9punkt - Die Debattenrundschau

Die ungeheure Unmenschlichkeit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.10.2022. Putin ist keine Person, Putin ist eine Organisation, und zwar eine Mafia-Organisation, sagt Peter Nadas in der NZZ an die Adresse all jener, die an Putins Menschlichkeit glaubten. Viktor Jerofejew empfiehlt in der Welt, Dmitrij Medwedew genau zuzuhören. Bellingcat macht die russische Militäreinheit namhaft, die ukrainische Zivilisten mit Cruise Missiles beschießt. Harald Welzer kritisiert laut dpa die Standing Ovations für Serhij Zhadan - dessen Sprechen sei kein Beitrag zur Zivilisation.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.10.2022 finden Sie hier

Europa

Der Westen steht viel zu passiv dem Mafia-System gegenüber, das Teile Osteuropas - allen voran Russland und Ungarn - beherrscht, kritisiert im Interview mit der NZZ der ungarische Schriftsteller Peter Nadas. "Ich habe Putin nie für einen Menschen gehalten und mich immer gewundert, wie sehr Merkel oder Macron an das Menschliche in ihm geglaubt haben. Putin ist eine Organisation. Er ist Teil der organisierten Kriminalität. Diese Dinge gibt es seit der Zarenzeit. Unter Stalin wurde das extrem, und durch die Oligarchen haben sich diese Systeme intakt erhalten. Ich verstehe die Arglosigkeit des Westens nicht. Das mit Putin geschlossene zweite Minsker Abkommen, das 2015 die Konflikte in der Ostukraine beenden sollte, war der Höhepunkt der westlichen Gutgläubigkeit. Was heute geschieht, ist auch das Erbe von Angela Merkel. Merkel hat ein Glücksspiel betrieben, obwohl sie hätte wissen sollen, wie die Sache ausgehen wird."

Russlands Ex-Präsident Dmitri Anatoljewitsch Medwedew sollte man besser zuhören, so abstoßend man die hasserfüllten Äußerungen des einst als gebildet und feingeistig geltenden Mannes auch finden mag, empfiehlt in der Welt der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew, der Medwedew bei einem Abendessen vor vielen Jahren gar nicht so übel fand. Dessen Veränderung ist möglicherweise nur ein doppeltes Spiel, um sich die Nachfolge Putins zu sichern, überlegt er: Medwedew spreche "nur laut aus, was die Kreml-Hardliner denken und unter sich so reden. Diese ganze rüpelhafte Wortwahl, gerichtet auf die Vernichtung der Ukraine, offenbart durch ihn die ungeheure Unmenschlichkeit des derzeitigen Kreml-Regimes. ... Wer wen im Kreml beim Kampf um Putins Thron überlisten wird? Ist Medwedew fähig, die Rolle Chruschtschows nach Stalins Tod zu spielen und Russland ein Tauwetter zu bescheren, den Hunderttausenden, die aus Putins Machtbereich geflohen sind, die Möglichkeit zur Heimkehr zu geben? Und wieso nicht? War Chruschtschow etwa zu Stalins Lebzeiten dessen Opponent? Absolut nicht, er war ein politischer Lakai! Meiner Ansicht nach könnte Medwedew einen gar nicht so üblen neuen Chruschtschow abgeben".

Seit Monaten beschießt das russische Militär Wohngebiete und Einrichtungen der Energieversorgung mit ferngesteuerten Raketen, sogenannten Cruise Missiles. Hunderte Ukrainer sind dabei ums Leben gekommen. Dem Recherchemagazin Bellingcat ist es zusammen mit dem Spiegel und dem exilrussischen Magazin Insider gelungen, die Einheit ausfindig zu machen, die für diese Bombardierungen zuständig ist. Es handelt sich um die in Moskau stationierte "Rechenzentrum des Generalstabs". Auch über den Chef der Einheit, den Oberstleutnant Igor Bagnjuk wissen die Reporter einiges zu sagen: "Aus Bagnjuks Telefonaufzeichnungen geht hervor, dass er ein begeisterter Münzsammler ist, der einen großen Teil seiner Zeit - auch während der Arbeitszeit - am Telefon mit Münzhandelswebseiten wie eurocoin.ru verbringt. Seine Numismatik-Leidenschaft wurde am Morgen des 10. Oktober 2022 besonders deutlich, als er laut seinen Telefonaufzeichnungen um 6:45 Uhr, etwa eine Stunde vor dem Einschlag einer Raketensalve in Kiew, bei dem Dutzende von Menschen ums Leben kamen, mehrmals mit der Münzhandels-Website eurocoin.ru kommunizierte."


