9punkt - Die Debattenrundschau

Galanterie war oft doppeldeutig

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.11.2022. Das Versöhnungsabkommen mit Namibia ist so umstritten, dass es möglicherweise neu verhandelt werden muss, berichtet die taz. In Atlantic beobachtet Anne Applebaum, dass Putin mit seiner Taktik der Furcht Erfolg hat. Der Aufstand der Frauen im Iran hat unwiderruflich etwas verändert, hofft der Exilautor Homayoun Alizadeh in der NZZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.11.2022 finden Sie hier

Politik

Zur Revolution wird es im Iran nicht kommen, fürchtet Rainer Hermann in der FAZ: "Es ist ein großes Versäumnis der iranischen Diaspora, dass es ihr in mehr als vierzig Jahren nicht gelungen ist, eine Alternative zum derzeitigen Regime zu schaffen, die, wie es 1979 Khomeini gelang, aus dem Stand heraus eine neue Ordnung etablieren und die Stellen im Staatsapparat neu besetzen könnte."

In der NZZ glaubt hingegen Homayoun Alizadeh, dass der Aufstand im Iran, der von Frauen ausgelöst wurde, die ihr Kopftuch verbrannten, unwiderruflich etwas verändert hat, "egal was in Zukunft geschehen wird. Selbst wenn die Proteste nicht zum Sturz des Regimes führen, könnten die jetzigen Rufe 'Frau, Leben, Freiheit' die soziale und politische Landschaft Irans verändern. Und es haben sich Allianzen zwischen so unterschiedlichen Gruppen wie Schülerinnen, Lehrern, Sportlern, Künstlern, Ölarbeitern und anderen ethnischen Minderheiten gebildet. Eines steht fest: Die Frauen haben durch ihren Aufstand einen eigenen sozialpolitischen Status innerhalb der iranischen Gesellschaft errungen. Die Rolle der Frau als bloße Gattin und Hausfrau gehört mit der Frauenbewegung in Iran bereits der Vergangenheit an."

Benjamin Netanjahu, der nun wohl wieder Ministerpräsident in Israel wird, hatte herzlichste Beziehungen zu Wladimir Putin gepflegt, ein Anlass zur Sorge, schreibt Richard Herzinger in seinem Blog: "Andererseits ist nur schwer vorstellbar, wie Netanjahu freundliche Beziehungen zu einer Macht aufrechterhalten will, die mit Israels schlimmstem Todfeind im engsten Bunde steht. Zu Recht hat der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski kürzlich darauf hingewiesen, dass Russland dem iranischen Regime im Gegenzug für dessen Unterstützung seines Terrorkriegs in der Ukraine bei der Entwicklung von Atomwaffen behilflich sein dürfte."

Das Versöhnungsabkommen mit Namibia ist so umstritten, dass es möglicherweise neu verhandelt werden muss, berichtet Susanne Memarnia in der taz. Erstmals hatte Deutschland seine Schuld gegenüber den Herero und Nama anerkannt und versprach die Zahlung von 1,1 Milliarden Euro über dreißig Jahre. Für Ärger sorgte allerdings unter anderem, dass Deutschland das Abkommen mit der Regierung von Namibia ausgehandelt hatte, nicht mit Vertretern der Volksgruppen selbst. "Inhaltlich kritisieren Vertreter*innen der Herero, Nama sowie der San - eine Sammelbezeichnung für Indigene im südlichen Afrika - dass Deutschland mit der 'Joint Declaration' nur zugibt, dass die mit der Kolonisierung verbundenen Verbrechen 'aus heutiger Sicht' Genozid genannt werden würden. Zudem wird der Begriff Reparationen, der justiziabel wäre, vermieden. Für die Nachfahren ist der Begriff besonders wichtig, nicht nur wegen des Geldes - für sie geht es um die erkennbare Übernahme von Verantwortung und Schuld. Kritisiert wird zudem, dass die 1,1 Milliarden Euro ausdrücklich für Entwicklungsprojekte - nicht etwa als eine Art Wiedergutmachung - ausgegeben werden sollen und dass damit 'alle finanziellen Aspekte bezüglich der Vergangenheit' geregelt wären. Spätere Nachforderungen sollen damit explizit ausgeschlossen werden."

