9punkt - Die Debattenrundschau

Mit dem Gesicht zur Wand

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.02.2023. Die Umweltaktivistin Sepideh Kashani-Doust schildert im Tagesspiegel Folter und Erniedrigung im Evin-Gefängnis. Die Historikerin Botakoz Kassymbekova versucht im Blog des Atlantic Council der Kälte der russischen Bevölkerung gegenüber der Ukraine auf die Spur zu kommen. Die Jüdische Allgemeine wendet sich gegen die "Gewaltspirale", die in deutschen Medien jedes Mal Pirouetten dreht, wenn es Konflikte in Israel gibt. Luisa und Yannick von der "Letzten Generation" erklären in der taz, warum sie bei ihrem Flug nach Bali auf die Business Class verzichtet haben.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.02.2023 finden Sie hier

Politik

Der Tagesspiegel bringt einen Brief der seit fünf Jahren im iranischen Evin-Gefängnis inhaftierten Umweltaktivistin Sepideh Kashani-Doust: "Ich möchte, dass Sie wissen, dass ich allen möglichen Strategien ausgesetzt war - Druck, Folter, Verhöre, manipulative Inszenierungen - mit dem Ziel, falsche Geständnisse zu erpressen. Nun fühle ich mich jedoch verpflichtet, einige dieser Zwänge und Grausamkeiten zu schildern, damit Sie einen Teil des Schmerzes und des Leids kennenlernen, das wir durchgemacht haben. Zu Beginn jeder Sitzung las der Vernehmungsbeamte die Sure Ya-Sin aus dem Koran vor. Dann las jemand, der sich als Geistlicher ausgab, ein Todesurteil vor - das meines geliebten, müden Houman. Ich saß, die Augen verbunden, mit dem Gesicht zur Wand, sodass ich den Mann, der las, nicht sehen konnte, aber er behauptete, ein Geistlicher zu sein. Er verlas Houmans Todesurteil. Hier?! In diesem Raum? Wessen Urteil?! Mein geliebter Houman." Auch der Filmemacher Jafar Panahi ist im Evin-Gefängnis eingesperrt - obwohl das Urteil gegen ihn längst verjährt ist. Jetzt hat er einen trockenen Hungerstreik angekündigt - mehr dazu in unserer Kulturrundschau.

Die jüngsten Gewaltereignisse in Israel haben in den deutschen Medien wieder die übliche Rhetorik der "Gewaltspirale" ausgelöst, mit der eine Symmetrie zwischen den Handelnden behauptet wird, notiert Julia Bernstein in der Jüdischen Allgemeinen. Gern wurde dabei betont, dass der Anschlag auf eine Synagoge in Jerusalem als Vergeltung für die Tötung von neun Palästinensern durch Israelis zu verstehen sei. Bestimmte Aspekte werden aus Opportunitätsgründen nicht erwähnt. "Bei dem Einsatz in Jenin sind sieben bewaffnete Kämpfer und zwei Zivilisten getötet worden. Dass es sich bei den Getöteten mehrheitlich um bewaffnete Kämpfer des Islamischen Dschihad, der Hamas und der Al-Aksa-Märtyrerbrigade, die bei einer Antiterroroperation und im Feuergefecht mit der israelischen Armee getötet wurden, und nicht ausschließlich um Zivilisten handelt, kaschiert allein die Benennung der Getöteten als 'Palästinenser' in einigen Berichten."
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Europa

Die in Basel lehrende Historikerin Botakoz Kassymbekova versucht in einem viel retweeteten Text im Blog des Atlantic Council der schockierenden Empathielosigkeit der russischen Bevölkerung für die Ukrainer auf die Spur zu kommen. Die Kälte ist für sie ein Zeichen einer tief verinnerlichten imperialistischen Mentalität. "Ob durch den orthodoxen Glauben, die kommunistische Ideologie oder Putins weitaus vagere Vorstellungen von einer 'russischen Welt' angetrieben - diese höchst paternalistische Art des Imperialismus gibt den Russen das Recht, im Namen ihrer unterworfenen Völker zu sprechen. Dementsprechend besteht keine Notwendigkeit, diesen eroberten Völkern tatsächlich zuzuhören oder sich in sie einzufühlen, selbst wenn sie als 'Brüder' bezeichnet werden. Diejenigen, die sich diesem heiligen Kreuzzug widersetzen, werden logischerweise als Vertreter des Bösen verstanden. Es ist kein Zufall, dass eine ganze Reihe hochrangiger russischer Beamter, darunter auch Putin selbst, versucht haben, die Invasion in der Ukraine als Kampf gegen Satanisten darzustellen."

