9punkt - Die Debattenrundschau

Vor der großen Havarie

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.04.2023. In der SZ wirft der sehr zornige ukrainische Diplomat Oleksander Scherba den hiesigen Friedensaktivisten vor, sie erschüttere weniger der Tod ukrainischer Zivilisten als die Bilder von ihrem Tod. taz und FAZ stellen den Erdogan-Herausforderer Kemal Kilicdaroglu vor, der sich gerade offen als Alevit bekannt hat. In der FAZ ermuntert Fabian Payr dazu, auch mal die Gefühle der Menschen ernst zu nehmen, denen das Gendern ihre sprachliche Identität nimmt. Die SZ erinnert die Klimakleber daran, dass nicht nur nur ältere konservative Biodeutsche am Auto hängen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.04.2023 finden Sie hier

Europa

In der SZ macht sich der ukrainische Diplomat Oleksander Scherba zornig Luft angesichts der Forderungen westlicher Friedensaktivisten, die er als "Bewegung von verwirrten Menschen und Zynikern" bezeichnet: "Angeblich liegt ihnen vor allem eines am Herzen: dass weder Ukrainer noch Russen weiterhin in diesem Krieg sterben müssen. In Wirklichkeit aber gibt es zwei Typologien: Frieden und 'Frieden'. Diese unterscheiden sich dadurch, dass in einem 'Frieden' nach Gusto des Kreml die Russen in der Tat nicht mehr sterben müssten, die Ukrainer aber schon. Denn diese Form des sogenannten Friedens wäre eine kriegerische Besatzung. Woran zumindest einem Teil dieser neuen Friedensbewegung im Westen liegt, ist also nicht Ende des Tötens. Das Ziel ist vielmehr, dass sie mit Bildern des Tötens nicht mehr in den Abendnachrichten konfrontiert werden wollen. Das Töten der Ukrainer darf zwar durchaus weitergehen - aber bitte unsichtbar für die empfindlichen westlichen Augen: in Folterkammern, Gefängnissen und Arbeitslagern, deren Schaffung in der russischen Presse aktiv diskutiert und gefordert wird."

Der der Erdoğan-Herausforderer bei den anstehenden Wahlen in der Türkei, Kemal Kilicdaroglu, hat sich in einem aufsehenerregenden Video als Alevit bekannt, was in der Türkei "wie eine Bombe eingeschlagen" ist, berichtet Jürgen Gottschlich in der taz. Ein mutiger, aber kluger Schachzug, findet er: "Seit der Nominierung Kılıçdaroğlus zum gemeinsamen Kandidaten der türkischen Opposition stand unausgesprochen die Befürchtung im Raum, Erdoğan könne dessen Alevitentum im Wahlkampf für eine Schmutzkampagne ausschlachten. Dem ist Kılıçdaroğlu mit seinem spektakulären Video, das teils bereits als historisch gefeiert wird, zuvorgekommen. An die JungwählerInnen gewandt sagt er: 'Ihr habt die Chance, das Land aus den schmerzhaften, sektiererischen Debatten über Sunniten, Aleviten, Türken, Kurden, Lasen, Tscherkessen und Arabern herauszuholen. Wir wollen nicht länger über das Trennende, über Unterschiede und Aussonderungen reden, sondern über geteilte Träume und Gemeinsamkeiten. Willst du ein ehrliches und aufrechtes Land, statt des herrschenden Systems, das zu Aleviten nur nein sagt?'"

Auch FAZ-Korrespondentin Friederike Böge ist beeindruckt, sieht aber auch das Kalkül Kilicdaroglus: "Mit seinem Appell richtet er sich vor allem an die mehr als sieben Millionen Erstwähler, die im Rennen um das Präsidentenamt als bedeutender Faktor gelten. Umfragen zeigen, dass die türkische Jugend angesichts mangelnder Zukunftsperspektiven besonders frustriert ist und eher nicht zu Erdogan neigt. Der 74 Jahre alte Kilicdaroglu tut sich aber ebenfalls schwer damit, sich jungen Wählern als Kandidat der Zukunft zu präsentieren. Beliebt unter Erstwählern ist eher Muharrem Ince, bis 2020 ein Parteifreund Kilicdaroglus. Inces Kandidatur könnte Kilicdaroglu die entscheidenden Stimmen für einen Sieg im ersten Wahlgang kosten. Für einen zweiten werden Erdogan größere Chancen eingeräumt."
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Kulturpolitik