In der NZZ versucht Anna Schor-Tschudnowskaja zu erklären, warum ihre russischen Landsleute im Ukrainekrieg so passiv gegenüber ihrer Führung sind oder sie sogar unterstützt. Sie hat dazu mehrere Soziologen in Russland befragt, Lew Gudkow zum Beispiel, der keinerlei Verantwortungsgefühl in der Bevölkerung für die Aktionen ihres Staatschefs sieht: "Die moralische Zersetzung der russischen Bevölkerung betrachtet er als eine mehr oder weniger bewusste Strategie der Machtsicherung des Putinismus. Mit anderen Worten: Der Amoralismus stellt eine seiner wichtigsten Herrschaftstechnologien dar. ... Gudkow spricht mittlerweile von einer 'moralischen Katastrophe'. In einer Online-Diskussion nach den Gründen für die Bereitschaft von so vielen Menschen in Russland gefragt, im Krieg zu sterben, erwiderte er die Frage mit ihrer Korrektur: Nicht die Bereitschaft zu sterben sei erklärungsbedürftig, sondern die Bereitschaft zu töten."

Nun hat er es also geschafft. Präsident Frank-Walter Steinmeier ist heute morgen im Nachtzug in Kiew angekommen, berichtet etwa Spiegel online: "Steinmeier und Selenski wollen nun nach Angaben des Bundespräsidialamts einen gemeinsamen Appell an deutsche Städte und Gemeinden richten, kurzfristig neue Partnerschaften mit ukrainischen Kommunen zu schließen und den Menschen dort über den Winter zu helfen."

Der Autor Harald Welzer kritisierte bei der lit.cologne die lang anhaltendes Standing Ovations für Serhij Zhadan bei der Friedenspreisverleihung, meldet dpa, unter anderem bei FAZ.Net. Zhadan liegt nicht auf seiner pazifistischen Linie. dpa zitiert ihn so: "Die Veränderung des zivilisatorischen Sprechens, die sich unter anderem in bestimmten Sätzen des Friedenspreisträgers ausdrückt in Bezug auf die Gegner - die verstehe ich psychologisch aus seiner Perspektive, will ich auch überhaupt nicht kritisieren - aber sie sind kein Beitrag zur Zivilisation, sondern sie sind Teil eines dezivilisierenden Prozesses, der von anderen angestoßen worden ist. Und die eigentliche Kulturleistung von uns, den Dritten, würde doch genau darin bestehen, dass man sich in diesen Dezivilisierungsprozess nicht reinziehen lässt."
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Kulturpolitik

Es ist in Italien offenbar kein Problem, als Anhänger der Postfaschisten einen hohen Posten bei der RAI zu besetzen. Karen Krüger porträtiert für die FAZ den Journalisten Gennaro Sangiuliano, einen engen Freund Giorgia Melonis, der jetzt von der neuen italienischen Premierministerin ins Amt des Kulturministers berufen wurde. Sangiuliano hat zuvor in der RAI den Infosender Tg2 geleitet, wo er eine sehr Putin-freundliche Linie gefahren hat. Neben seiner Leitungsfunktion schaffte er es, zahllose Bücher zu schreiben: "Auch wie er zu Deutschland steht, zeigte der neue Kulturminister als Sachbuchautor. Zusammen mit dem Journalisten Vittorio Feltri veröffentlichte er 2015 bei Mondadori, dem größten Verlag des Landes, der zum Berlusconi-Imperium gehört, ein Buch mit dem vielsagenden Titel 'Das Vierte Reich - Wie Deutschland Europa unterworfen hat'. Es beschwört mit bildungsbürgerlichem Gehabe die Kellergeister der Geschichte herauf und versucht glaubhaft zu machen, Deutschland strebe weiterhin nach Vorherrschaft und versuche sie mittels einer aggressiven Finanz- und Wirtschaftspolitik zu erreichen."
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Ideen