Gestern fanden in Wolgo- alias Stalingrad die Feiern zum achtzigsten Jahrestag der Kapitulation der Deutschen in dieser Schlacht statt. Selbstverständlich wurden sie zur Rechtfertigung des heutigen Kriegs gegen die Ukraine genutzt, schreibt Inna Hartwich in der taz: "Das Staatsfernsehen zeigt ordenbehängte alte Männer, Veteranen von damals, die von ihrem eigenen Heldentum zu erzählen wissen, von ihrer Lust, 'alle Deutschen abzuknallen', und sich darüber freuen, dass ihre Urenkel nun 'die Nazis in der Ukraine töten'. 'Unseren Sieg', sagen sie in die Kamera, 'werden wir generationsübergreifend feiern'. Der Kreml pflegt seit Langem die Legende vom 'Wir gegen die ganze Welt'. Die Hilfe der Alliierten im Zweiten Weltkrieg wird heruntergespielt oder gar nicht erst erwähnt. Es zählt das Heldenepos - und es zählen die Durchhalteparolen."

Friedensstifter wurden oft ermordet, warnt die russisch-amerikanische Politologin Nina Chruschtschowa mit Blick auf Wolodomir Selenski in der NZZ und erinnert an Mahatma Gandhi, Yitzhak Rabin oder Anwar al-Sadat. Bisher unterstützen die Ukrainer Selenskis kompromisslose Haltung gegenüber Russland, aber Zugeständnisse könnten zu Gewalttaten führen, glaubt sie: "Viele, die Wolodimir Selenski zu Verhandlungen mit Putin drängen, tun dies, weil sie das Blutvergießen wirklich beenden möchten. Doch ganz so, wie der Krieg mit hohen Kosten verbunden ist, könnte auch ein Frieden mit Russland teuer ausfallen - und das nicht zuletzt für den Friedensstifter. Wenn Selenski überzeugt werden soll, einem Regime Zugeständnisse zu machen, das unzählige Menschenleben vernichtet, die Infrastruktur des Landes zerstört und einen großen Teil des ukrainischen Staatsgebiets annektiert hat, müssen die, die ihn dazu ermutigen, einen Plan entwickeln, der weitere Angriffsdrohungen aus Russland unterbindet - und sie müssen bereit sein, der Ukraine diesbezüglich noch jahrelang zur Seite zu stehen."

In der Welt fragt sich die ukrainische Journalistin Veronika Melkozerova, ob es in Kriegszeiten eigentlich angebracht ist, die eigene Regierung zu kritisieren: "In den ersten sechs Monaten nach Beginn der Invasion beschlossen ukrainische Journalisten und Beobachter, ihre öffentliche Kritik an der ukrainischen Regierung auf Eis zu legen und sich auf die Dokumentation russischer Kriegsverbrechen zu konzentrieren. Doch das ging nach hinten los. 'Diese Pause hat dazu geführt, dass viele ukrainische Beamte nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden konnten', schrieb Mykhailo Tkach, einer der führenden ukrainischen Enthüllungsjournalisten, in der Ukrainska Pravda. Seine Recherchen über ukrainische Staatsdiener, die während des Krieges das Land verließen, um verschwenderische Urlaube in Europa zu verbringen, führten dazu, dass Präsident Wolodymyr Selenskyj ein Verbot für Beamte verhängte: Solange der Krieg andauert, darf niemand privat ins Ausland reisen."

Ja, die italienische Regierung sendet Signale in die rechtsradikale Ecke, aber von einer rechtskonservativen Wende Italiens durch Giorgia Meloni kann keine Rede sein, meint Thomas Schmid in der Welt (und in seinem Blog). "Dass Meloni Führungsstärke besitzt, zeigt sich daran, dass sie ihren beiden Koalitionspartnern zwar periphere Zugeständnisse macht (machen muss), sich in Kernfragen aber konsequent durchsetzt: kein freundliches Blinken in Richtung Putin, ein extrem schnell beschlossener und vor allem EU-kompatibler Haushalt. Und der nationalistischen Rhetorik zum Trotz kein Bemühen um Autarkie. Sondern, etwa in Fragen der internationalen Beziehungen und der Afrika-Politik, ein entschieden multilateraler Ansatz. Niemand kann wissen, ob Meloni diesen Kurs aus innerer Überzeugung verfolgt. Wie auch niemand wissen kann, ob sie sich auf Dauer gegen die breitbeinigen Selbstdarsteller und Zündler Salvini und Berlusconi wird behaupten können (oder wollen)."
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Gesellschaft

Luisa und Yannick von der "Letzten Generation" sind mit dem Flugzeug nach Bali gereist und so zum Gespött bei Twitter geworden. Sie rechtfertigen sich in einem Text, den die taz bringt. Es sei "ein langjähriger Traum von Luisa". Es sei eine schwere Entscheidung gewesen. Sie hätten sich aber bewusst für eine Fluggesellschaft mit kerosinsparenden Flugzeugen entschieden, "und nonstop, um energieintensive Starts zu vermeiden". Und "am besten in der Economy-Class, was anderes lässt nicht nur das CO2-Konto nicht zu".

