9punkt - Die Debattenrundschau

Ein Rennen zu viel gelaufen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.10.2022. ZeitOnline blickt auf die Stadt Cherson, um die ein brutaler Nervenkrieg ausgebrochen ist.  Bevor die Tories Großbritannien noch tiefer in die Krise ziehen, sollten sie lieber schnellstens auf die Weide gebracht werden, rät in der NYTimes der Konservative George Oborne. Wahrer Konservatismus wäre eine Politik der Vorsicht, schreibt Gustav Seibt in der SZ. In der NZZ erkennt Manfred Schneider, dass sich der Wahn eines Despoten aus Hass, Narzissmus und Gewissheit speist. Der Tagesspiegel erkennt den großen Irrtum des chinesischen Chefideologen Wang Huning.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.10.2022 finden Sie hier

Europa

Auf ZeitOnline versucht Simone Brunner ruhig Blut zu bewahren angesichts der Vorgänge in und um Cherson, wo die russischen Besatzer mit Horrormeldungen die verbliebene ukrainische Bevölkerung zur Flucht antreiben: "Der Kampf um Cherson hat noch nicht begonnen, aber der Nervenkrieg um sie ist längst ausgebrochen. Cherson ist die einzige ukrainische Regionalhauptstadt, die die Russen seit dem 24. Februar unter ihre Kontrolle gebracht haben. Während das russische Propagandafernsehen dieser Tage Menschen auf der Flucht zeigte, die sich vor dem vermeintlichen Bombenhagel der Ukrainer in Sicherheit bringen wollten, wies der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj das als Propaganda zurück. Die ukrainischen Streitkräfte hätten keinerlei Pläne, Wohngebiete zu bombardieren. Selenskyj sprach wiederum von Hinweisen, die Russen hätten den Kachowka-Staudamm 80 Kilometer flussaufwärts vermint, um die ukrainische Gegenoffensive zu stoppen."

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Die Aufmerksamkeit der Medien richtet sich aber ganz auf das Politspektakel in Britannien, wo die Tories das Land immer tiefer mit in die Krise ziehen. Der Guardian sieht mit Grauen dem Spektakel entgegen, das mit einer Rückkehr Boris Johnsons einherginge: "Johnson ist nicht die Lösung für die Probleme der Tories, er ist ihre Hauptursache." In der FAZ kommentiert Gina Thomas recht drastisch: "Unfassbar, dass eine Partei in dem Wunsch, die eigene Haut doch noch zu retten, überhaupt erwägt, einen moralisch diskreditierten Wahlsieger zurückzuholen, der gerade erst durch den Rücktritt von mehr als fünfzig Ministern, Staatssekretären und anderen Regierungsmitgliedern aus dem Amt getrieben worden ist. Die Bibel liefert das passende Wort: 'Wie ein Hund, der zurückkehrt zu dem, was er erbrochen hat, / so ist ein Tor, der seine Dummheit wiederholt.'"

Die Größe der britischen Konservativen rührte seit Winston Churchill aus der Bereitschaft, das Land über die Partei zu stellen, seufzt der einst konservative britische Journalist George Oborne in der NYTimes. Heute ruinieren sie lieber das Land, als von der Macht zu lassen: "Oscar Wilde schrieb einst, dass der Verlust eines Elternteils als Unglück angesehen werden kann, aber beide zu verlieren, wirkt wie Leichtsinn. Dass die Tories innerhalb von drei Monaten zwei Premierminister verlieren, beweist mehr als Nachlässigkeit, nämlich dass sie außer Kontrolle geraten sind. Die Regierung hat bereits ihren vierten Finanzminister in diesem Jahr; einer von ihnen, Kwasi Kwarteng, hat das Pfund abstürzen lassen und den Ruf der Partei für gutes Finanzmanagement ruiniert. Wie die Republikaner in den Vereinigten Staaten sind die Konservativen von der Realität abgehoben. Innerhalb einer Generation sind sie zu einer Partei von Monomanen, Inkompetenten und Ideologen geworden. Wie ein Vollblut, das ein Rennen zu viel gelaufen ist, sollte es auf die Weide gebracht werden."

In der taz warnt Dominic Johnson vor kontinentaler Selbsgerechtigkeit gegenüber Großbritannien, Häme über Liz Truss sei völlig unangebracht, außenpolitisch habe sie vieles richtig gemacht: "Großbritannien war und ist in Europa führend bei der politischen und militärischen Unterstützung der Ukraine gegen die russische Aggression. Statt abstrakter Dauerdebatten über das Für und Wider von Waffenlieferungen und Verhandlungen arbeitet man in London an konkreten Herausforderungen. Johnson schmiedete Verteidigungsbündnisse mit den Nicht-Nato-Staaten Nordeuropas, während der Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands nach wie vor wegen des türkischen und ungarischen Widerstands auf Eis liegt."

