9punkt - Die Debattenrundschau

Die Vereinbarung mit dem Regime

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.10.2022. Die Iraner nennen ihre Kamikaze-Drohnen "Märtyrer", und die Russen setzen sie weiter in Kiew gegen die Zivilbevölkerung ein: Der Spiegel beschreibt das "Bündnis der Ausgestoßenen" Russland und Iran. Die New York Times lotet die Macht der iranischen Revolutionsgarden aus, von denen alles im Iran abhängt. In der Welt deckt  die freie Journalistin Gilda Sahebi die herzlichen Beziehungen von SPD und Ebert-Stifung zum Iran auf. Die SZ schildert, wie sich die demokratischen Parteien in Schweden immer mehr den Rechtspopulisten angeglichen haben. Charlie Hebdo bringt eine Rede von Mickaëlle Paty  zum zweiten Jahrestag des Mords an ihrem Bruder Samuel Paty.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.10.2022 finden Sie hier

Europa

Auch heute wieder beschießt Russland Wohngebiete und Infrastruktur in Kiew und anderen ukrainischen Städten mit iranischen Drohnen (mehr im Liveblog des Guardian, das heute quasi im Minutentakt berichtet). Eine Gruppe von Spiegel-Reportern schildern Iran und Russland als "Bündnis der Ausgestoßenen": "Iran verfügt über eines der größten Waffenlager im Nahen Osten.... Die Unterstützung aus Iran könnte Russland helfen, Verluste, die es in den vergangenen Monaten auf dem Schlachtfeld erlitten hat, zumindest teilweise wieder wettzumachen. Iranische Drohnen sollen laut ukrainischen Offiziellen bereits dazu beigetragen haben, dass ukrainische Panzer und zivile Infrastruktur zerstört wurden."

Die iranischen Kamikaze-Drohnen heißen "Shahed", "Märtyrer". Über den Drohnen-Krieg schreibt auch der Politologe Pierre Haski in seiner Kolumne bei France Inter: "Der Iran soll Hunderte von 'Shahed'-Drohnen an Russland geliefert haben, um eine Lücke im russischen Dispositiv zu beheben. Die Ukraine kaufte ihrerseits noch vor der russischen Invasion bewaffnete Drohnen aus türkischer Produktion, Bayraktars, benannt nach dem Hersteller, der niemand anderes als der Schwiegersohn des türkischen Präsidenten Erdogan ist. Die Ukraine erhielt auch amerikanische Switchblade-Kamikaze-Drohnen. Kiew hat diese Drohnen in klassischer Weise eingesetzt, um Panzer und Artilleriegeschütze zu zerstören. Der Einsatz der iranischen Drohnen im Himmel über Kiew, der einzig und allein dem Zweck dient, die Bevölkerung zu terrorisieren, stellt hingegen einen Bruch dar."

Twitter hat Experten für alles, auch für Drohnenkrieg. "Wie schießt man eine Shahed-136" vom Himmel, fragt der Verteidigungsexperte Marcel Plichta und zählt in einem Thread die ukrainischen Optionen auf.

Vor zwei Jahren hat ein Islamist den Lehrer Samuel Paty mit einem Messer enthauptet. Vor einigen Tagen wurde zum ersten Mal ein Preis zum Andenken an Paty vergeben, seine Schwester Mickaëlle Paty hielt aus diesem Anlass eine Rede, die bei Charlie Hebdo veröffentlicht ist. Sie erinnert an die Kurse, die er über die Charlie-Hebdo-Karikaturen gab. "Sein zweiter Kurs trät den Titel: 'Dilemma: Charlie sein oder nicht.' Drei Karikaturen, die den Propheten Mohammed darstellen, werden einige Sekunden lang gezeigt... In diesem Rahmen fragt er seine Klasse folgendermaßen: Soll man diese Karikaturen nicht veröffentlichen, um Gewalt zu vermeiden, oder soll man diese Karikaturen veröffentlichen, um die Freiheit zu leben? Eine Freiheit kann mit anderen Rechten oder dem Respekt gegenüber anderen Menschen in Konflikt geraten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Samuel nicht die Karikatur gelobt hat, sondern die Freiheit verteidigt hat, eine Karikatur zu zeichnen. Karikaturen können schockieren, sind aber nicht zum Töten gedacht. Es gibt keinen einzigen dokumentierten Fall, in dem jemand gestorben ist, weil er eine Karikatur vor Augen hatte."