Im Gespräch mit der FR diagnostiziert der Philosoph Jean-Pierre Wils einen tiefen Riss, einen gewissen gewollten Realitätsverlust in der Gesellschaft, die sich nicht damit abfinden mag, dass die goldenen Zeiten vorbei sind - Stichwort Klima-, Flüchtlings-, Coronakrise - und sich statt dessen in Nostalgie flüchte. Er plädiert "für die Kunst der ständigen Improvisation. Das ist eine schwierige Aufgabe, weil wir seit der Neuzeit davon ausgehen, dass Gewissheiten herstellbar sind. Dass das Leben steuerbar ist und wir die Zufälle aussortieren können. Es hat sich eine träge Zuversicht ausgebreitet. Wir sind so arrogant zu glauben, dass die westliche Moderne leistungsfähig genug ist, um immer eine schlaue Alternative zu finden, damit wir uns aus den Krisen herauswinden können. Von diesem Bild müssen wir uns dringend verabschieden. Wir werden gehörig improvisieren müssen in der Zukunft..."

Andrew Prokop porträtiert für vox.com den Blogger Curtis Yarvin, der offenbar immer mehr Einfluss auf die trumpistische Rechte in den USA hat.  Yarvin plädiert glatt für eine "Monarchie" - also einen starken Mann, der die demokratischen Institutionen der USA schleift: "Für Yarvin sind schrittweise Reformen und halbherzige Maßnahmen zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Der einzige Weg zu erreichen, was er will, ist die Übernahme der 'absoluten Macht'... Kritiker haben seine Ideen als 'faschistisch' bezeichnet - ein Begriff, den er mit dem Argument bestreitet, dass es Zentralisierung der Macht unter einem Herrscher lange vor dem Faschismus gab und dass sein idealer Monarch für alle herrschen sollte, anstatt einen Klassenkampf zu schüren, wie es Faschisten täten. 'Autokratisch' passt als Beschreibung, obwohl er den Begriff 'monarchistisch' bevorzugt. Man wird nicht viele auf der Rechten finden, die Yarvins Programm voll und ganz unterstützen - vor allem das mit der 'Monarchie' -, aber seine Kritik am Status quo und einige seiner Ideen, wie man ihn verändern könnte, haben mehrere zunehmend prominente Persönlichkeiten beeinflusst."
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Gesellschaft

In den USA gibt es eine massive rechte Cancel Culture, gebildet aus Republikanern und Evangelikalen, die an Schulen und Bibliotheken Bücher verbieten will, berichtet Dorothea Hahn in der taz: "Oft richten sich Einschüchterungen direkt gegen Bibliothekare. In Denham Springs, Louisiana, bezichtigt eine Facebook-Seite eine Schulbibliothekarin als 'Kriminelle und Pädophile'. In Jamestown Township, Michigan, kürzen die Wähler den Bibliothekshaushalt, weil ihnen Bücher im Bestand missfallen. In Virginia erhalten Bibliothekare Drohmails, nachdem sie bei der Arbeit auf Video aufgenommen werden. In Idaho kündigt eine Bibliothekschefin, nachdem Demonstranten ihr 'biblische Strafen' angedroht haben und Leute mit Schusswaffen bei Sitzungen in ihrer Bibliothek auftauchen. Von Januar bis Anfang September dieses Jahres hat der Verband amerikanischer Bibliotheken 681 Versuche erfasst, Bücher aus Bibliotheken zu verbannen."

