9punkt - Die Debattenrundschau

Die Krim ist kein Wurstbrot

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.03.2023. Die NZZ erklärt, warum Putinkritiker Alexei Nawalny bei den Ukrainern so unbeliebt ist. In der Welt entwirft der ehemalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko einen 5-Punkte-Plan um die Russen daran zu erinnern, dass Putin ein Versager ist. Die FR befürchtet, sich demnächst von einem seelenlosen Avatar heilen lassen zu müssen. Die SZ fragt, warum Homosexualität afrikanischen Politikern so oft als "unafrikanisch" gilt, obwohl sie vor der Kolonialherrschaft in Afrika akzeptiert war.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.03.2023 finden Sie hier

Europa

Daniel Rohers Dokumentarfilm über Alexej Nawalny wurde mit einem Oscar ausgezeichnet. Die Begeisterung darüber wird in der Ukraine allerdings nicht geteilt, wie Ulrich M. Schmid in der NZZ berichtet. Dort steht man dem Putin-Gegner kritisch gegenüber, der The Kyiv Independent bezeichnete in gar als "Imperialisten". Das liegt zum einen an Nawalnys nationalistischen Positionen in der Vergangenheit, so Schmid, und zum anderen an seiner ambivalenten Haltung zum Ukrainekrieg: "Schon die russische Annexion der Krim hatte Nawalny in ein Dilemma gestürzt. Als russischer Patriot konnte er sich nicht direkt gegen das Vorgehen des Kremls aussprechen, als Putin-Gegner musste er es scharf verurteilen. In einem oft zitierten Radiointerview sagte Nawalny im Oktober 2014, dass die Krim zwar in eklatanter Verletzung des Völkerrechts annektiert worden sei, aber Teil Russlands bleiben werde. Die Krim sei kein Wurstbrot, das man hin und her reichen könne. Später relativierte er seine Position. 2017 kündigte er an, er werde als zukünftiger russischer Präsident ein gerechtes Referendum auf der Krim durchführen. Allerdings räumte er sogleich ein, dass die Ukraine ein solches Referendum wohl nicht anerkennen würde." Im September 2022 hatte Nawalny dann den Krieg gegen die Ukraine in der Washington Post scharf kritisiert, aber das konnte ihn in den Augen vieler Ukrainer wohl nicht mehr rehabilitieren.

"Es ist wichtig, Putin vor seinen Landsleuten als einen versagenden Führer erscheinen zu lassen, der nicht in der Lage ist, seinen Gesellschaftsvertrag zu erfüllen", schreibt der ehemalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko in der Welt. Fünf Maßnahmen schlägt er vor, um den Kreml durch "innere Unruhen zu Fall zu bringen", darunter eine Senkung der Preisobergrenze für Erdöl und Erdölprodukte und eine Lieferquote für russische LNG-Produkte. "Drittens sollte der Suezkanal für Erdöl und Erdölraffinerieladungen russischer Herkunft geschlossen werden. Der Weg um Afrika herum ist länger, die Fracht ist teurer, die Zahl der Tanker ist höher, die Logistikkosten sind höher und die Gewinne sind geringer. Viertens soll der südliche Zweig der Druschba-Pipeline, der Russland immer noch um 4 Milliarden Dollar jährlich bereichert, eingestellt werden. Für Ungarn, die Tschechische Republik und die Slowakei könnten Alternativen entwickelt werden. (…) Fünftens: Wir schlagen vor, nicht nur Sanktionen gegen Russlands riesige Schattentankerflotte zu verhängen, sondern auch Sekundärsanktionen gegen diejenigen, die das von diesen Schiffen transportierte Öl kaufen."

