9punkt - Die Debattenrundschau

Das sächsische Gastgebervölkchen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.03.2023. Die Historikerin Botakoz Kassymbekova erklärt in der Berliner Zeitung, wie der Imperialismus à la russe funktioniert und warum er im Westen nicht verstanden wurde. Im Tagesspiegel analysiert Ilko-Sascha Kowalczuk die Mischung aus reaktionärer Ideologie und linker Verortung bei Sahra Wagenknecht. Die Angst vor einem Atomkrieg ist immer berechtigt, aber deshalb der eigenen Angst andere zu opfern, ist keine Option, meint Claudius Seidl in der FAZ. Die "Letzte Generation" beschmutzt ein den Grundrechten gewidmetes Denkmal mit Erdöl - die SZ findet das abstoßend.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.03.2023 finden Sie hier

Europa

Für eines ist der Krieg gegen die Ukraine gut. Wir lernen etwas über den Imperialismus à la russe. "Die Besiedlung eroberter Gebiete mit Russen, um das Gebiet als russisch zu deklarieren, ist alte russische Kolonialpolitik, die schon im 16. Jahrhundert praktiziert wurde", sagt die in Basel lehrende Historikerin kasachischen Ursprungs Botakoz Kassymbekova in einem äußerst instruktiven Gespräch mit Susanne Lenz von der Berliner Zeitung. Leider sind selbst gutwillige westliche Forscher den russischen Narrativen aufgesessen, so Kassymbekova. Den Deutschen wirft sie eine "nicht erfolgte oder schiefgelaufene Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs" vor: "Die Sowjetunion war damals nicht nur Opfer, sondern auch kolonialer Angreifer. Sie hat in Absprache mit Hitlerdeutschland Polen angegriffen und das mit einer gemeinsamen Militärparade gefeiert, sie hat das Baltikum besetzt und zuvor Finnland angegriffen. Dass vor allem die russischen Soldaten gelitten haben, ist auch falsch. Während des Krieges hat Moskau völkermörderische Gewalt ausgeübt: zum Beispiel gegen Tschetschenien im Februar 1944, als die ganze Bevölkerung nach Zentralasien deportiert wurde. Im Februar in der extrem kalten kasachischen Steppe ohne Versorgung und Unterkunft ausgesetzt zu werden, bedeutete für viele den sicheren Tod. Die Hälfte der Menschen sind gestorben."

59 Prozent der Westdeutschen befürworten Leopard-2-Panzerlieferungen an die Ukraine, aber nur 35 Prozent der Ostdeutschen. Andreas Austilat interviewt für den Tagesspiegel den DDR-Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, der den Mentalitätsunterschieden auf die Spur kommen will: "Die Solidarität mit den Russen in Teilen Ostdeutschlands, sogar in Teilen Europas, bedeutet vor allem eine Ablehnung des westlichen Wertesystems", konstatiert er. Sahra Wagenknecht sieht er als Paradebeispiel einer "Linken", der er das Linkssein aberkennt. Sie sei im Grunde immer schon reaktionär gewesen: "Und das hat sie sich nicht erst gestern ausgedacht. Sie hat in den neunziger Jahren bereits genauso argumentiert, als sie die Niederschlagung der ungarischen Revolution 1956 und des Prager Frühlings 1968, jeweils durch sowjetische Truppen, verteidigte. Sie sagte, Ungarn und die damalige ČSSR sollten nach einem großen Masterplan dem westlichen Lager zugeführt werden."

Michael Bartsch erzählt in der taz, wie verschiedene Bevölkerungsgruppen der Stadt Dresden miteinander zurechtkommen oder auch nicht - geflüchtete Ukrainer, Russlanddeutsche, Juden russischen oder ukrainischen Ursprungs. Die Identitäten sind nicht immer klar, und in Begegnungszentren wie dem "Kolibri" kann es durchaus zu Konflikten kommen: "Und wie verhält sich das sächsische Gastgebervölkchen? Pfarrer Bogdan Luka begegnet 'die gesamte menschliche Bandbreite - von sehr herzlich bis zur kompletten Ablehnung'. Zur leisen Kundgebung vor der Frauenkirche, die am 24. Februar den Jahrestag des Kriegsbeginns betrauerte, kam immerhin fast die doppelte Anzahl der erwarteten tausend Teilnehmer. Die AfD-Pegida- und Schwurblerdemo auf dem Theaterplatz, einen Tag vor der Wagenknecht/Schwarzer-Demo in Berlin, brachte es nicht ganz auf diese Zahl."