Nicaragua war mit seinen Sandinistas mal eine der Projektionsflächen einer mit der "Dritten Welt" solidarischen Alternativbewegung. Heute ist das Land eine üble Diktatur unter dem Caudillo Daniel Ortega. Für die taz interviewt Ralf Leonhard die Journalistin Berta Valle, deren Mann Félix Maradiaga für die Präsidentschaftswahlen kandidiert hatte und nun unter grausamsten Bedingungen in politischer Haft gehalten wird. "Wie es Félix geht, wissen wir nicht mit Sicherheit. Er sitzt in seiner Zelle in völliger Dunkelheit. Alle zehn Tage dürfen die Häftlinge eine Viertelstunde ans Sonnenlicht. Sie schlafen auf einer dünnen Matratze auf dem Betonboden. Diejenigen, die ihre Zelle mit einem anderen teilen, dürfen nicht miteinander reden. Die Nahrung ist extrem spartanisch. Wir sprechen von physischer Folter. Félix hat inzwischen 30 Kilo verloren, andere Gefangene bis zu 35 Kilo. Sie haben keinen Zugang zu Lektüre, nicht einmal die Bibel wird ihnen erlaubt. Sie bekommen keine Post, keine Anrufe, sie dürfen ihre Kinder nicht sehen, auch die nicht, die noch im Lande sind. Das ist psychische Folter. Die Gefangenen tragen bleibende Schäden davon."
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Europa

Putin sät Furcht, zumal vor Atomwaffen, und diese Taktik verfängt im Westen, konstatiert Anne Applebaum in Atlantic: "Die Ukrainer haben die Russen beschuldigt, die Sprengung eines Staudamms vorzubereiten, der im Falle eines Bruchs Cherson und andere Siedlungen überfluten würde. Wenn eine kleine terroristische oder extremistische Gruppe einen ähnlich verheerenden Schlag auch nur andeuten würde, würde man im Westen bereits darüber diskutieren, wie man sie zum Aufhören zwingen könnte. Aber weil wir es hier mit Russland zu tun haben und weil es sich nur um konventionelle Waffen handelt, denken wir nicht in Kategorien der Erwiderung."
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Medien

Reformimpulse kann man auch durch Bürokratismus geduldig zerkauen, wie man sehr schön kann man in einem von Helmut Hartung geführten FAZ-Interview mit Deutschlandradio-Intendant Stefan Raue sehen kann. Er reagiert auf Tom Buhrows Rede zu den Öffentlich-Rechtlichen (unsere Resümees). Aber bei Raue läuft der Reformbedarf der Anstalten dann etwa darauf hinaus, dass die Leute ihre UKW-Radios wegschmeißen sollen: "Jeden achten Euro geben wir für die Programmverbreitung, wie für UKW, DAB, Kabel, Satellit und Streaming, aus. Das sind für UKW etwa 13 Millionen Euro und für DAB rund 15 Millionen Euro. Mit UKW decken wir für Deutschlandfunk Kultur nur 50 Prozent der Fläche Deutschlands ab, beim Deutschlandfunk sind es 72 Prozent Fläche über UKW, mit DAB+ dagegen 98 Prozent Abdeckung - für alle drei Programme."
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Gesellschaft

Frankreich wird durch viele #MeToo-Fälle erschüttert. Niklas Bender kommt in der FAZ etwa auf den Fall des Schriftstellers Gabriel Matzneff zurück, der unter dem Beifall seines Publikums seine Liebschaften mit Minderjährigen besang. Sexuelle Belästigung wird in Frankreich gern mit der Kultur der Libertinage bemäntelt, so Bender. Die Affären rühren auch an der kulturelle Sebstverständnis Frankreichs, wie Bender mit einem Blick zurück ins 18. Jahrhundert erläutert. "Einerseits waren Salons Orte der Emanzipation, wo Frauen intellektuell brillieren oder als Gastgeberinnen die Regeln vorgeben konnten. Andererseits war der gesellige Umgang Gelegenheit für Schürzenjäger; Galanterie war oft doppeldeutig. In Gefahr waren nur Ehre und Status der Frau, der Mann konnte sich mit Eroberungen brüsten. Ein weiterer Punkt: Die Freiheiten, die der Adel sich im 17. und 18. Jahrhundert gegenüber Moral und Religion herausnahm, musste der dritte Stand sich mühsam erobern. Auch so gesehen ist die Libertinage - die Freiheit im Denken und in der Liebe zusammenbrachte - Teil der demokratischen Emanzipation à la française."

