9punkt - Die Debattenrundschau

Bürgerpflicht des Hinschauens

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.02.2023. Der Guardian fragt, warum wir uns Videos von Polizeigewalt gegen Schwarze anschauen sollen, wenn sich doch nichts ändert. Heute werden in der Ukraine Kunstschätze geplündert und verkauft, wie vor einigen Jahren in Syrien, warnt Hermann Parzinger in der Berliner Zeitung. Die taz wirft einen Blick auf die sorgfältig geführten Todeslisten der Organisation Assistance Association for Political Prisoners in Myanmar. Gleichzeitig scheffeln amerikanische, britische und irische Öl- und Gasunternehmen dort immer noch Millionengewinne, berichtet der Guardian. In der Welt hofft Juri Andruchowytsch auf eine vernichtende Niederlage Russlands.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.02.2023 finden Sie hier

Europa

"Es gab keine westliche Berichterstattung aus der Ukraine. Alle Korrespondenten saßen in Moskau und haben von dort über die Ukraine berichtet - voll mit Bildern der russischen Propaganda", sagt der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch im Gespräch mit Stefan Schacher (Welt), in dem er sich auch über westliche Linke ärgert, die zur Einigung aufrufen: "Die sollen bitte in die Ukraine kommen und sich Städte wie Butscha oder Isjum anschauen." Er setzt auf eine "vernichtende Niederlage Russlands": "Die andere Möglichkeit ist, dass Russland eine neue Regierung bekommt. Aber das sieht mir problematischer aus als der Zerfall. Wenn wir einfach ein Abkommen unterschreiben, einen schlechten Frieden, dann ist das keine Lösung. Dann geht der Krieg in ein, zwei Monaten, einem halben Jahr einfach weiter - nur intensiver. Wir verstehen schon ganz gut, dass das Jahre dauern und unser Ziel nur der Sieg sein kann. Ich weiß nicht, was die Russen jetzt tun könnten, um eine kleine Brücke zu uns zu bauen. Wir sind zutiefst verletzt. Sehr viele Ukrainer haben das nicht erwartet. Vor allem die, die prorussisch eingestellt waren, nicht. Die kommen zurück zu ihrem Haus, nachdem eine Region befreit worden ist, und sie finden nur Zerstörung und Exkremente, Leichen, vergewaltigte Kinder. Wie kann man da Versöhnung beginnen?"

Einen Sieg der Ukraine hält Christoph B. Schiltz indes ebenfalls in der Welt für äußerst unwahrscheinlich. Den Ukrainern gingen die Soldaten aus, 60 bis 70 Prozent der kritischen Infrastruktur seien zerstört, Russlands Reserven - auch an Panzern - seien hingegen riesig. "Kiew läuft die Zeit davon - und der Westen schaut zu. Aus Angst vor dem Überschreiten 'roter Linien', die Wladimir Putin gesetzt hat, tun Europa und die USA auch nichts dafür, die russische Satellitenkommunikation zu stören, was die Angriffsfähigkeiten Moskaus massiv beeinträchtigen würde. (...) Wer mit westlichen Diplomaten spricht, hört immer häufiger von der Angst vor einer Eskalation, von der Sorge vor einer Kriegsmüdigkeit der demokratischen Gesellschaften und von der Hoffnung auf einen baldigen Waffenstillstand. Und genau auf diesen schnellen Waffenstillstand läuft das Engagement des Westens mittlerweile hinaus - stillschweigend natürlich. Das Ergebnis wird sein: eine amputierte Ukraine."
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Medien

Nachdem das Video von der brutalen Tötung eines jungen Schwarzen durch Polizeibeamte in den USA tagelang in den Medien verbreitet wurde, fragen sich jetzt einige kritische Stimmen, ob das wirklich nötig war, berichtet Nina Rehfeld in der FAZ. "Der renommierte CBS-Reporter Wesley Lowery, ein Veteran der Berichterstattung über Polizeigewalt, fragte angewidert nach der 'Grenze zwischen Information und Spektakel'." Die New York Times hingegen verteidigte die Veröffentlichung: Sie sprach "von einer 'Bürgerpflicht' des Hinschauens. 'Zu oft darf der übelste Machtmissbrauch im Dunkeln gären, von Lügen, Bürokratensprache und Halbwahrheiten verschleiert. Rohe Videoaufnahmen versprechen Klarheit, Transparenz und vielleicht sogar die Haftung der Schuldigen', hieß es da."