Die Angst vor einem Atomkrieg ist immer berechtigt, aber deshalb der eigenen Angst andere zu opfern, ist keine Option, meint in der FAZ Claudius Seidl Richtung deutsche Friedensbewegung. "Alles läuft auf die Forderung hinaus, sich Putin zu unterwerfen: Er droht mit Atomwaffen? Dann macht ihm Zugeständnisse und gebt ihm, was er will! Wenn Putin damit durchkommt, wird er aber weiter drohen; er hat ja größere Ambitionen. All die anderen Autokraten, die über nukleare Arsenale verfügen, werden sich ein Beispiel daran nehmen. Und die, die keine Atomwaffen haben, werden sich beeilen, welche zu bekommen. Das ist die Konsequenz der Reden Sahra Wagenknechts, des 'Manifests für den Frieden' und der Parolen all der anderen, die jetzt ihre Angst für ein Argument halten: Werden ihre Wünsche erfüllt, schwindet die Gefahr nicht; sie wird größer."
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Gesellschaft

Aktivisten der "Letzten Generation" haben in Berlin ein Denkmal für die Grundrechte in unmittelbarer Nähe des Bundestags mit Erdöl beschmiert. Ganz Twitter befindet sich in heller Aufregung. Dieses Video zeigt die Aktion:


Angelika Slavik ärgert sich in der SZ über die Aktion: "Hinter vielen Provokationen, die man bei den Aktionen der Klimaaktivisten kritisch sehen kann, steht eine wachsende Bereitschaft zum intellektuellen und kulturellen Verfall. Blockierte Straßen können ärgerlich sein, aber zumindest mit Blick auf das Protestziel begründet werden. Die Beschmutzung von Kunstwerken und Denkmälern ist hingegen nur dümmlich. Ein tieferes Ziel ist nicht zu erkennen. Demonstriert wird Verachtung."
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Medien

In der FAZ kann der Publizist Friedrich Dieckmann ja irgendwie verstehen, dass die Lettre gegen die Zeitschrift Sinn und Form klagt, die von öffentlichen Mitteln lebt, während Frank Berberich seine Lettre privat finanziert: "Die Kränkung, auf die er seit dem September 2020 mit Beschwerdebriefen an die Kulturstaatsministerin reagierte, bestand darin, dass Lettre International als Zeitschrift von der Pandemie-Beihilfe ausgeschlossen blieb, die das Ministerium Buchverlagen damals in Höhe von zehn Millionen Euro gewährte. Berberich verwies auf Verkaufsausfälle im Umfang von 1500 bis 2000 Exemplaren pro Ausgabe und einen entsprechenden Verlust von 50.000 Euro im Jahr 2020 und fand sich angesichts der unbestrittenen Qualität und Bedeutung des Blattes nicht weniger förderungsbedürftig als Buchverlage und Buchhandlungen ... Die Antwort des Ministeriums auf dieses begründete Klagelied: Der Staat dürfe 'nicht in den publizistischen Wettbewerb der Presse eingreifen', und 'Eine finanzielle Förderung einzelner Zeitschriften mit öffentlichen Geldern unterliege daher sehr hohen (verfassungsrechtlichen) Hürden'. Berberich platzte daraufhin der Kragen, er schrieb seinen vierzehnseitigen Brief, den das Ministerium nicht mehr beantwortete, und erklärte die von staatsfinanzierten Institutionen herausgegebenen Zeitschriften pauschal für illegal." Aber selbst wenn er gewinnt, retten wird seine "unentbehrliche" Zeitschrift das nicht, fürchtet Dieckmann. Ideen anyone? Hier geht's übrigens zum Lettre-Abo.
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Politik

Mit dem Ausscheiden des Ministerpräsidenten Li Keqiang tritt in diesen Tagen die Generation der chinesischen Pragmatiker endgültig ab, schreibt FAZ-Korrespondentin Friederike Böge im Leitartikel. Nach dem Ende der Null-Covid-Politi schien es kurz, als könne das Land sich wieder mäßigen, aber Böge ist skeptisch und sieht eine immer rigidere Zurichtung des Systems auf den Führer Xi Jinping hin, der weder seine Solidarität mit Russland noch seine Fixierung auf Taiwan aufgeben werde: "Das Geld für Xis Kampf wird in Peking allerdings knapper. Die alternde Gesellschaft erzwingt höhere Ausgaben für das Gesundheitssystem. Wegen der Immobilienkrise gehen die Einnahmen der Lokalregierungen zurück. Die Bevölkerung konsumiert nicht, wie sie soll, weil Xis Abkehr von der Null-Covid-Politik Vertrauen zerstört hat. Einer Führung, die heute dies und morgen dessen Gegenteil behauptet, traut man keine Verlässlichkeit mehr zu."

In der taz kritisiert der Kurde Ibrahim Murad, Mitglied der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien, die Lockerung der Sanktionen gegen Syrien wegen des Erdbebens. Die Hilfsgüter würden von assad- und erdogantreuen Gruppen entwendet und vor allem den Kurden vorenthalten: "Kurdische Viertel und Dörfer im stark vom Erdbeben getroffenen Aleppo, das unter Kontrolle des Regimes steht, werden von Truppen der syrischen Regierung belagert und blockiert. Gleichzeitig werden Hilfsgüter, die den Erdbebenopfern zur Verfügung gestellt worden sind, von regimetreuen bewaffneten Gruppen geraubt und auf den Märkten den Opfern verkauft." Nicht viel anders sehe es in Nordwestsyrien aus, wo türkeitreue Gruppen damit beschäftigt seien, "die bereitgestellte Hilfe untereinander aufzuteilen und zu stehlen."
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