rekrutierungsbüros eröffnet, geht der Publizist Alexander Görlach in der Welt derzeit nicht von einem Angriff auf Taiwan aus. Sollte es aber doch dazu kommen, "gehen die meisten Experten davon aus, dass, anders als in der Ukraine, das US-Militär in diesem Falle direkt einschreiten würde. Es ist daher alles andere als sicher, dass Peking einen Krieg gegen Taiwan und die USA gewinnen würde. Das Anlanden an Taiwans Küste gilt als ebenso schwieriges Unterfangen wie das Versorgen der chinesischen Truppen, sollten sie sich wirklich an der Küste festsetzen können. Chinas Verbündeter Russland verfügt über Militärtechnologie und Waffensysteme, die Pekings Aussicht auf Erfolg erhöhen könnten. In der Vergangenheit war Moskau zögerlich, wenn es um Waffendeals mit der Volksrepublik ging. Doch mittlerweile ist der Kreml zu abhängig von Xi, um ihm eine entsprechende Bitte abzuschlagen. Im Moment ist die große Unbekannte, ob sich Machthaber Xi Jinping trotz des Risikos auf einen Krieg einlassen wird."

In der taz stellen Hiba I. Husseini und Jossi Beilin einen Friedensplan vor, den eine Gruppe von Palästinensern und Israelis gemeinsam ausgearbeitet hat. Ziel ist eine Konföderation: "Angesichts der veränderten Ausgangslage erscheint es aussichtsreicher für eine bilaterale Einigung auf eine Zwei-Staaten-Lösung, wenn diese unter dem Schirm einer Konföderation konzipiert wird und wenn der Grundsatz der Gegenseitigkeit gilt. Wenn also die israelische Führung nicht mehr gezwungen wird, Siedler aus ihren Häusern zu holen, sollte derselben Zahl von Palästinensern ermöglicht werden, sich in Israel anzusiedeln. Prinzipiell könnte diese Lösung auch ohne Konföderationsvereinbarung umgesetzt werden. Eine israelisch-palästinensische Konföderation, die sich am Modell der Europäischen Union orientiert, hätte allerdings den Vorteil, dass sie eine verstärkte Wirtschafts- und Sicherheitskooperation mit sich brächte. Zudem würde dieses Modell Bürgerinitiativen die das gegenseitige Verständnis stärken wollen und die Ablehnung und Feindseligkeit auf beiden Seiten abbauen, die Arbeit erleichtern. Die Konföderation im Heiligen Land sieht vor,  dass zehntausende Bürger der beiden Staaten mit dauerhaftem Aufenthaltsrecht auf der jeweils anderen Seite der Grenze leben."
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Wissenschaft

In der Welt erinnert Michael Pilz an das Phänomen der "Kalten Fusion", eine künstliche Kernschmelze im Wasserglas bei Zimmertemperatur, vorgestellt im Frühjahr 1989 von den beiden Chemikern Stanley Pons und Martin Fleischmann. Heute wird wieder an dem Verfahren, Deuterium, also schweren Wasserstoff zu Helium zu verschmelzen und in den Atomen Energie zu gewinnen, geforscht, damals blieb es eine Utopie, erinnert Pilz: "Viele wohltemperierte kleine Sonnen auf Erden, friedliche Wasserstoffbömbchen für die Zukunft. Stanley Pons und Martin Fleischmann waren nur wenige Wochen die 'Kinder von Marie und Pierre Curie', das 'Osterwunder' ihrer Kalten Fusion war schon im Frühling 1989 keines mehr. Ihr größter Fehler lag nicht in ihrer Versuchsanordnung, sondern in ihrer Methode, sich der Menschheit als Erlöser vorzustellen. Kein Kollege wurde für eine externe Expertise eingeweiht."

Außerdem: In der taz stellt Johannes Drosdowski die Biochemikerin Rosalind Franklin vor, die eine wesentliche Rolle bei der Entdeckung der DNA spielte, aber vom Nobelkomitee und ihren Kollegen übergangen wurde.
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