Tayo Bero hat das Video nicht gesehen, erzählt sie im Guardian, "weil ich es ehrlich gesagt leid bin, schwarze Männer sterben zu sehen. Es sollte nicht normal sein, an den letzten Momenten eines Menschen auf diese Weise teilzunehmen. Schwarze Männer nach ihren Müttern schreien zu hören, während der Staat ihnen das Leben nimmt. Ständig von den Bildern junger Männer und Frauen heimgesucht zu werden, die leicht Sie oder jemand, den Sie kennen, hätten sein können. ... Warum legen wir die Last des Videobeweises weiterhin den schwarzen Gemeinschaften auf, die zu Opfern werden? Warum reicht die bloße Tatsache dieser Vorfälle nicht aus, um dem Ganzen ein Ende zu setzen? Warum haben all die Jahre, in denen wir uns dieses Filmmaterial angesehen haben, nicht ausgereicht, um unsere Gesetzgeber zu echten Maßnahmen zu bewegen? Es kommt mir vor wie eine schmerzhaft sinnlose Übung."

Außerdem: In der FAZ kritisiert Jochen Zenthöfer die von der Juris GmbH veröffentlichten Kommentare zu Gerichtsurteilen, die häufiger "Richterschelte" beinhalteten.
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Kulturpolitik

Im Grunde habe er gar nichts gegen Preußen im Namen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, aber die Debatte sei trotzdem wichtig, sagt Hermann Parzinger im Gespräch mit Harry Nutt (Berliner Zeitung). Deutlicher wird Parzinger, der als Archäologe an der Ausgrabung der Skythen-Gräber beteiligt war, wenn es um die Plünderung des Skythen-Goldes aus einem Krim-Museum geht: "Auf der Webseite des ukrainischen Ministeriums für Kultur und Information kann man beinahe stündlich sehen, wie die Liste der zerstörten Kulturdenkmäler wächst. Es geht ganz offensichtlich um eine gezielte Vernichtung der ukrainischen Kultur. Es werden nicht nur Kirchen, historische Gebäude, Museen, Bibliotheken und Archive attackiert. Auch wertvolle Objekte sind verschwunden, etwa in Melitopol, einer Stadt, die zwischen Mariupol und der Krim liegt und deshalb strategisch von besonderer Bedeutung ist. Das Museum dort verfügt über bedeutende skythische Goldfunde. Es gab Hinweise, dass die Museumsverantwortlichen angeblich entführt wurden und der Schatz gestohlen worden sein soll. Es häufen sich Anhaltspunkte, dass neben gezielten Kulturzerstörungen auch Kunst- und Kulturgüter geplündert und illegal gehandelt werden, ganz ähnlich wie beim sogenannten Islamischen Staat in Syrien. Die Dimensionen sind derzeit noch nicht abzusehen. Wir müssen rasch handeln, zum Beispiel durch die Zusammenarbeit mit der UNESCO und durch das Sensibilisieren von Zollbehörden."

Im Eilverfahren hatte die Unesco vergangene Woche bereits das historische Stadtzentrum von Odessa in die Rote Liste des gefährdeten Weltkulturerbes aufgenommen, meldet Ulrich M. Schmid in der NZZ: "Bereits kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine wurden Befürchtungen laut, dass Odessa ein wichtiges strategisches Ziel sein könnte. Etwa siebzig Prozent der ukrainischen Exporte über den Seeweg laufen über den Hafen von Odessa. Außerdem liegt die Region Odessa nahe bei Transnistrien, das politisch, militärisch und wirtschaftlich vollständig von Moskau abhängig ist. Nach einer Eroberung Odessas könnte Russland einen Landkorridor nach Transnistrien einrichten und die von der Moldau abtrünnige Republik annektieren."
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Politik

