9punkt - Die Debattenrundschau

Die Caritas bedauert

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.10.2022. Stellen Sie sich vor, es ist Krieg und alle laufen weg, sagt die belarussische Exiipolitikerin Swetlana Tichanowskaja bei politico.eu - sie glaubt nicht an einen belarussischen Einsatz in der Ukraine. Die AfD hätte auch gern was ab von dem schönen Staatsgeld, mit dem die anderen Parteien ihre "nahen Stiftungen" versorgen - der SZ graut davor. Jair Bolsonaro hat durchaus auch eine Basis bei den Armen und den Schwarzen in Brasilien, fürchtet die Historikerin Lilia Moritz Schwarcz im Spiegel.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.10.2022 finden Sie hier

Europa

Die belarussische Exilpolitikerin Swetlana Tichanowskaja schildert Belarus im Gespräch mit Zoya Sheftalovich von politico.eu als einen Wackelkandidaten aus Putins Sicht: "Ich bin sicher, dass Lukaschenko der belarussischen Armee den Befehl geben würde, sich an dieser Invasion zu beteiligen - wenn er sicher wäre, dass sie kämpfen würde. Stellen Sie sich die Situation vor, wenn er diesen Befehl geben würde, die belarussische Armee über geht über die Grenze, und die Soldaten wechseln die Seite, desertieren, verstecken sich, weil sie eigentlich nicht gegen die Ukrainer kämpfen wollen. Stellen Sie sich nur sein Ansehen bei Putin, beim Kreml vor - das wäre ein epischer Fehlschlag."

Die parteinahen Stiftungen von SPD, CDU/CSU, FDP, Grünen und Linken erhielten zuletzt etwa 660 Millionen Euro jährlich, die AfD will natürlich auch was ab, deshalb verhandelt das Bundesverfassungsgericht am 25. Oktober die Klage der Partei. 70 Millionen Euro könnte es für die Desiderius-Erasmus-Stiftung geben und dem Historiker Norbert Frei wird in der SZ ganz anders: "Sollten den Rechten künftig Stipendienmittel etwa in dem Umfang zur Verfügung gestellt werden müssen, wie ihn derzeit die Rosa-Luxemburg-Stiftung bewirtschaftet, dann würde das bedeuten, dass schon bald regelmäßig mehr als tausend junge Menschen gefördert werden, die sich den 'Werten' der AfD verpflichtet fühlen. Das Ganze erscheint demokratiepolitisch noch betrüblicher, wenn man weiß, mit welcher Intensität sich die insgesamt 13 bundesfinanzierten Begabteneinrichtungen um ihre Schützlinge kümmern. Denn keineswegs geht es allein um deren Unterhalt. Die fürsorgliche Belagerung erstreckt sich darüber hinaus auf eine Vielzahl von Seminar- und Qualifizierungsangeboten - bis hin zu gewiss gut gemeinten, im Grunde aber übergriffigen Kontrollaktivitäten, zum Teil hinter dem Rücken der tatsächlich Verantwortlichen."

Angela Merkel sägt weiterhin ganz allein an ihrem Denkmal:

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Politik

Jair Bolsonaro hat in der ersten Runde der brasilianischen Präsidentschaftswahlen überraschend stark abgeschnitten. "Die Evangelikalen sind seine treuesten Unterstützer," sagt die brasilianische Historikerin und Anthropologin Lilia Moritz Schwarcz im Interview mit Nicola Abé vom Spiegel. Auch bei ärmeren Wählern, und auch bei Schwarzen, die in der Regel für Lula stimmen, hat Bolsonaro trotz allem eine Basis: "Schwarze, evangelikale Menschen stimmen für Bolsonaro. Die evangelikalen Kirchen sind sehr stark in Brasilien, sie überzeugen die Menschen und schüchtern sie ein. Hinzu kommen arme Menschen, die auf Plantagen für Großgrundbesitzer arbeiten: Sie werden schlicht gezwungen, Bolsonaro zu wählen. Und dann gibt es natürlich auch arme, schwarze Wähler, die von Bolsonaro völlig überzeugt sind. Er hat Charisma - und er ist ein digitaler Populist. Seine Leute, aber auch die evangelikalen Kirchen, überschwemmen die Menschen mit Falschnachrichten: Dass Lula den hart arbeitenden Menschen ihr Geld wegnehmen wolle, dass er die Kirchen schließen würde."
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Stichwörter: Brasilien, Bolsonaro, Jair