Im Interview mit der taz erklärt der ehemalige georgische Minister Paata Zakareishvili, warum die Georgier gegen das von der Regierung geplante (und inzwischen gekippte) Agentengesetz aufbegehrten, mit dem  Medien und Nichtregierungsorganisationen, die Geld aus dem Ausland erhalten, als "ausländische Agenten" eingestuft werden sollten. "Man hat in unserer Gesellschaft begriffen, dass dieser Gesetzentwurf gegen die Europäische Union gerichtet war", sagt Zakareishvili, und bringt damit den Konflikt zwischen russlandfreundlicher Regierung und zur EU tendierender Bevölkerung auf den Punkt. "Insgesamt zwölf Punkte hat die EU-Kommission formuliert, an denen Georgien bis zum Ende des Jahres arbeiten müsse, um eine Empfehlung für den Status eines Beitrittskandidaten zu erhalten. So wie ihn die Ukraine und Moldau erhalten haben. Und darauf arbeitet die georgische Gesellschaft hin. Ich habe schon lange das Gefühl, dass unsere Machthaber gar nicht wollen, dass wir Beitrittskandidat werden. Und da passt es auch gut ins Bild, dass sie sich so eine Dummheit einfallen ließen, mit der man wohl erreichen wollte, dass uns der Beitrittskandidatenstatus verwehrt wird."

Letzte Woche wurde vor dem Bezirksgericht in Jefremow, vier Autostunden südlich von Moskau gelegenen Provinzstadt, neben einem Bagatelldiebstahl und einer Trunkenheitsfahrt ein Sorgerechtsfall verhandelt. Und der hatte es in sich, erzählt Eva Hartog bei Politico: "Der Fall betrifft Alexej Moskalyov und seine 12-jährige Tochter Masha, die die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich zog, als sie im April letzten Jahres in der Schule ein pro-ukrainisches Bild malte. Fast ein Jahr später befindet sich Masha in staatlicher Obhut. Ihr Vater Alexej sieht sich mit zwei Gerichtsverfahren konfrontiert: eines zur Einschränkung seiner elterlichen Rechte und ein zweites wegen 'Diskreditierung der russischen Armee', was ihn ins Gefängnis bringen könnte. ... Es gab bereits mehrere andere Fälle, in denen Kinder und ihre Familien wegen Anti-Kriegs-Aktionen in rechtliche Schwierigkeiten geraten sind. Der Fall Moskalyov könnte jedoch einen wichtigen Präzedenzfall schaffen, der an die stalinistische Praxis erinnert, die Kinder von 'Staatsfeinden' von ihren Eltern zu trennen und sie zu zwingen, sich von ihnen loszusagen", sagt der Oppositionspolitiker Andrei Morev zu Hartog.
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Ideen

Thomas M. Schmidt konstatiert in der Zeit, dass der Diskurs über den Ukraine-Krieg in Deutschland einen "identitätspolitischen Überschuss" produziere. So richtig die Solidarisierung mit der Ukraine ist, so problematisch sind ihre innerpolitischen Effekte, die das Selbstverständnis Deutschlands als westliches Land verändern, schreibt Schmidt: "Der Krieg erteilt mehr und mehr Aufschluss darüber, wer wir sind und sein wollen. Er wird zur Quelle einer Neo-Verwestlichung. Die Bereitschaft, sich wieder mit Nachdruck als 'westlich' zu verstehen, soll den Schulterschluss mit den Verbündeten signalisieren. Das deutsche Selbstbild soll ein gemeinsames mit den Partnern sein. Doch ist es das wirklich? Schweißen die jeweiligen nationalen Deutungen des Krieges das westliche Lager zusammen - oder zumindest das europäische? Bisher ja, aber bisher ging es nur um Zeitpunkt und Umfang von Hilfen. Die Mühen einer langfristigen gemeinsam westlichen Politik sind noch gar nicht abzusehen." Deutsche Forderungen nach mehr Feminismus, Minderheitenschutz und Verzicht auf fossile Energien lenken laut Schmidt von realpolitischen Fragen eher ab: "Welche Folgen der Krieg für Deutschland und die EU in einer künftigen Sicherheitsarchitektur haben wird beispielsweise. Was heißt denn 'mehr Verantwortung' für die Bundesrepublik? Führungsmacht? Höhere Verteidigungsausgaben? Da ist der Finanzminister heute schon mit den Begehrlichkeiten der anderen Ressorts konfrontiert."
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Internet

Anders als Sascha Lobo gestern (unser Resümee) traut Björn Hayer (FR) dem Menschen viel mehr zu als den Maschinen und ist deshalb froh über die Stellungnahme des Ethikrates zur Künstlichen Intelligenz, die für ihn nicht weniger als das Erbe der Aufklärung ist: "KI soll, wie es schon Marshall McLuhan forderte, der Erweiterung humanen Agierens - zum Beispiel bei der Auswertung großer Datenmengen - dienen. Aber sie darf seine Tätigkeit nicht ersetzen. Denn glaubt man der sich durch alle Kapitel ziehenden Befürchtung, könnte smarte Technik gerade in Bereichen mit Personalmangel ausgiebig zum Einsatz kommen. Sei es der Schulunterricht oder der Bürgergeldantrag oder gar das klärende Arztgespräch - das menschliche Gegenüber ließe sich nur allzu leicht durch einen sterilen und seelenlosen Avatar auswechseln."
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Politik