Sven Hansen wirft für die taz einen Blick auf die sorgfältig geführte Todesliste der Organisation Assistance Association for Poltical Prisoners, die in einem unscheinbaren Holzhaus in der westthailändischen Grenzstadt Mae Sot sitzt und festhält, wieviele Menschen unter der Militärregierung in Myanmar täglich festgenommen werden und sterben: "An diesem Montag sieht die Kurzfassung von AAPPs Zahlen so aus: 2.901 Zivilisten wurden von Juntakräften seit dem Putsch am 1. Februar 2021 getötet, darunter 282 Kinder. 143 Personen wurden zum Tode verurteilt, davon sitzen 101 in Todeszellen, vier wurden bisher hingerichtet, der Rest wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt. 17.535 Zivilisten wurden bisher festgenommen, davon 439 Kinder. 13.719 Personen sind noch in Haft, davon wurden 2.216 bisher verurteilt. Dann folgt der tägliche Hinweis: 'Diese Zahlen wurden von AAPP verifiziert. Die tatsächlichen Zahlen sind wahrscheinlich viel höher.'"

Und die Militärs in Myanmar haben Hilfe von außen, wie der Guardian berichtet: "Inmitten dieser Gewalt scheinen durchgesickerte Steuerunterlagen aus Myanmar und andere Berichte zu zeigen, dass amerikanische, britische und irische Öl- und Gasunternehmen, die den Betreibern von Myanamars Gasfeldern wichtige Bohrungen und andere Dienstleistungen anbieten, auch nach dem Staatsstreich weiterhin Millionengewinne in dem Land gemacht haben. Die Dokumente wurden von der gemeinnützigen Transparenzorganisation Distributed Denial of Secrets beschafft und von der Myanmar-Aktivistengruppe Justice For Myanmar, der investigativen Journalismusorganisation Finance Uncovered und dem Guardian analysiert. Die Dokumente lassen darauf schließen, dass in einigen Fällen die Tochtergesellschaften großer US-Gasfelddienstleister weiterhin in Myanmar arbeiteten - selbst nachdem das US-Außenministerium im Januar letzten Jahres vor erheblichen Risiken bei Geschäften in dem Land gewarnt hatte - und auch mit staatlichen Unternehmen, die die Junta finanziell unterstützen, wie z.B. die nationale Öl- und Gasgesellschaft Myanma Oil and Gas Enterprise (MOGE). Am Dienstag kündigten die USA, Großbritannien, Australien und Kanada weitere Sanktionen gegen Myanmar an, darunter gegen den Geschäftsführer und den stellvertretenden Geschäftsführer von MOGE. Sie verzichteten jedoch darauf, MOGE selbst zu sanktionieren."

In der taz kritisiert Charlotte Wiedemann die iranische Diaspora, die ihr zu wenig Rücksicht nimmt auf die religiösen Gefühle vieler Iraner: "Begegnungen mit ihnen haben mich am meisten über Iran gelehrt. Doch diese Menschen werden leicht übersehen, unter anderem weil die Diaspora zu diesen Kreisen weniger Verbindungen hat. ... Im Text einer iranischen taz-Autorin begegnete mir am selben Tag folgender Satz: 'Der Islam ist seit 1.400 Jahren ein Zwang in Iran.' Ungewollt wird hier herabgesetzt, was geehrt werden soll. Der Philosoph Ramin Jahanbegloo, der in Delhi lehrt, schrieb einmal, es sei 'eine der kulturellen Katastrophen der iranischen Gesellschaft', die drei Schichten ihrer geistig-moralischen Substanz immer neu gegeneinander auszuspielen, nämlich vorislamisches Persertum, schiitische Identität und Modernismus. Das legt die Schlussfolgerung nahe: In einer Revolution, die das Verhängnis von 1979 nicht mit anderen Vorzeichen wiederholt, müssen all diese Identitätsschichten aufgehoben sein, in einer gewiss schwierigen Balance."

