9punkt - Die Debattenrundschau

Wir nicht, die anderen auch

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.12.2022. ZeitOnline bringt eine Dankesrede der Memorial-Historikerin Irina Scherbakowa, in der sie zu Widerstand gegen Diktatur und Hoffnungslosigkeit aufruft. Die taz wirft einen Blick auf den iranischen Unterdrückungsapparat. Die SZ erklärt den neuen Salatbar-Extremismus. In der FAZ stellt der Historiker Robert Heinze klar, dass Sklaverei und Kolonialismus nicht erst in der Rückschau verwerflich wurden. Die FAS hat noch einige Fragen an das Institut für Zeitgeschichte, das dem Schloss-Spender Ehrhardt Bödecker trotz seiner antisemitischen Schriften ein verquast-wohlmeinendes Gutachten ausstellte.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.12.2022 finden Sie hier

Politik

In der taz erklärt Jannis Hagmann Struktur und Funktion des iranischen Unterdrückungsapparats, in dessen Zentrum natürlich die gefürchteten Revolutiongarden stehen: "Mit einer Truppenstärke von 200.000 sind sie eine der mächtigsten paramilitärischen Organisationen der Welt. Gegründet 1979, im Jahr der 'Islamischen Revolution', existieren die Garden parallel zur Armee und unterstehen nicht der Regierung, sondern dem Revolutionsführer Ali Chamenei... Die Revolutionsgarden kontrollieren einen großen Teil der iranischen Wirtschaft und sind die ausführende Kraft der aggressiven Außenpolitik des Regimes, das in Staaten wie Libanon, Afghanistan oder dem Irak einflussreiche Verbündete aufbaut und so seinen Hegemonieanspruch durchsetzt. Die Grenzen zwischen Partei, Miliz und Terrorgruppe sind bei proiranischen Verbündeten oft fließend - etwa bei der Hisbollah im Libanon oder den Huthis im Jemen. Die Basidschis sind die repressive Kraft der Revolutionsgarden im Inland. Die Einheit hat 100.000 aktive Mitglieder und soll laut Regime in der Lage sein, Millionen Freiwillige zu mobilisieren."
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Europa

ZeitOnline bringt die Dankrede der Historikerin und Menschenrechtlerin Irina Scherbakowa von Memorial zur Verleihung des Marion-Dönhoff-Preises. Darin huldigt Scherbakowa all jenen Russinnen und Russen, die sich nicht entmutigen lassen: "Nun, wenn man sein Lebenswerk oder gar sein ganzes Leben von einer Diktatur zertreten sieht, seine Lebenswelt durch Stumpfsinn und Brutalität zerstört, besteht die Gefahr, aber auch die Verlockung der Hoffnungslosigkeit. Doch wo Hoffnung verschwindet, nimmt bald Verbitterung und Ohnmacht ihren Platz ein. Aber das ist genau das Ziel von Diktaturen wie jener in Russland. Als ich vor vielen Jahren Frauen befragte, die Stalins Kerker und Gulags überlebt hatten (wir hatten damals noch keine Hoffnung auf die Wende), um zu begreifen wie man so etwas überhaupt überleben kann, sagten mir viele: Ich habe gehofft. Ich fragte: Worauf denn, im Angesicht von 25 Jahren Lagerstrafe? Und es kam die Antwort: Ich habe einfach nur gehofft."

ZeitOnline bringt allerdings auch die irritierende, aber nicht unbedingt verwunderliche Meldung, dass die belgische Polizei die griechische Vizepräsidentin des EU-Parlaments Eva Kaili festgenommen hat. Ihr werden Geldwäsche und Korruption durch einen Golfstaat vorgeworfen. Im November hatte sie im Brüsseler Parlament eine Lobrede auf Katar gehalten. Die WM sei Beweis, zitiert ZeitOnline, "dass Sportdiplomatie einen historischen Wandel in einem Land bewirken kann, dessen Reformen die arabische Welt inspiriert haben".

Die Verschwörung fanatischer Wirrköpfe ist ein weltweites Phänomen und so schräg, dass die Ermittlungsbehörden nicht wissen, wie sie diesen Quatsch einordnen sollen, schreibt Georg Mascolo in der SZ: "In den USA nannte es das FBI 2019 'conspiracy driven extremism', Fahnder nennen es umgangssprachlich 'Salatbar-Extremismus': Jede Mischung tut es. Das FBI prognostizierte einen steilen Anstieg, das Internet schaffe ideale Voraussetzungen. Ein ausgeprägter Hang zu Verschwörungserzählungen ist verbindendes Element, vor allem die QAnon-Bewegung spielt eine Rolle. In ihr geht es um Politiker und Hollywood-Größen, die in geheimen Lagern Kinder missbrauchen und ermorden. Inzwischen ist auch Deutschland QAnon-Hotspot geworden, gesucht werden noch Beweise für eine direkte Blutlinie zwischen Angela Merkel und Adolf Hitler." Immerhin konstatiert Mascolo erleichtet: Der oft beschworene "Wutwinter" mit Massenprotesten aufgestachelter Russlandfreunde ist ausgeblieben.
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Geschichte