In der NZZ würde Reinhard Mohr einiges dafür geben, von der Politik mal wieder als Erwachsener mit einem Hirn angesprochen zu werden. Die "infantilen" Antworten unserer politischen Klasse auf Probleme und kritische Fragen gehen ihm enorm auf den Geist: "Es geht eben gerade nicht um Dialog, um 'Transparenz', 'Achtsamkeit' und 'Respekt', sondern um autoritäre Botschaften, die gezielt unters Volk gebracht werden müssen. Diesem Ziel dienen seit längerem auch kreative Wortschöpfungen wie 'Mietendeckel', 'Rettungsschirm' und 'Gaspreisbremse'. Sie nähren die kindliche Vorstellung, es gebe da ein praktisches Gerät, mit dem Papa alles wieder gut machen könne."
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Politik

Die Revolutionsgarden werden den demonstrierenden Iranerinnen und Iranern niemals nachgeben, schreibt der in Amerika lehrende Politologe in Afshon Ostovar in Foreign Policy: Sie gehorchen allein dem religiösen Führer und seinem System. "Die obersten Befehlshaber der Revolutionsgarden sind sämtlich vom Obersten Führer auf Grundlage ihrer Loyalität zu ihm handverlesen. Zusammen mit anderen führenden Militär- und Polizeikommandeuren verdanken sie dem ihm ihren Platz in der Gesellschaft und alles, was sie durch die zügellose Korruption des Regimes gewonnen haben. Sollte er fallen, werden sie alle mit ihm zu Fall gebracht werden." Dennoch will Ostovar die Hoffnung nicht aufgeben und hofft auf die unteren Ränge: "Auch wenn die Führungsebene der iranischen Sicherheitskräfte vom aktuellen System profitiert hat, so gilt das nicht für die einfachen Soldaten. Ihr Risikokalkül unterscheidet sich völlig von dem ihrer Befehlshaber, und ihre Loyalität gegenüber dem System ist umso anfälliger und wird umso eher auf die Probe gestellt, je mehr von ihnen verlangt wird, im Namen des Obersten Führers zu morden und zu verstümmeln."

(Via Pierre Haski) Eine bisher unbekannte Video-Sequenz wirft neues Licht auf die Hu-Jintao-Episode beim Parteitag der chinesischen Kommunisten. Sie stützt eher die These, dass Hu nicht herausgeleitet wurde, weil es ihm schlecht ging - denn die Sequenz zeigt die Minute vor diesem Moment, in der Hu intensiv mit seinem Nachbarn über das vor ihm liegende Dokument diskutiert.


Im Streit um den Hamburger Hafen scheint sich Bundeskanzler Olaf Scholz gegen eine Reihe Ministerien durchgesetzt zu haben, die vor einem Verkauf von Anteilen an einem Container-Terminal an die chinesische Reederei Cosco gewarnt hatten: Erlaubt werden soll jetzt ein Einstieg bei einer Höhe von 24,9 Prozent, meldet Zeit online: "Die beteiligten Ressorts der Bundesregierung sehen diese Begrenzung als 'Notlösung' an, um zu verhindern, dass Cosco wie ursprünglich von dem Logistikkonzern HHLA geplant einen Anteil von 35 Prozent an der Betreibergesellschaft des Terminals Tollerort sowie einen Geschäftsführer und Einspruchsrechte bekommen würde. Der Konzern könnte dann als Minderheitsaktionär formal keinen inhaltlichen Einfluss auf die Geschäftsführung ausüben." Das Wirtschafts- und Außenministerium sollen am Montag aber "noch einmal sehr deutlich betont [haben], dass sie auch einen Einstieg mit nur 24,9 Prozent nicht für eine gute Lösung halten".

Wer mit China solche Geschäfte machen will, sollte sich noch mal gut die Szenen von Hu Jintaos Demütigung beim Parteitag der chinesischen KP angucken, empfiehlt in der SZ Joachim Käppner. "Das kommunistische China unter Xi will erklärtermaßen zur dominierenden Weltmacht werden. Es zwingt einem verunsicherten Westen eine Konkurrenz der Gesellschaftssysteme auf, ob man dies dort akzeptieren will oder nicht. Das bedeutet nicht, dass man mit dem Land keinen Handel mehr treiben darf oder dieser Handel kein Weg friedlicher Kooperation mehr ist. Beides bleibt wichtig. Der Verkauf kritischer Infrastruktur an China dagegen, und dazu gehört der größte Hafen Deutschlands, wäre eine Torheit."
Archiv: Politik