Homosexualität sei "un-afrikanisch", so argumentieren viele afrikanische Poitiker, schreibt Bernd Dörries auf den politischen Seiten der SZ: "Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass nicht die Homosexualität aus Europa importiert wurde, sondern eher die Homophobie. In Simbabwe gibt es Höhlenmalereien, die gleichgeschlechtlichen Sex zeigen. Buganda, ein Königreich im heutigen Uganda, hatte mit Mwanga II einen schwulen König. Ähnliche Belege und Erzählungen finden sich aus vielen anderen Ländern. Die Homophobie und Verfolgung begann wohl erst mit dem Eintreffen europäischer und arabischer Kolonialisten. Die Gesetze, die in Kenia, Tansania und Uganda die Homosexualität kriminalisieren, stammen noch aus der britischen Herrschaft. Heute wird Homophobie von vielen Politikern gerne benutzt, um von eigenem Versagen abzulenken."
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Kulturpolitik

Der Berliner Zeitung liegt ein Bericht des Bundesfinanzministeriums vor, aus dem hervorgeht, dass demgeplanten Bau des Museums der Moderne in Berlin zusätzliche Kosten von etwa 80 Millionen Euro drohen, berichtet Ulrich Paul ebenda: "Laut dem Bericht sind für das Museum der Moderne im Bundeshaushalt 2023 derzeit Gesamtausgaben in Höhe von rund 376 Millionen Euro eingestellt. Benannt wurden zudem bis zu 33,8 Millionen Euro allgemeine Risikokosten, 10,3 Millionen Euro an sogenannten projektspezifischen Risikokosten und bis zu 52,2 Millionen Euro Kosten durch künftige Baupreisindexsteigerungen. Die nun drohenden Zusatzkosten von 80 Millionen Euro würden dem Bericht zufolge noch dazukommen. Die Gesamtausgaben könnten also auf mehr als eine halbe Milliarde Euro steigen. Zur Erinnerung: Gestartet worden war das Projekt einst mit der Prognose, dass sich die Kosten auf 200 Millionen Euro belaufen."

Rund vierzig Wissenschaftler haben in einem offenen Brief gegen die Zustände an der Münchner Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung protestiert (Unsere Resümees), darunter Ulrike Draesner, Valentin Groebner, Monika Rinck und Joseph Vogl, schreibt Jörg Häntzschel in der SZ. "Unterdessen gibt es weitere Hinweise darauf, dass Geschäftsführer und Gremienmitglieder die Stiftungsgelder gerne untereinander, an sich selbst oder an die eigenen Schüler verteilten. So wurde die vom früheren Geschäftsführer Heinrich Meier herausgegebene Ausgabe der Schriften von Leo Strauss mit Stiftungsmitteln bezuschusst. Fellows der Stiftung halfen bei der Arbeit. Dies geht aus den Angaben in den Werken hervor."
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Medien

In einem offenen Brief warfen Mitarbeiter der Jungle World der linken Zeitung Transfeindlichkeit vor, die Rede ist von "Dämonisierung", auch mangelnde Solidarität mit Transmenschen wird der Redaktion unterstellt, berichten Maximlian Beer und David Vilentchik in der Berliner Zeitung: "Auf Anfrage der Berliner Zeitung reagierte die Jungle World mit einem kurzen Statement auf die Anschuldigungen. Darin betont das Blatt seine 'pluralistische linke' Ausrichtung. 'Über Feindschaft gegen Transmenschen berichten wir regelmäßig und bekämpfen diese'. Allerdings gebe es keine einheitliche Position zum Transaktivismus. Die Redaktion habe immer Wert darauf gelegt, auch linke Strömungen nicht von Kritik auszunehmen. Das Problem ist nur, dass Kritik für manche Aktivisten nach Verrat klingt."
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Stichwörter: Transaktivismus, Jungle Word