9punkt - Die Debattenrundschau

Fungi, Brot-Brechen oder Live Drumming

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.03.2023. Die Hohenzollern haben nicht "Verzicht" geleistet, wie sie selbst verkündeten, sondern sie haben eine juristische Niederlage erlitten, stellt der Historiker Stephan Malinowski in der FAZ richtig. Im Haus der Kulturen der Welt wird es nicht nur keinen Rassismus, Sexismus, Transphobie, sondern auch keinen Antisemitismus geben, verspricht der neue Leiter Bonaventure Ndikung in der SZ. "Putin wird sich und sein Regime mit diesem Krieg so oder so in eine Niederlage steuern", ist Gerd Koenen in der FR überzeugt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.03.2023 finden Sie hier

Kulturpolitik

"Im Haus der Kulturen der Welt gibt es keinen Raum für Hassreden oder Gewalt jeglicher Art. Es gibt keinen Raum für Altersdiskriminierung, Antisemitismus, Geschlechterdiskriminierung, Homophobie, Islamophobie, Rassismus, Sexismus, Transphobie, Xenophobie und dergleichen" - ganz im "Stil eines zornigen Predigers" verkündete Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, neuer Leiter des Hauses der Kulturen der Welt, das neue Programm im vollbesetzten Auditorium, berichtet Rüdiger Schaper im Tagesspiegel. Er ist wenig beeindruckt, denn: "All das galt hier schon immer. Bonaventures Vorgänger Bernd Scherer hat das Haus untadelig geführt. Geht es internationaler als international, vernetzter als vernetzt, offener als offen? (…) Bonaventure kann das HKW nicht vollständig neu erfinden. Die großen Themen sind angelegt. Was sich ändert, ist der Stil: lauter, bunter, missionarischer. Und immer auf der richtigen Seite." Ebenfalls im Tagesspiegel fehlt Katrin Sohns ein "Funken Bescheidenheit, eine selbstkritische Reflexion darüber, wann kulturelle Praktiken wichtige Impulse zu den Themen unserer Zeit setzen können, wo sie aber auch an ihre Grenzen stoßen. Was vielleicht auch fehlt, ist ein Schuss Selbstironie: Werden Fungi, Brot-Brechen oder Live Drumming wirklich die Probleme unserer Welt lösen?"

Hanno Hauenstein ist in der Berliner Zeitung zwar voller Vorfreude, aber auch tief betroffen, dass sich Ndikung schon vor seinem Amtsantritt kritischen Fragen zu seiner BDS-Nähe stellen musste: "Ob die Unfähigkeit, den ursprünglich aus Kamerun stammenden Kurator in einer öffentlichen Leitungsfunktion in Deutschland zu akzeptieren, mit unterschwelligem Rassismus zusammenhängt?"

"Das Existenzrecht Israels ist unverhandelbar. Gleichzeitig erkenne ich das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser und ihr Streben nach einem eigenen Staat an", sagt Ndikung im SZ-Gespräch mit Jörg Häntzschel, beteuernd, er würde heute Israel nicht mehr als "Apartheidsregime" bezeichnen. Im Gespräch erklärt er auch, wie er sich die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus vorstellt: "Für eine Kolonie braucht es nicht nur Kolonisierte, sondern auch Kolonisatoren. Die Kolonialgeschichte betrifft also nicht nur mich, sondern auch Sie und uns alle. 'Postkolonial' bedeutet auch nicht 'nach dem Kolonialismus', es beschreibt eine Kontinuität. Die koloniale Macht wirkt in unseren Gesellschaften weiter. Wir wollen uns das an vielen Beispielen ansehen, vom russischen und amerikanischen Imperialismus bis hin zu der Frage, warum die Währung einiger frankophoner Länder Afrikas, der CFA, noch immer an den französischen Franc gekoppelt ist, obwohl der Franc nicht mehr existiert."

Paul Jandl greift in der NZZ die Geschehnisse um die Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung (unser Resümee) auf, deren Chefs Armin Mohler und der bis in letzte Jahr regierende Heinrich Meier dem Rechtsextremismus nahestanden. Das störte die feine Münchner Gesellschaft und all die von der Stiftung Alimentierten aber offenbar nicht. Die Stiftung hat deren Nachfolger Marcel Lepper, der die Geschichte aufarbeiten wollte, bekanntlich fristlos entlassen. Lepper darf sich dazu nicht äußern, weil er mit der 600 Millionen Euro schweren Stiftung eine gütliche Einigung getroffen haben soll. Ein Interessantes Detail liefert Jandl über die Geschichte der Stiftung nach: "Die Biografie von Ernst von Siemens, der alleinstehend und kinderlos starb, ist im Grunde unerforscht. Nachlässe stehen nicht zur Verfügung, aber aus den Lebensdaten ließe sich auf ideologische Kontinuitäten in der Stiftung schließen. Ernst von Siemens selbst hat Armin Mohler über Vermittlung des ehemaligen SS-Obersturmbannführers Franz Riedweg nach München geholt. Hinter den schöngeistigen Zwecken des Instituts gedieh ein politisches-publizistisches Œuvre, das zu diesen im krassen Gegensatz stand."
Archiv: Kulturpolitik