Das Bundesverfassungsgericht hat eine Beschwerde des Landes Berlin zum Berliner Neutralitätsgesetz abgelehnt, berichten Christian Rath und Plutonia Plarre in der taz. Der juristische Hintergrund ist kompliziert, es handelt sich nicht um eine Grundsatzentscheidung, und das Gericht hat seine Entscheidung nicht mal begründet. Aber "das Bundesverfassungsgericht hat das Berliner Neutralitätsgesetz bisher auch nicht für verfassungswidrig erklärt... Was nun mit dem Neutralitätsgesetz passiert, hängt nicht zuletzt vom Ausgang der Wahlen am 12. Februar ab."

Im Tagesspiegel begrüßt Jost Müller-Neuhof: "Das Neutralitätsgesetz, mit dem das Kopftuch im Schuldienst unterbunden werden sollte, ist nach den Vorgaben aus Karlsruhe auszulegen. Das bedeutet, dass ein Kopftuch ohne konkrete (!) Gefahr für den Schulfrieden und die staatliche Neutralität nicht verboten werden darf. Diese Gefahren werden politisch herbeigeredet, wirklich gegeben hat es sie nie. Ein Gutachten, das die Bildungsverwaltung einst erstellen ließ, um solche Gefahren zu belegen, erschöpft sich in Klischees."
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Ideen

In zwei Texten feiert die taz den hundertsten Geburtstag des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Tobias Heinze und Martin Mettin zitieren in einem Porträt einen Satz des Adorno-Freunds, Autors und Polemikers Ulrich Sonnemann, der deutlich macht, worin  sich die damalige Zeit von der heutigen unterschied: "Für die Frage, ob Sprache ihrem Inhalt wie eine Haut anliegt (wie sie soll), ist die absolute Schwierigkeit eines Satzes ohne Bedeutung: das Nein auf sie erzwingt erst den Nachweis, daß die seines Gehaltes geringer ist - daß man diesen, ohne ihn zu verändern, einfacher ausdrücken kann." In einem zweiten Artikel stellt Marc Ortmann die Pläne des neuen Direktors Stephan Lessenich vor: "Wir machen hier herrschaftskritische Soziologie auf der Höhe ihrer Zeit, auf der Zeit der Herrschaft, und versuchen aus der Negierung dessen, was ist, etwas zu ziehen für das Denken in alternativen Gestaltungsoptionen."
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Kulturpolitik

Ergebnisse des Forschungsprojekts Benin-Initiative Schweiz ergaben: Auch in acht Schweizer Museen befindet sich Raubkunst aus Benin, meldet Philipp Meier in der NZZ. Rückgaben werden diskutiert, aber es geht bei solchen Kunstwerken auch um Erinnerungskultur, räumt Meier ein: "Die Eroberung von Benin-City im Jahr 1897 gilt als traumatisches Ereignis in Nigeria und ist in der Bevölkerung bekannt. Was heute weniger reflektiert wird, betrifft die ursprüngliche Bedeutung der Benin-Bronzen. Solche Stücke fanden Verwendung in sakralen Opferhandlungen, bei welchen Kriegsgefangene auf Ahnenaltären hingerichtet wurden. Das Königreich Benin trieb Handel mit Sklaven im Tausch gegen die begehrten Metalllegierungen für den Guss der Kultobjekte. Solche Zusammenhänge, die übrigens nicht nur von britischen Militärärzten, sondern auch von lokalen Historikern belegt wurden, werden heute allerdings gerne verdrängt."

Im Tagesspiegel hat Kathrin Sohns nach einem Bericht in The Art Newspaper Zweifel, dass von russischen Truppen entwendete Kunstwerke, jemals an die Ukraine zurückgegeben werden: "Konkret geht es in dem Bericht um Hunderte von Gemälden, die im November aus dem Kunstmuseum in Cherson entfernt und in einen Konzertsaal des Kunstmuseums in Simferopol auf der Krim gebracht wurden - das Gebiet, das Russland bereits 2014 annektiert hatte. Der Leiter dieses Museums, Andrei Malgin, versicherte der Moscow Times unmittelbar nach der Entwendung, dass die Exponate vorübergehend eingelagert würden", angeblich "um sie in Sicherheit zu bringen".
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