9punkt - Die Debattenrundschau

Nur in Deutschland segeln die halt nicht

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.12.2022. Einige Medien waren über die Razzia gegen die "Reichsbürger" überraschend gut informiert - ein PR-Coup? Der Tagesspiegel wirkt verärgert. Die FAZ hört ein Krachen im scheinbar soliden Gebälk des iranischen Regimes. Aber noch wehrt es sich mit größter Brutalität gegen die Demokratiebewegung. Der Guardian berichtet, dass Polizeikräfte bei Demonstrantinnen oft mit Vogelschrot auf die Brüste und den Unterleib schießen. Der Historiker Norbert Frei will den Holodomor in der SZ nicht als Genozid sehen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.12.2022 finden Sie hier

Politik

Im Iran ist der erste Teilnehmer an Demonstrationen wegen "Aufruhrs gegen Gott" hingerichtet worden. Im Land werden Streiks organisiert. Rainer Herrmann berichtet in der FAZ über widersprüchliche Signale aus dem Regime. Radikalere Mullahs wollen Frauen, die immer öfter ohne Kopftuch auf die Straße gehen, wieder unter das Symbol der Unterdrückung zwingen. Aber "während die konservativen Kleriker auf der Durchsetzung des Kopftuchs auf den Haaren der Frauen bestehen, wollen jene, die auf die Beendigung der Proteste drängen, die Handhabung des Kopftuchzwangs doch wenigstens lockern. Auffällig ist, dass sich bei dieser Frage die Revolutionswächter zurückhalten. Das wird als Indiz dafür gewertet, dass die seit elf Wochen anhaltenden Proteste langsam einen Keil in die bisher symbiotische Beziehung zwischen der schiitischen Geistlichkeit und den Revolutionswächtern treiben."

Iranische Polizeikräft beschießen Demonstranten oft mit sogenanntem Vogelschrot. Dabei scheinen sie bei Frauen oft absichtlich auf Brüste und den Unterleib zu zielen, berichten Deepa Parent and Ghoncheh Habibiazad, die für den Guardian mit mehreren iranischen Ärzten gesprochen haben. "Während die blutige Niederschlagung der Demonstranten durch eine Internetsperre weitgehend verborgen blieb, zeigten Fotos, die dem Guardian von Medizinern zur Verfügung gestellt wurden, am ganzen Körper verheerende Wunden durch so genannte Vogelschrotkugeln, die die Sicherheitskräfte aus nächster Nähe auf die Menschen abgefeuert haben. Einige der Fotos zeigen Menschen mit Dutzenden von winzigen 'Schrotkugeln', die tief in ihrem Fleisch stecken. Der Guardian hat mit zehn Medizinern gesprochen, die vor der Schwere der Verletzungen warnten, die bei Hunderten junger Iraner zu bleibenden Schäden führen könnten. Schüsse in die Augen von Frauen, Männern und Kindern seien besonders häufig, sagten sie. Ein Arzt aus der zentralen Provinz Isfahan sagte, er glaube, dass die Behörden Männer und Frauen auf unterschiedliche Weise ins Visier nehmen, 'weil sie die Schönheit dieser Frauen zerstören wollen'."
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Medien

Schnell und überraschend gut vorbereitet berichteten zumindest einige Medien über die Großrazzia in der "Reichsbürger"-Szene. Im Tagesspiegel glaubt Jost Müller-Neuhof, hier habe "eine Inszenierung stattgefunden; ein PR-Coup, der die Verantwortlichen der Staatsmacht in gutes, die Festgenommenen in ein schlechtes Licht rücken soll." Und: "Ein solcher Eindruck wäre schädlich. Die Verantwortlichen sollten deshalb glaubhaft darlegen, dass sie alles dafür getan haben, den Einsatz im Vorfeld geheim zu halten. Die eigene Überraschung über die vielen Kameras und Blitzlichter vor Ort kundzutun, genügt dafür nicht. Sie müssen dem Verdacht nachgehen, wann und wie die Informationen aus den Reihen der Behörden abfließen konnten. Es handelt sich - mutmaßlich - um Geheimnisverrat."

Auch Aurelie von Blazekovic und Philipp Bovermann stutzen in der SZ über die eiligen Hintergrundrecherchen, die allerdings auch die SZ am Tag der Razzia lieferte, wie sie bekennen. Indes teilt das Bundeskriminalamt mit, "dass es 'grundsätzliche keine Informationen mit nicht berechtigten Stellen und Personen' teile. Das Bundesinnenministerium beteuert das ebenfalls. 'Die Weitergabe von Informationen an Außenstehende im Vorfeld von Ermittlungsmaßnahmen ist aus unserer Sicht unverantwortlich,' fügt eine Sprecherin hinzu. Denn: 'Es handelte sich gestern um einen gefährlichen Einsatz, deutlich wird dies allein an der Anzahl der eingesetzten Spezialkräfte.' Die Anwesenheit von Medienvertretern vor Ort bei Durchsuchungsmaßnahmen gefährde nicht nur sie selbst, sondern auch die Einsatzkräfte."
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Stichwörter: Reichsbürger, Razzia