In der Welt resümiert Marcus Woeller nochmal das Debakel um die Sanierung des Pergamonmuseums (Unsere Resümees), die aber leider dringend notwendig ist und bekanntermaßen viel früher, nämlich in den 1990ern hätte durchgeführt werden müssen: "Die Fassaden sind in schlechtem Zustand, ebenso die Glasdächer, allein das über dem Südflügel hat eine Fläche von 4300 Quadratmetern. Seit Jahrzehnten dringt Wasser in das Haus ein. Es steigt die Furcht vor der großen Havarie. Der Direktor des Islamischen Museums Stefan Weber rechnet die Wasserschäden schon mit seinen Dienstjahren auf. Wenn die Durchfeuchtung der tragenden Außenwände nicht gestoppt wird, könne ein teilweiser Verlust der historischen Bausubstanz nicht ausgeschlossen werden, so urteilt das BBR. Wenn also die Tragfähigkeit und damit die Sicherheit für Besucher wie für Artefakte nicht gewährleistet werden kann, ist die Schließung wohl gerechtfertigt."

Um seine Projekte für das Museum für Islamische Kunst in Berlin zu finanzieren, hat sich Stefan Weber, Direktor des Museums, Gelder von Alwaleed Philanthropies, einer private Stiftung in Saudi-Arabien besorgt. In einem von eben jener Stiftung unterstützten NZZ-Artikel stellt Werner Bloch deren Gründer Prinz Walid bin Talal Al Saud vor, der durch Risikogeschäfte zum reichsten Araber wurde und mit seiner Stiftung auch ein weltweites Netzwerk von Eliteuniversitäten wie Harvard, Oxford oder Cambridge unterstützt. Bloch stellt ihn uns als "verkappten Dissidenten", als "Stachel im Fleisch des saudischen Establishments" vor: "Ein hartnäckiger Kritiker des Königshauses, zu dem er selbst gehört. Bereits sein Vater, der sogenannte rote Prinz, musste wegen seiner unkonventionellen Ansichten das Land verlassen." Und doch fragt er: "Sollen demokratische Institutionen Geld aus einem Land annehmen, das ständig wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen in der Kritik steht?"
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Gesellschaft

Befürworter des Genderns führen gern die Gefühle der Menschen an, die sich vom generischen Maskulinum ausgeschlossen fühlten. Aber vielleicht könnte man ja auch mal die Gefühle der Menschen betrachten, die das Gendern als "Bevormundung durch moralisch übergriffige Sprachgouvernanten" erleben, ermuntert in der FAZ Fabian Payr, Buchautor und Initiator des Aufrufs linguistik-vs-gendern.de. "Die Omnipräsenz des Genderns kann Gefühle der Ohnmacht auslösen. Überall begegnet man heute gegenderten Varianten der deutschen Sprache: in Behördenbriefen, im Radio, im Fernsehen, in der Werbung, im Internet. ... Das fühlt sich für manche Menschen so an, als vertriebe man sie aus ihrer sprachlichen Heimat. Kaum ein Kulturgut ist so identitätsstiftend wie Sprache. Wer sie beschädigt, beschädigt auch den Zusammenhalt der Sprachgemeinschaft. Was gemeinschaftsstiftend und verbindend sein soll - die einheitliche Sprache - kann in der zeitgeistoptimierten Variante zum Auslöser gesellschaftlicher Spaltung werden."

Und Gendern hat auch nichts mit gesellschaftlichem Wandel zu tun, hält Hilmar Klute in der SZ fest: "Der Wandel vom Fräulein zur Frau war ein kaum bemerkbarer, weil tatsächlich selbstverständlicher Emanzipations-und Aufklärungsvorgang. Man musste da eigentlich nichts groß regeln, weil sich die Sprache parallel zu den liberalen Verhältnissen gewandelt hat. Heute dagegen herrscht Argwohn. Er ist bestimmt durch die auf Verkürzungen beruhenden Missverständnisse in den sozialen Medien und die ungefilterten Jeremiaden von Menschen, die sich unablässig in ihren Identitäten verletzt fühlen. Es herrscht auch ein Vorbehalt gegenüber dem Sprechen, so als sei die Sprache komplett vermint und nur durch Sternchen, Striche und Balken gefahrlos benutzbar. Es ist schon lustig: Früher galt es als Ausdruck demokratischer Freiheit, wenn man die Schnauze aufmachte und sagte, was man dachte. Heute sind es die vor den Mund gehaltene Hand und die ängstliche Suche nach einem alles und jeden zufriedenstellenden Synonym, die den politisch mündigen Bürger ausmachen sollen."