Europa

Einem internationalen Medienverbund, darunter die SZ, liegt ein Strategiepapier vor, aus dem hervorgeht, "wie man in drei Etappen bis 2030 prorussische Strömungen in Moldau fördern und gleichzeitig eine Westorientierung des Landes Richtung Nato und Europäische Union verhindern könne", berichtet die SZ: "Moskaus Plan für Moldau zielt anders als im Fall Belarus weniger darauf, das Land in einen russisch dominierten Unionsstaat zu integrieren. Es geht vielmehr darum, auf mittlere Sicht einen Vasallen zu schaffen, der sich dem Willen Moskaus unterordnet. (...)  Ein ranghoher westlicher Geheimdienstmitarbeiter, der beide Strategiepapiere gelesen hat, sagt: Moskaus Ziel in Moldau sei daher, 'den prorussischen Einfluss im Land zu steigern'. Russland sehe es 'eher als prorussisch orientierten Puffer' denn als Teil eines neuen russischen Großreichs. (…) Der Krieg in der Ukraine könnte jetzt dazu führen, dass Moskau weniger Zeit bleibt, um seine Ziele mit Moldau zu erreichen. In der EU und den USA besteht die Sorge, dass Moskau schneller Fakten schaffen will und durch einen Umsturz in Moldau die Ukraine dann auch von Westen her unter Druck setzen könnte."

"Putin wird sich und sein Regime mit diesem Krieg so oder so in eine Niederlage steuern, selbst wenn er noch irgendeinen Pyrrhus-Sieg erränge", sagt der Historiker Gerd Koenen im FR-Gespräch mit Claus-Jürgen Göpfert: "Autokratische Regime verfallen mit den Autokraten." Koenen kritisiert außerdem den zu "späten und zaghaften Beistand" Deutschlands und fordert, dass bei Verhandlungen mit Russland nach dem Krieg auch die Zukunft der Exklave Kaliningrad und des russisch besetzten Transnistrien diskutiert werden müsse: "Die absurde Militärkolonie 'Transnistrien' gehört natürlich zu Moldawien. Und die Bewohner des mit dem Namen des Stalinisten Kalinin verunzierten Königsberg träumten in den 90er Jahren schon einmal davon, eine Freihandelszone namens Jantar, Bernsteinstadt, zu werden, statt als eine bloße Militär- und Flottenbasis zu dienen. Etwas Ähnliches könnte man sich für Sewastopol auf der Krim ebenfalls vorstellen. Alle produktiven Auswege liegen ja offen auf der Hand."

Wenn Olaf Scholz wirklich etwas an Israel liege, werde er am Donnerstag beim Treffen mit Benjamin Netanjahu sagen: "Wir stehen hinter Israels Bedürfnis, eine starke Demokratie im Nahen Osten zu sein. Dazu gehört aber, dass Israel nicht in Richtung eines Orban-Ungarns abgleitet, dass es die Todesstrafe nicht wieder anwendet, und dass es den Palästinensern nicht auf alle Ewigkeit ihre demokratischen Bürgerrechte verweigert", meint der linke israelische Politiker Avraham Burg im FR-Gespräch mit Maria Sterkl, in dem er auch fordert, dass die Frage "ob sich Israel in der Liga der westlichen Demokratien befindet, neu gestellt werden muss."

Frankreich will die "Freiheit auf Abtreibung" in der französischen Verfassung und auch in der EU-Grundrechtecharta verankern, berichtet Michaela Wiegel in der FAZ, die dem bei diesem Thema vorantreibenden Emmanuel Macron zumindest in Frankreich gute Chancen einräumt: "Im Juli 2022 stimmte das EU-Parlament mit einer Mehrheit von 324 Stimmen bei 155 Gegenstimmen und 38 Enthaltungen einem Vorschlag zur Änderung von Artikel 7 der Grundrechtecharta zu. Er soll um den Beisatz ergänzt werden: 'Jeder hat das Recht auf sichere und legale Abtreibung.' Damit hat sich das EU-Parlament im Sinne Macrons positioniert. Frankreich unterstützt die Einberufung eines Konvents zur Überarbeitung der EU-Verträge. Dabei weiß auch Macron genau, dass Polen, Ungarn, Malta, aber auch Italien den Vorstoß vermutlich blockieren werden. Er ist bestrebt, sein politisches Profil in Europa zu schärfen."
Archiv: Europa