Der Rechtspopulismus in Schweden ist nicht erst seit den jüngsten Wahlen stark. In den letzten drei Jahren haben sich die drei großen Parteien praktisch darin überboten, die Zahl der Asylbewerber einzuschränken und die Polizei zu stärken, schreibt ein über vom Wahlergebnis schwer enttäuschter Thomas Steinfeld in der SZ: "Im Wahlkampf nun war die Trennung aufgehoben: Im selben Maße, wie die alten Parteien das Wahlprogramm der Schwedendemokraten übernahmen, wurden diese zu einer halbwegs respektablen Partei. Die Mitte-rechts-Koalition, die nun seit dem vergangenen Wochenende die Regierung stellt, ist von einer aktiven Unterstützung durch die Schwedendemokraten abhängig. Um diese von der Regierung fernzuhalten, akzeptierten die nun regierenden Parteien ein Programm, das wesentlich von den Schwedendemokraten diktiert wurde. Eine Linke, die sich dagegen mit Argumenten gewehrt hätte, gab es nicht mehr, vor allem an den Hochschulen erschöpfte sie sich stattdessen in den bekannten Auseinandersetzungen um sexuelle Identität, Antirassismus und Antikolonialismus."

Im (kostenpflichtigen) Interview mit Zeit online erklärt der Ökonom Achim Wambach, warum es magisches Denken ist zu glauben, mit Ökostrom oder dem Verzicht auf Kurzflüge spare man CO2 ein. Da ist der Handel mit Emissionszertifikaten vor: "Das ist ganz einfach: Die EU hat die Menge an CO₂, die bestimmte Wirtschaftszweige ausstoßen dürfen, gesetzlich beschränkt. Das gilt auch für den innereuropäischen Flugverkehr. Damit eine Fluggesellschaft einen Teil dieser erlaubten Gesamtmenge verbrauchen darf, muss sie für jede Tonne CO₂, die sie ausstößt, ein Zertifikat kaufen. Die Mitgliedsstaaten geben diese Zertifikate aus, danach können sie frei gehandelt werden. Wenn nun Sie und einige andere Menschen nicht fliegen und deshalb ein Flug weniger gebraucht wird, benötigt die Airline weniger Zertifikate. Aber die verschwinden damit nicht aus der Welt. Jemand anderes wird sie kaufen. Die Menge an CO₂, die in die Umwelt kommt, bleibt deshalb am Ende gleich." Oder anders gesagt: Wenn hier gespart wird, kann irgendwo ein Kohlekraftwerk länger laufen. Sparen, so Wambach, nützt nur dort, wo der Emissionshandel noch nicht gilt: Bei interkontinentalen Flüge, beim Autoverkehr, Heizen und in der Landwirtschaft (Fleisch!).
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Politik