In der FAZ schaltet sich der Pariser Historiker Robert Heinze in die Diskussion um die Thesen seines Kollegen Egon Flaig ein, der in Fragen von Sklaverei und Kolonialismus die Europäer vom "Schuldspruch der Vergangenheit" befreien möchte. Flaigs Denken bringt Heinze auf die Formel: "Wir nicht, die anderen auch": "So behauptet Flaig, die Sklaverei sei 'jahrtausendelang legitim' gewesen, ohne dabei zu unterscheiden, wie viele verschiedene Formen von Sklaverei es gab (und gibt). Das historisch entscheidende Distinktionsmerkmal des transatlantischen Sklavereikomplexes bestand im Plantagensystem, welches das Ausmaß des Sklavenhandels und die Formen der Sklaverei grundlegend veränderte. Jürgen Osterhammel machte daran die Unterscheidung zwischen 'Gesellschaften mit Sklaven' und 'Sklavengesellschaften' fest; letztere zeichnen sich dadurch aus, dass die Arbeitsform der Sklaverei im Mittelpunkt der Produktion steht." Und noch etwas betont Heinze: "Dass der Kolonialismus insgesamt ein gewaltvolles, ungerechtes, ausbeuterisches und illegitimes System war, ist kein Werturteil in der Rückschau - es wurde von Zeitgenossen in Europa, aber vor allem in den Gesellschaften, die Kolonisierungsprozessen unterworfen waren, ständig formuliert, nicht zuletzt unter Berufung auf die Ideen der Aufklärung selbst."
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Kulturpolitik

Niklas Maak versteht in der FAS die Welt nicht mehr. Vom Schloss-Spender Ehrhardt Bödecker sind Texte bekannt, in denen er gegen die "wissenschaftlich nachgewiesene Unrichtigkeit der behaupteten Zahl von sechs Millionen Opfern" des Holocausts zeterte oder behauptete, Deutschland leide unter der "Selbstvergottung der Sieger" nach 1945. Wie kann das Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte über eine solche Position "ambivalent" ausfallen? "Dort heißt es, 'antisemitische Topoi sowie die Tradition des antiwestlichen Nationalismus' seien bei Bödecker 'evident', zugleich finde sich 'die Ambiguität von deutlichen antisemitischen Klischees einerseits und der Konterkarierung antisemitischer Ressentiments andererseits'. "Ist jemand, der sagt, Juden seien allesamt üble Geschäftemacher, hätten aber durchaus unterschiedliche Nasenformen, kein Antisemit, weil er ein Klischee nicht bedient? Das wäre eine sehr nachsichtige Definition, mit der sich die Zahl deutscher Antisemiten fast auf null reduzieren ließe. Kein Satz, der klar sagt: Bödecker verfasste antisemitische Texte, Punkt. Es ist interessant, wie schwer sich Politiker, Wissenschaftler und Kommentatoren, die den Antisemitismus einiger Documenta-Teilnehmer sehr schnell benennen und - zu Recht - verurteilen konnten, bei ebenso klaren Fällen von innerdeutschem Antisemitismus tun. Und: Warum ist das Gutachten nicht öffentlich einsehbar? Warum reagiert der Gutachter nicht auf Presseanfragen?"
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Gesellschaft

Pascal Bruckner kann die deprimierten Wehklagen der Franzosen über den Niedergang ihrer Kultur nicht mehr hören, auch den Bistros möchte er in der NZZ keine Träne nachweinen, deren Verschwinden allenthalten bedauert wird: "Ist es bedauerlich, wenn uns Orte abhandenkommen, die ab 8 Uhr morgens voll von Säufern waren und in großer Mehrheit von Männern besucht wurden? Orte, die, neben Alkohol, schlechten Kaffee und scheußlichen Tee servierten und nach Kippen und Toiletten stanken? Mir persönlich hat der Anblick von Bistro-Schluckspechten den Alkohol dauerhaft verleidet."
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Stichwörter: Bruckner, Pascal, Toilette

Medien

Um die BBC wird seit ihrer Gründung vor hundert Jahren gestritten, erinnert Gina Thomas in der FAZ, und natürlich stehen irrwitzige Moderatorengehälter oder journalistische Leitlinien immer wieder in der Diskussion. Aber inzwischen vermengen sich auf ungute Weise politische Affekte und wirtschaftliche Ideologie: "Die BBC ist Gegenstand eines Kulturkriegs. In der Debatte um die Zukunft des Senders wird die grundsätzliche Frage, ob das BBC-Modell noch zeitgemäß ist, vom gleichen politischen Geist getrieben, der die Brexit-Debatte gelenkt hat. Die konservativen Medien dreschen auf die Anstalt ein, der sie linksliberale Voreingenommenheit vorwerfen. Vor allem die Daily Mail. Sie gefällt sich in der Rolle der Spitzenreiterin jener Fraktion, die der vor Jahren von dem Thatcher-Minister Norman Tebbit ausgesprochenen Einschätzung beipflichtet, die BBC präge die 'unerträgliche, blasierte, scheinheilige, naive, schuldbeladene, waschlappenhafte, linke Orthodoxie jenes Altenheims drittrangiger Köpfe jenes drittrangigen Jahrzehnts der Sechzigerjahre'."
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Stichwörter: Bbc, Brexit