Die Klima-Aktionstage in Berlin sind "keine strafbare Nötigung zulasten der Regierung", meint Ronen Steinke in der SZ. Denn die Regierung verstoße selbst gegen Recht, wenn sie die Klimaziele nicht erreicht: "Das Klima-Abkommen von Paris (…) ist nach seiner Ratifizierung durch den Bundestag gemäß Artikel 59 des Grundgesetzes unmittelbar geltendes Bundesrecht." Und dennoch bleiben die Proteste "illegal", schreibt er: "Angenommen, man würde eine solche Klima-Selbstjustiz rechtlich billigen (...) - es wäre ein Dammbruch."

Und Peter Richter weist - ebenfalls in der SZ - auf einen Dissens hin, der in Berlin besonders deutlich wird, in der Klimadebatte aber gern ignoriert wird: Es sind keineswegs nur ältere konservative Biodeutsche, die das Auto lieben, sondern auch sehr viele junge Menschen mit Migrationshintergrund, wie man beispielsweise auf dem Kurfürstendamm begutachten kann: "Während es in Kreuzberg darum geht, ob die Gruppe 'Letzte Generation' oder 'Extinction Rebellion' die größere Unbedingtheit an den Tag legt, geht es in Charlottenburg mit ähnlich heiligem Ernst um diese Glaubensfrage: Ferrari oder Lamborghini? ... Man konnte am Adenauerplatz erst neulich der Polizei zuschauen, wie sie einen der Hochzeitskorsos hochnahm, bei denen es darum geht, in gemieteten Luxuslimousinen so lange auf die Hupe zu hauen, bis nicht nur das Brautpaar mit tauben Ohren in die Kissen sinkt. Von Festnahmen war hinterher keine Rede. Dafür von der Geschichte, wie bei so einer Kontrolle aus einem Ferrari heraus die freundliche Frage nach dem Auto der Polizei gestellt wurde: 'Der neue Corsa? Und - fährt gut?'"
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Medien

Viel ist in jüngster Zeit darüber geredet worden, dass Produkte künstlicher Intelligenz von denen menschlicher kaum mehr zu unterscheiden sind. Besonders gilt das für Bilder. Gerade hat der deutsche Künstler Boris Eldagsen seinen Sony world photography award abgelehnt, weil sein ausgezeichnetes Foto gänzlich von einer KI erstellt worden war - und keiner im Preiskomitee hatte es bemerkt. Eldagsen wollte damit eine Diskussion anregen, erzählt Zoe Williams im Guardian: "Er schlägt in erster Linie eine Art Ampelsystem vor: AMG, bei dem Nachrichtenbilder als 'authentisch, manipuliert oder generiert' gekennzeichnet werden. Die Fakten brauchen so viel Zeit, so viele Menschen. Wir brauchen eine Struktur, um die Presse zu unterstützen, sie kann das nicht alleine tun.' Aber dies ist Teil einer viel größeren Diskussion über die Unterscheidung zwischen Fotografie und KI-generierten Bildern."

Der britische Radio- und Fernsehmoderator Adrian Chiles hat schon aufgegeben, erzählt er im Guardian: "Als ich neulich morgens im Bett lag und Radio hörte, hatte ich eine düstere Erleuchtung; morgens war ich noch nie besonders lustig. Es gab Probleme in Jerusalem, und eine der Konfliktparteien hatte Videomaterial zur Verfügung gestellt, das ihre Behauptung stützte, ihr sei Unrecht geschehen. Mein ganzes bisheriges Leben lang wäre ich geneigt gewesen, mir dieses Video anzuschauen. Aber jetzt dachte ich, warum soll ich mir die Mühe machen? Woher soll ich wissen, dass es das zeigt, was es zu zeigen behauptet?"
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