Journalisten der SZ, des WDR und der NDR haben in den vergangenen Wochen mit Menschen aus dem Iran gesprochen, die verhaftet wurden, nachdem sie gegen das Regime protestierten. Auf Seite 3 der SZ werden heute einige Schicksale dokumentiert: "Die Gespräche mit den Menschen in Iran ... legen nahe, dass Polizeiwachen und Gefängnisse in dem Land tatsächlich Orte brutalster Gewalt sind. Die Menschen erzählen von Schlägen, Tritten, Peitschenhieben, Elektroschockern, von Vergewaltigungen und der unfreiwilligen Verabreichung von Medikamenten. Sie erzählen, wie ihre Knochenbrüche tagelang nicht behandelt wurden, und davon, wie sie von Staatsbediensteten psychisch gefoltert wurden. Durch Einschüchterung, Herabwürdigung, Kälte, Schlafentzug. Überprüft wurden die Vorwürfe in Gesprächen mit Angehörigen und Ärzten, Menschenrechtsorganisationen und einem bis vor Kurzem in Iran tätigem Gefängniswärter. Die Geschichten ähneln und wiederholen sich, sie stimmen mit öffentlich verfügbaren Informationen und geografischen Angaben überein. Sie decken sich auch mit Haftbedingungen, wie sie in früheren Jahren von Gefangenen beschrieben wurden - und mit geleakten Überwachungsvideos aus der Haftanstalt Evin. Offenbar sollen Demonstranten in Iran in der Haft gebrochen werden."

"Je mehr palästinensischer Terror, desto schlechter das Los der Palästinenser. Selbstverschuldet", kommentiert der Historiker Michael Wolffsohn in der Welt die jüngsten Anschläge. Deshalb rät er den Palästinensern zu "nüchterner Selbstanalyse": "Sie selbst bewirken die seit Jahrzehnten zu beobachtende politische Verhärtung der israelischen Gesellschaft und dadurch, bei Wahlen, eine Regierung, die immer weniger bereit ist, Kompromisse zu akzeptieren. (…) Heute gibt es rund 650.000 jüdische Siedler im Westjordanland. Es ist völlig klar: Diese 650.000 jüdischen Siedler zurück ins israelische Kernland 'umzutopfen', ist politisch ganz und gar unrealistisch. Die Zweistaaten-Lösung, auch Wunschbild Deutschlands, ist daher nur im Wolkenkuckucksheim möglich. Allein möglich sind föderative Strukturen für Juden und Palästinenser."

In der Welt nimmt der Germanist und Schriftsteller Karl-Heinz Göttert die Erstürmung der brasilianischen Regierungsgebäude Anfang Januar nochmal zum Anlass für einen Streifzug durch die Geschichte der Demonstrationen und Revolutionen seit 1789. Spätestens seit 1989 kannte die Welt auch eine friedliche Form des Protests, schreibt er: "Gewalt ging bei den Auseinandersetzungen in erster Linie vom Staat aus, von Polizei und Militär. Umso schockierender die Nachrichten aus Washington und Brasília. Man war direkte Gewalt gegen den Staat, erst recht gegen Demokratien, schlicht nicht mehr gewöhnt, hielt diese Art von Tumulten für überwunden. Und dann auch noch Gewalt gegen die wichtigsten Symbole des Staates, gegen den Sitz der Parlamente, mit dem Versuch, das Ergebnis demokratischer Wahlen wegzuwischen."
Archiv: Politik

Geschichte

Gezielt bestückte Bücherregale im Hintergrund sind nicht erst ein Thema, seit es Videokonferenzen gibt, erzählt Milos Vec in der FAZ, während er auf Jan van Belkamps Triptychon von 1646 blickt, das Lady Anne Clifford in drei Lebensabschnitten zeigt: "Forscher haben sensationelle 8000 Wörter auf der Leinwand gezählt, die dem Bild einen mehrfachen Subtext und Raum für Interpretation geben. Die adlige Dame, Tochter und Gattin von Grafen und Baronin eigenen Rechts, lebte in einem Jahrhundert voller politischer Kämpfe um Publizieren, Lesen und Zensieren; zugleich wuchs die durchschnittliche Anzahl der Bände in englischen Privatbibliotheken um 162 Prozent auf durchschnittlich 3400. Eine Frau, die im öffentlichen Leben jener Zeit kaum Möglichkeiten der Artikulation hatte, illustrierte durch die Ausstaffierung ihres Porträts mit Büchern, deren Rückentitel entzifferbar waren, ihre gesellschaftliche Position".
Archiv: Geschichte