Der Iran ist kein Mullah-Regime mehr, sondern eines der Revolutionsgarden, die einst von Khomeini geschaffen wurden und die das Regime mit Zähnen und Klauen verteidigen, schreiben Ben Hubbard und Farnaz Fassihi in der New York Times. Experten sprächen davon, dass der Iran nicht mehr eine religiöse, sondern eine Miltärdiktatur sei. "Das Schicksal dieser Protestbewegung - der größten Herausforderung für das iranische Regierungssystem seit 2009 - hängt weitgehend vom Zusammenhalt und der Loyalität der Revolutionsgarden und der übrigen vielschichtigen Sicherheitskräfte des Landes ab. Diese Kräfte sind nach wie vor ein gewaltiges Hindernis auf dem Weg zum Sturz der strengen klerikalen Machthaber des Landes. Die Wächter sind von der nationalen Armee getrennt und arbeiten parallel zu ihr. Sie sind für den Schutz der iranischen Grenzen, des Obersten Führers und anderer hoher Beamter zuständig. Experten zufolge sind sie so tief in die iranische Wirtschaft und Machtstruktur verwoben, dass sie bei einem Sturz des Systems alles zu verlieren hätten." Frömmigkeit ist nciht ihre Hauptwaffe: "Sie besitzen Fabriken und Unternehmen sowie Tochtergesellschaften in den Bereichen Banken, Infrastruktur, Wohnungsbau, Fluggesellschaften, Tourismus und anderen Sektoren. Sie helfen Iran, die Sanktionen durch ein Netz von Schmuggelgeschäften zu umgehen."

Was ist los mit der SPD? Warum schweigt Olaf Scholz zu den Protesten im Iran, denen sich jetzt selbst die Ölarbeiter angeschlossen haben, fragt in der Welt die freie Journalistin Gilda Sahebi. Das hat allerdings Tradition, erkennt sie: Hochrangige SPD-Politiker reisten in den letzten Jahren immer wieder in den Iran, um die offiziellen Beziehungen zu pflegen. Und: "Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) schloss 2015 eine Kooperationsvereinbarung mit dem iranischen Institute for Political and International Studies (IPIS) ab, einer dem iranischen Außenministerium zugeordneten Denkfabrik. Der damalige FES-Vorsitzende Kurt Beck reiste 2015 nach Teheran, um Gespräche mit 'hochrangigen Vertretern aus Politik und Gesellschaft' zu führen. Von Treffen mit Menschenrechtsaktivisten oder Oppositionellen ist nichts bekannt. Die FES bestätigte auf Anfrage, dass diese Kooperationsvereinbarung, ursprünglich zunächst für zwei Jahre geschlossen, zuletzt 2020 für weitere vier Jahre verlängert wurde. Nur wenige Monate zuvor, Ende 2019, war es zu den bislang größten Protesten im Iran gekommen; innerhalb weniger Tage tötete das Regime nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen Hunderte Menschen, darunter viele Jugendliche. Dennoch verlängerte die Stiftung die Vereinbarung mit dem Regime."

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Gesellschaft

Vor fünf Jahren wurde "#MeToo", ursprünglich ein Twitter-Hashtag, der von der Schauspielerin Alyssa Milano im Kontext des Weinstein-Skandals erfunden wurde, zu einer globalen Bewegung, die die Welt verändert hat, schreibt Simone Schmollack in der taz: "Dieses Phänomen wäre ohne soziale Netzwerke, die oft zu Recht auch unsoziale Netzwerke genannt werden, nicht möglich gewesen. Durch die Schnelligkeit und die Möglichkeit, über Twitter, Facebook, Instagram an jedem Winkel der Erde jederzeit Betroffene zu erreichen, ist die Welt um eine wichtige Debatte reicher. Und natürlich durch Milanos scheinbar schlichte Aufforderung: Schreibe einfach MeToo."

Die Psychologin Pia Lamberty und die Publizistin Katharina Nocun haben gemeinsam das Buch "Gefährlicher Glaube - Die radikale Gedankenwelt der Esoterik" herausgebracht. Carolina Schwarz unterhält sich mit ihnen für die taz über die gefährlichen Irrlehren der Esoterik.Lamberty sagt: "Schon immer steckte in esoterischen Welten auch völkisches Gedankengut. Die dort weitverbreitete Fortschrittsfeindlichkeit und Antimoderne ist häufig ein Einfallstor für Antisemitismus. Teilweise geht das so weit, dass Juden und Jüdinnen die Schuld an der Shoah gegeben wird. Ein Problem ist, dass Esoterik sich als apolitisch versteht und die Menschenverachtung so von vielen übersehen wird."
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