Nicht nur das "Disunited Kingdom" erlebt die Implosion des Konservatismus, betont auch Kurt Kister in der SZ, auch wenn sie in London besonders spektakulär ausfalle: "Das Muster sieht so aus: Aus einer zunächst nur lautstarken rechten Minderheit innerhalb der Partei entwickelt sich ein mächtiger Flügel, der bald die Partei dominiert. Wertebewusster, konservativer Pragmatismus verliert an Boden, an seine Stelle tritt antagonistische Ideologie mit nationalistischen Ober- oder Untertönen... Vergleichbare Entwicklungen gibt es auch in Frankreich oder Italien. Dort allerdings haben die Rechten nicht die klassischen konservativen Parteien unterwandert oder übernommen. Der Rassemblement National, die Lega Nord oder die Fratelli d'Italia haben sie ersetzt."
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Ideen

Wahrer Konservatismus trauert um die verlorene Vergangenheit, aber er will die Zeit nicht zurückdrehen, höchstens ein wenig aufhalten, erklärt Gustav Seibt in der SZ. An idealisierte Ursprünge zurückkehren zu wollen, sei eher reaktionär: "Der Brexit war ein revolutionärer Akt im Namen einer idealisierten Vergangenheit. Er war ein Irrtum im Umgang mit historischer Zeit, weil er das Vorvergangene dem Vergangenen vorzog. Der Brexit hatte so von Anfang an einen ideologischen, unpraktischen, im Kern ahistorischen Zug, der ihn als eigentlich unkonservativ erscheinen lässt. Die Szenen, die sich seither in den nur scheinbar uralten Kulissen von Westminster abspielen, zeigen, wofür Konservativismus gut sein könnte: als Politik der Vorsicht und eines historischen Bewusstseins, das Kontinuität nicht in den vergoldeten Formen eines "Gothic Revival" begreift, sondern als Leben, das in der Zeit unvermeidlich weitergeht, auch wenn es sich nicht um Fortschritt handelt."

Der Bochumer Literaturwissenschaftler Manfred Schneider, Fachmann für paranoische Vernunft, blickt in der NZZ in die seelischen Abgründe von Despoten, in denen sich Hass und Narzissmus zu finsterem Wahn vermengen: "Was unterscheidet Diktatoren wie Cromwell, Robespierre, Napoleon, Stalin, Mussolini, Franco, Salazar, Hitler, Ghadhafi, Putin und ihre amerikanischen Äffchen von den vielen anderen Machtlüsternen? Sie sind skrupelloser, korrupter, wahrheitsresistenter und brutaler als ihre Rivalen, und es ist die Serie der Erfolge durch Lüge, Rücksichtslosigkeit und Gewalt, die ihren Größenwahn nährt. Nichts anderes ist Charisma, wonach die politische Welt so lechzt. Der Preis für den Erfolg sind allerdings die Schlaflosigkeit und die Angst vor den Rivalen. Denn niemand kennt die Seele des Tyrannenmörders besser als der Tyrann selbst. Er ist sein Ebenbild... Putin ist weder verrückt noch krank, noch von bösen Geistern besessen. Es ist viel schlimmer. Er ist überzeugt. Um noch einmal Nietzsche zu zitieren, der den feinsten Sinn für Irrtümer und Verirrungen hatte und bemerkte: 'Nicht der Zweifel, die Gewissheit ist das, was wahnsinnig macht.' Der Wahnsinn der Gewissheit hat nichts klinisch Pathologisches, er ist vielmehr die Krankheit des Ressentiments, das Diktatoren und Terroristen unserer Zeit zu Mordtaten treibt."

Die FAZ druckt zudem die Dankresede des Grünen-Politikers Cem Özdemir zur Verleihung des Leo-Baeck-Preises durch den Zentralrat der Juden in Deutschalnd: "Antiliberalismus und Antisemitismus gehen stets Hand in Hand. "
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Politik

Im Tagesspiegel findet der China-Kenner Alexander Görlach eine interessante Erklärung dafür, warum die chinesische KP das eigene Land spiegelverkehrt zu den USA als kapitalistisches System ohne individuelle Freiheit konzipiert hat: "In den Achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts machte sich ein Professor der Shanghaier Fudan Universität mit dem Namen Wang Huning in die USA auf, um das Land und sein politisches System besser kennen zu lernen. Seine Erfahrungen publizierte Wang Huning 1991 in dem Buch 'Amerika gegen Amerika'. Darin beschreibt er die ökonomische Ungleichheit in dem Land, die das soziale Gefüge der Gesellschaft zerstört habe, und gibt dem politischen System die Schuld. Sein Fazit: Die Volksrepublik dürfe sich niemals liberalisieren und demokratisieren. Wang Huning ist nicht irgendein Professor im Elfenbeinturm der Wissenschaft. Nach seiner Rückkehr wurde er von Jiang Zeming zum Chefideologen ernannt. Er diente ihm, seinem Nachfolger Hu Jintao und bis auf den heutigen Tag dem gegenwärtigen Machthaber Xi Jinping. Wang ist eines der sieben Mitglieder des Standing Committee des Politbüros der Volksrepublik China. Heute ist die Ungleichheit in China ähnlich groß wie in den USA. Doch Wangs Schlussfolgerungen aus seinem USA-Besuch waren falsch. Heute ist die Ungleichheit in der Volksrepublik vergleichbar groß wie in den USA, die Verteilung der Vermögen ebenfalls."
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