9punkt - Die Debattenrundschau

Schon die Dreigeschlechtlichkeit des Deutschen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.01.2023. Unerhörte Fissuren notiert die SZ nach Lützerath bei den Grünen: Manche sind jetzt für Atomkraft. Die FAZ fragt: Muss amtlich gegendert werden? Die SZ fragt: Existiert Cancel Culture, und, wenn ja, ist sie ein Einzelfall? Die taz erinnert an die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische  und belgische Truppen vor hundert Jahren - das Ruhr Museum Essen zeigt eine Ausstellung dazu.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.01.2023 finden Sie hier

Europa

Auch an diesem Wochenende ging der russische Krieg gegen die ukrainische Zivilbevölkerung weiter. Kiew war sieben Stunden ohne Strom, berichtet Anastasia Magasowa für die taz. "Am tödlichsten war der massive russische Angriff in der Region Dnipropetrowsk. Dort traf eine Kh-22-Rakete einen mehrstöckigen Wohnblock in der zentralukrainischen Stadt Dnipro. Als Folge des Angriffs stürzten zwei Treppenhäuser mit 72 Wohnungen in einem neunstöckigen Gebäude vollständig ein, in dem insgesamt mehr als 1.100 Menschen lebten. Vierundzwanzig Stunden nach dem Schlag waren 25 Menschen gestorben, darunter ein Kind. 73 Menschen wurden verletzt, darunter 16 Kinder. Die Suche nach mindestens 43 weiteren Personen geht weiter."

Die Grünen drohen über Lützerath ihren Nachwuchs zu verlieren. Beschwichtigung wird ihnen nicht weiterhelfen, meint Constanze von Bullion in der SZ. "Sorgsam beschwiegen wird auch, dass Klima-Aktivistinnen wie Greta Thunberg in der Atomkraft das kleinere Übel sehen, kleiner jedenfalls als das der Kohlekraft. Etliche jüngere Grüne sehen das ähnlich, nur sagen sie es nicht laut, aus Rücksicht auf die Regierenden in Berlin. Dabei ist es Zeit für eine offene Auseinandersetzung. Wenn die Grünen-Spitze sie nicht führen mag, wird die internationale Klimabewegung sie erzwingen. Lützerath war da nur der Anfang."

Die hohen Energiepreise bedrohen zunehmend Produktionsstätten in Europa, berichten Charlie Cooper und Giorgio Leali in Politico. "Gleichzeitig hat ein umfangreiches Paket amerikanischer Subventionen für die grüne Industrie die EU-Beamten schockiert und verärgert, da sie sehen, dass die USA - ein vermeintlicher Verbündeter - Unternehmen dazu verleitet, ihren Standort über den Atlantik zu verlagern. Die Energiekrise ist besonders akut für Sektoren wie Glas, Chemikalien, Metalle, Düngemittel, Zellstoff und Papier, Keramik und Zement, die am meisten Energie für ihre industrielle Produktion benötigen und in denen insgesamt 8 Millionen Menschen beschäftigt sind. Angesichts der immer stärker werdenden wirtschaftlichen Konkurrenz aus China und den zunehmend protektionistischen Vereinigten Staaten warnen die europäischen Staats- und Regierungschefs offen vor einer 'Deindustrialisierung', die das gesamte verarbeitende Gewerbe auf dem gesamten Kontinent betrifft."
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Kulturpolitik

Als "Waschzwang" kritisiert Claudia Schwartz in der NZZ die Entscheidung Annalena Baerbocks, das "Bismack-Zimmer" im Auswärtigen Amt umzubenennen und den Wunsch Claudia Roths das Wort "Preußen" aus der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zu tilgen: "Man macht Geschichte nicht ungeschehen, indem man die Zeichen der Erinnerung abräumt. Allerdings entsteht hier ohnehin nicht der Eindruck, Baerbock oder Roth seien an deutscher Geschichte interessiert. Denn dazu gehörte eine eingehende kritisch-realistische Reflexion - auch des eigenen Blickwinkels."
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Gesellschaft

Die Deutschen können eh kein richtiges Deutsch mehr, da kann Gendern die Sprache auch nicht viel mehr verunstalten, ist Claudius Seidl in der FAZ überzeugt. Also soll jeder gendern wie er will? Das dann doch nicht: "Etwas anderes ist das geschriebene Wort, vor allem dort, wo es ein Machtwort ist, wo es sich also in bürokratische oder juristische Begriffe kleidet. Oder wo es wissenschaftliche Autorität für sich beansprucht. ... Diese Sprachpraxis, die doch die Inklusion der Frauen und aller nicht binären Personen bewirken soll, führt zur Exklusion all jener, die nicht das Glück hatten, gut genug Deutsch zu lernen, um sich über das Geklapper der Obrigkeitssätze lustig zu machen; all jener also, denen ein amtliches Schreiben in seiner Schwerverständlichkeit schon Angst genug einjagt. Und all jener, die, weil es in ihrer Muttersprache keine Genera gibt, schon an der Dreigeschlechtlichkeit des Deutschen verzweifeln. Verhunzung ist, wie vulgär auch immer, eine ästhetische Kategorie. Die Verkomplizierung der Sprache durch die Obrigkeit wirft aber soziale und politische Probleme auf."
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Ideen