Der Berner Schriftsteller und Künstler Jürg Halter wird derzeit im Netz beschimpft und bedroht, weil er im Interview mit der Aargauer Zeitung die Identitätspolitik der extremen Linken kritisiert hatte, und weil in seiner aktuellen Zürcher Ausstellung ein Bild hängt, das einige für "queerphob" halten, wie er in der NZZ erzählt. Geht das auch anders, fragt er: "Ich setze Links- und Rechtsextremismus nicht gleich. Aber sie bedingen und bestärken einander, sind sich strukturell ähnlich. Beide sagen: Wir haben die ganze Wahrheit auf unserer Seite, entweder bist du zu hundert Prozent für uns oder, wenn du uns schon nur in Teilen kritisiert, bist du unser Feind. Beide betreiben anonyme oder manchmal auch offene Hetzkampagnen, beide sind gewaltbereit, beide verachten, aus unterschiedlichen Gründen, die Meinungsfreiheit und Menschen, die nicht genauso denken wie sie selbst. Ein großes Problem ist, dass sich manche Linke nicht klar von Linksextremen abgrenzen, und sie also indirekt legitimieren, ihnen Raum geben. Das kennt man auch von Rechten und Konservativen, die sich nicht klar gegen Rechtsextremismus abgrenzen. Diese Abgrenzung und das Einstehen für Toleranz, Anstand und Respekt ist aber nötiger denn je und nennt sich Zivilcourage."
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Ideen

Der israelische Botschafter Ron Prosor protestiert auf Twitter: "Am Gedenktag an die Novemberprogrome 1938 haben das @goetheinstitut und die @rosaluxstiftung beschlossen, die Erinnerung an den Holocaust zu verharmlosen. Und das ausgerechnet in Israel. Das ist inakzeptabel und respektlos!" Hintergrund ist eine am 9. November im Goethe-Institut Tel Aviv geplante Diskussion über Charlotte Wiedemanns Buch "Den Schmerz der Anderen begreifen". Multidirektional werden hier die konfligierenden Erinnerungen von Israelis und Juden einerseits und Palästinensern andererseits aufgearbeitet. Im Ankündigungstext des Goethe-Instituts heißt es: "In ihrem Buch plädiert die Publizistin Charlotte Wiedemann für ein neues empathisches Erinnern, das verschiedenen Seiten gerecht wird und Solidarität statt Opferkonkurrenz fördert. In Bezug auf die Erinnerungspraktiken in Deutschland ist sie überzeugt, dass ein Bewusstsein für die kolonialen Verbrechen der Kaiserzeit entwickelt werden muss, und das stellt die Besonderheit der Shoa nicht in Frage."
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Internet

In der SZ ist Julia Jäkel - ehemals Vorstandsvorsitzende von Gruner & Jahr und Vorsitzende der Bertelsmann Content Alliance, heute in in mehreren Aufsichtsräten, unter anderem von Holtzbrinck, - entsetzt über das erratische Verhalten von Elon Musk bei Twitter. Der soll beispielsweise nach dem Anschlag auf den Ehemann Nancy Pelosis auf eine Verschwörungswebseite mit Fake News verlinkt haben. Um das zu ändern, wünscht sich Jäkel von Werbung schaltenden Firmen eine stärkere "Corporate Media Responsibility", die mit Anzeigenboykott droht: "Der Werbeumsatz von Twitter ist in den letzten Tagen massiv eingebrochen. Ob Musk, dieser herausragende Erfinder von Autos und Raketen, darüber hinaus ein ökonomisch erfolgreicher Medienmogul mit abseitigen politischen Meinungen wird - darüber können viele mitentscheiden. Die Gesetzgeber, die Unternehmensverantwortlichen. Und: die Nutzer."
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