Geschichte

Die Anerkenunung des Holodomor als Völkermord an Ukrainern durch den Bundestag war "gut gemeint", aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive gut gemacht war sie sicher nicht, konstatiert der Historiker Norbert Frei in der SZ. Hier sprach "das Bedürfnis nach psychischer Selbstentlastung mindestens so sehr ... wie jenes nach historischer (Selbst-)Belehrung", meint er und äußert Bedenken: "Zum einen, weil er das Bedürfnis nach historischer Verengung und nationaler Vereinnahmung eines kommunistischen Großverbrechens ignoriert, das die heutige Ukraine (vor allem im Osten) in absoluten Zahlen mit schätzungsweise 3,5 Millionen Hungertoten am stärksten, aber keineswegs ausschließlich betraf; Kasachstan verlor etwa 1,5 Millionen Menschen, also mehr als ein Drittel seiner Bevölkerung. Aber Hunderttausende verhungerten auch auf russischem Territorium (vor allem im Nordkaukasus, sowie, zum zweiten Mal innerhalb eines Jahrzehnts, im Ural und an der Wolga). Zum andern, weil er der Tendenz zu einer legislativen Festschreibung historischer Deutungen folgt, die sich seit den Neunzigerjahren parallel zum intensiver gewordenen Diskurs über Menschenrechte und Genozide ausgebreitet und deren ursprünglich erhoffte Schutzfunktion, etwa zugunsten von Minderheiten, sich leider als illusionär herausgestellt hat."
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Kulturpolitik

Bei der Documenta 15 hätte sie härter durchgreifen müssen, sagt Claudia Roth im großen FR-Interview mit Lisa Berins nach einem Jahr als Kulturstaatsministerin. Auch auf die BDS-Resolution des Bundestages kommt sie zu sprechen, die sei ein "einfacher, d. h. politischer Beschluss" hält sie noch einmal fest: "Es geht nicht, in Deutschland öffentlich BDS zu propagieren. Wenn ein Künstler aber ein künstlerisch interessantes Werk schafft, was mit BDS nichts zu tun hat, ist das kein ausreichender Grund, ihn von einer Förderung auszuschließen. Was wir nicht wollen, das ist Werbung für den BDS. Was wir nicht brauchen, ist eine Gewissensprüfung. Meine Linie ist: Wir bekämpfen Antisemitismus in all seinen Formen, und ich bin gegen Boykotte, gerade gegen Kulturboykotte. Schon deswegen habe ich mich als Kulturstaatsministerin sehr deutlich geäußert, als BDS-Aktivisten und -Aktivistinnen offensiv interveniert haben und versucht haben, Boykotte beim Festival Pop-Kultur Berlin durchzusetzen. Das geht überhaupt nicht."

Roths erstes Regierungsjahr endet "mit relativ viel kulturpolitischem Stillstand, mit vielen großen Worten zu anderen Dingen (Krieg, Demokratie, Erinnern) und wenigen kleinen Taten auf dem eigentlichen Aufgabengebiet", bilanziert ein enttäuschter Dirk Peitz derweil auf ZeitOnline, etwa mit Blick auf die Reform der Stiftung Preußischer Kulturbesitz: "Nun will man den angeschlossenen Häusern wenigstens ein bisschen Autonomie gönnen von der Stiftung selbst, der Rest der Reformpläne erschöpft sich in Verwaltungskram, und alle Beobachter sind fassungslos wie zuvor und weisen aufs Ausland, auf den Louvre, das British Museum, den Smithsonian-Verbund - anderswo kriegt man große, schwere Museumsflotten flott, ansehnlich, beliebt gar. Nur in Deutschland segeln die halt nicht. Sie gehen unter, aus eigener Schwerfälligkeit und nicht nur, weil sie schwer an ihren Kunstschätzen und ihrem Kolonialerbe tragen."

Die Reform der SPK beschäftigt heute auch den Tagesspiegel. Dass die Generaldirektion einem sechsköpfigen Vorstand weichen soll, findet Nikolaus Bernau nicht besonders klug, immerhin "war diese oft der einzige Puffer gegen die Machtübergriffe der Politik und der Stiftungsspitze". Wesentliche Probleme werden indes übersehen: "Die Staatsbibliothek musste ihren in 300 Jahren eingehaltenen Universal-Bibliotheks-Anspruch, möglichst alle Zeugnisse des menschlichen Wissens sammeln zu können, aufgeben; die wissenschaftliche Arbeit in der Stiftung stützt sich ganz auf die Selbstausbeutung der Mitarbeiter, selbst bedeutende Sonderausstellungen wie jene über die Kunst in der Ukraine können nicht mehr übernommen werden." Auch Bernhard Schulz hätte gern mal Konkretes über künftige Finanzierungspläne gehört.
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Gesellschaft

Politischer Streit ist heute oftmals ein Streit um Sprache. Die Grünen in NRW möchten den Begriff "Clan-Kriminalität" abschaffen, melden die Ruhrbarone unter Bezug auf den Kölner Stadtanzeiger: "Julia Höller, innenpolitische Sprecherin der Grünen, sagte dem Kölner Stadt-Anzeiger (Mittwoch-Ausgabe), man wolle 'eine neue Definition von Clan-Kriminalität schaffen, die nicht stigmatisiert'. Diese solle sich einzig auf kriminelle Strukturen beziehen, 'ohne Menschen pauschal zu verurteilen und unter Generalverdacht zu stellen', erklärte Höller mit. 'Ich gehe davon aus, dass sich das Innenministerium und das Justizministerium zeitnah über eine gemeinsame Definition austauschen.' Auch der Grünen-Justizminister Benjamin Limbach befürwortet nach eigenen Angaben das Vorhaben, den Clanbegriff neu zu fassen. Innenminister Herbert Reul wehrt sich vehement gegen die Grünen- Pläne."
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