Ob es "Cancel Culture" gibt oder nicht, findet Jens-Christian Rabe, Literaturredakteur der SZ, unklar. Er bezieht sich auf ein Buch des in Stanford lehrenden Literaturwissenschaftlers Adrian Daub, der darlege, dass es sich bei meisten Erzählungen über Fälle von "Cancel Culture" um Anekdoten mit wenig Stichhaltigkeit handle. Nur beim jüngsten Fall an der Hamline Universität - eine Dozentin wurde entlassen, weil sie eine Mohammedabbildung aus dem 14. jahrundert zeigte (unsere Resümees) - handle es sich eben nicht um eine Anekdote. Also vielleicht ein Einzelfall?  So ganz traut Rabe aber Daub nicht über den Weg. Im Spiegel antwortet Daub auf die Frage, ob nicht Begriffe, mit denen die Linke gern hantiert, wie "struktureller Rassismus" genau der von Daub beklagten Verdachtsrhetorik entsprächen, antwortet Daub, das sei durch Forschung belegt: "Abstrakte Berufung auf die 'Forschung', Ende der Durchsage. Genau diese Rhetorik zu akzeptieren, fällt aber nun deutlich leichter, wenn man die Intuition (und das linksliberale Weltbild) von Daub tendenziell teilt."

Andreas Bernard will sich von der unheimlichen Versiertheit der Schreibsoftware Chat GPT nicht ins Bockhorn jagen lassen. Worauf es hinausläuft, schreibt er in der SZ, "ist eine klare Aufspaltung zwischen der Vollendung artifiziellen Schreibens und der Mängeldisziplin des menschlichen Schreibens..., so wie es beim Schach seit der unerreichbaren Brillanz der Schachcomputer längst gültig und souverän akzeptiert ist".
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Geschichte

Haus der Essener Geschichte/Stadtarchiv
Vor hundert Jahren besetzten belgische und französische Truppen das Ruhrgebiet, unter anderem um Zugriff auf die Kohle zu bekommen und Reparationsleistungen einzufordern. Das Ruhr Museum Essen widmet dieser Episode eine Ausstellung, Max Florian Kühlem berichtet für die taz: "Die deutsche Bevölkerung war sich damals allerdings vor allem in einem einig: dass sie den Besatzern Widerstand leisten mussten. Das geschah vor allem passiv, zum Beispiel durch Arbeitsniederlegungen. Zeitungsbilder von 1923 zeigen. wie Deutsch-Nationale, Kommunisten, Arbeiter und Industrielle mit Zylinder beim größten Leichenzug der Essener Stadtgeschichte zusammenkamen. Beerdigt wurden 13 Menschen, die bei einem blutigen Zwischenfall in den Essener Krupp-Werken am Ostersamstag 1923 von französischen Soldaten getötet wurden. Sie hatten diese daran hindern wollen, sich an der Ausstattung des Werks zu bedienen. Insgesamt ging die Ruhrbesetzung allerdings ziemlich unblutig vonstatten, rund 130 Menschen kamen dabei zu Tode, teilweise bei Unfällen."

Ebenfalls in der taz berichtet Klaus Hillenbrand über eine Initiative des emeritierte Pädagogen Frank Nonnenmacher, der einen Ort zum Gedenken an von Nazis verfolgte "Arbeitsscheue" schaffen will. "Das Unterfangen ist schwierig. 'Es gibt kein Amt und keine Gedenkstätte, die ich fragen könnte', sagt er. Viele der Opfer und ihrer Familien haben lange aus Scham geschwiegen. 'sechzig, siebzig haben sich gemeldet', sagt Nonnenmacher. Dabei sind vermutlich etwa 70.000 Menschen in deutschen KZ inhaftiert, gequält und ein großer Teil von ihnen ermordet worden, weil es Unangepasste waren, die nicht den Normen der 'Volksgemeinschaft' entsprachen."

In der Welt erinnert Thomas Schmid an die erbitterte Debatte, die noch vor der Wende über Helmut Kohls Projekt eines "Deutschen Historischen Museums" geführt wurde. Sie hat sich in Luft aufgelöst: "Was immer man über das DHM sagen mag - ein Hort des Neonationalismus, der Glorifizierung deutscher Geschichte und des Beschweigens oder Verschweigens der NS-Geschichte ist es gerade nicht geworden. Dank Christoph Stölzl."
Archiv: Geschichte