Medien

In Italien muss sich die Tageszeitung Domani mit einer Klage des Staatssekretärs im Arbeitsministerium, Claudio Durigon, herumschlagen. Und sie ist nicht die einzige, berichtet Michael Braun in der taz: "Verleumdungsklagen von Politiker*innen gehören mittlerweile zum Alltag des Redaktionsgeschäfts. Im November 2022 war es Ministerpräsidentin Meloni selbst, die Schadensersatz in Höhe von 25.000 Euro einklagte, weil sie sich durch einen Domani-Artikel verleumdet sah, in dem ihr vorgeworfen wurde, sie habe in der Frühphase der Coronapandemie einem Unternehmer und Parteifreund bei dessen Maskengeschäften per Anbahnung nützlicher Kontakte unter die Arme gegriffen. Die Verhandlung steht noch an. Allerdings wäre es verfehlt, in diesen letzten Fällen den Beweis dafür zu sehen, dass unter der seit Oktober 2022 in Italien regierenden Rechten die Pressefreiheit unter Druck gerät. Es ist schlimmer: Die Unsitte der auf Einschüchterung zielenden Klagen hat eine lange Tradition und wird einfach fortgesetzt." Wie das Beispiel des linken Politikers Matteo Renzi zeigt, der den Corriere della Sera - erfolglos - auf 200.000 Euro Schadenersatz wegen der Bekanntgabe unliebsamer Fakten zur Parteienfinanzierung verklagt hatte.

Am Weltfrauentag feierte man bei Burda ausgelassen Geschlechtergerechtigkeit und Sichtbarkeit von Frauen, einen Tag zuvor hatte man "der gesamten Grafikabteilung der Bunten gekündigt, 14 Angestellten, davon 12 Frauen, auch den leitenden Art-Directoren", weiß Aurelie von Blazekovic in der SZ. Der Gesamtbetriebsrat des Verlags "vermisst eine glaubwürdige Strategie für die Printmarken und eine Zukunftsperspektive im Digitalen. Die Furcht in der Belegschaft, dass der Verlag Marken wie die Bunte und den Focus verkommen lässt, bahnte sich schon vor der Verkündung der Sparmaßnahmen an. Vor einigen Wochen wandte sich der Gesamtbetriebsrat in einem dreiseitigen Brief an die Geschäftsführung des Verlags. In ihm heißt es, man sei 'zunehmend besorgt', habe 'Sparrunden ertragen, unter Outsourcing gelitten und Personalabbau hinnehmen müssen', unter anderem die Schlussredaktionen seien abgeschafft worden."
Archiv: Medien

Geschichte

Die Hohenzollern haben, so heißt es auch in brav referierenden Medien, "Verzicht" auf ihre angeblichen Ansprüche geleistet. Sie wollten bekanntlich Tausende von Kunstwerken und Immobilien zurück, die ihnen wegen der Naziverstrickungen des letzten deutschen Kronprinzen Wilhelm von Preußen genommen worden waren. Diesen hatten sie in einer systematisch aufgezogenen PR-Kampagne als harmlosen eitlen Clown dargestellt, der überhaupt keinen Einfluss auf den Gang der Ereignisse genommen hätte. Der Historiker Stephan Malinowski, der in der Sache das maßgebliche Buch geschrieben hat, lässt ihnen das in der FAZ nicht durchgehen. Die zugleich mit dem "Verzicht" präsentierten neuen Quellen wiederholen laut Malinowski nur Altbekanntes. Sein Urteil bleibt vernichtend: "Es ist nicht leicht zu erkennen, über wen oder was genau nun noch debattiert werden soll. Im juristischen Sinn ist die angekündigte Klagerücknahme gleichbedeutend mit einer verlorenen Gerichtsverhandlung. Die Klagerücknahme macht den im Jahr 2015 von der zuständigen Potsdamer Behörde erlassenen Ablehnungsbescheid bestandskräftig. Hätte man eine offene Debatte gesucht und die oft angerufene historische 'Verantwortung' empfunden, dann hätte die Familie statt der Zusammenarbeit mit einem kleinen Kreis bevorzugter Historiker bereits vor zehn Jahren eine internationale, unabhängige und mit NS-Spezialisten besetzte Historikerkommission anregen können."

In der NZZ erinnert Jürgen Pelzer an den lange Zeit vergessenen Massenmord an der jüdischen Bevölkerung in Griechenland, der im März 1943 in der "Mutter Israels" genannten Stadt Saloniki begann: Am 15. März 1943 verließ "der erste Transport mit 2600 in Viehwaggons eingepferchten Menschen die Stadt. Bis zum August folgten regelmäßig weitere Transporte. Insgesamt gelangten ungefähr 48 000 Menschen nach jeweils fünf Tagen Fahrt nach Auschwitz. Etwa 37 000 Menschen wurden sofort nach ihrer Ankunft getötet, weitere 8000 bis 9000 gingen an Zwangsarbeit, Krankheiten und Unterernährung zugrunde. Am Ende des Krieges bestand die sephardische Gemeinde Saloniki aus einer Gruppe von etwa 1200 Menschen."
Archiv: Geschichte