Medien

Nach Prozessen gegen die "Tagesschau"-App und das Online-Angebot des RBB klagen 16 Zeitungsverlage nun gegen die SWR-App "Newszone", meldet Wolfgang Janisch auf den Medienseiten der SZ. Bitter für die Öffentlich-Rechtlichen, denn auch sie sehen ihre Zukunft im Internet, meint Janisch. Und der vage gehaltene Medienstaatsvertrag, der festhält, dass Telemedienangebote nicht presseähnlich sein dürfen, macht es nicht einfacher: "Das ist - Stichwort Online-Journalismus - ein Abgrenzungsversuch, der mehr Probleme schafft, als er löst. Denn was 'presseähnlich' ist, weiß heute wahrscheinlich nicht einmal mehr die Presse selbst, weil die Verlage sich vom Denken in Papierkategorien gerade verabschieden. Zeitungsnachrichten halten auf der Website im Geschwindigkeitswettbewerb längst Schritt mit dem einst uneinholbaren Rundfunk, modernes Storytelling verbaut Fotostrecken und bewegte Bilder, Kommentare werden auch mal in Kameras gesprochen, und ein bisschen Radio macht die Presse im Zeitalter des Podcasts ebenfalls. Wer Onlinejournalismus betreibt, handelt beinahe unausweichlich 'presseähnlich'. Wie soll da ein Gericht mit dem Gutenberg'schen Begriff Grenzen ziehen?"
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Ideen

In der Welt verteidigt der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller den Intellektuellen, der sich öffentlich einmischt. Aber er muss eben auch Kritik einstecken können, etwa wenn "in einem intellektuellen Urteil Expertenwissen einfach souverän ignoriert wird - wie für viele Auslassungen zum Ukraine-Krieg typisch": "Bekanntlich haben behaglich privilegierte Intellektuelle sich angewöhnt, Widerspruch, den sie bisher nicht gewohnt waren, als Angriff auf die Redefreiheit und zudem auf die eigene Person zu deklarieren. Häufig ist man zwar gegen Identitätspolitik, streicht aber gern die Prämie auf den selbst deklarierten Opferstatus durch Personalisierung ein. Wenn Personalisierung schon darin besteht, dass jemand etwas persönlich nimmt, kann man sich Kritik bequem verbitten."

Von der Einmischung von Elon Musk in den Krieg in der Ukraine hält Nils Markwardt bei Zeit Online (hinter einer Paywall) hingegen nichts: Seit Musk "das von SpaceX betriebene Satellitennetzwerk Starlink zur Verfügung gestellt hatte, das für die ukrainischen Truppen offenbar eine zentrale Rolle bei ihrer Kommunikation auf dem Schlachtfeld spielt, avancierte Musk in dem Land zu einer Art Volksheld. (…) Doch sollte das eben nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich dadurch auch eine Art Kalifornisierung des Krieges vollzieht, in der ein Silicon-Valley-Unternehmer über eine derart wichtige Infrastruktur verfügt, dass er sich im Zuge internationaler Krisen als Weltenretter aufspielen kann. Sollten hyperselbstbewusste Tech-Enterpreneure geopolitische Konflikte noch öfter als Möglichkeit der genialischen Selbstverwirklichung begreifen und dabei gleichermaßen auf diplomatisches Feingefühl und tatsächliche Expertise pfeifen, dürfte der bestenfalls naive 'Friedensplan' Musks nur der Anfang gewesen sein."
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Gesellschaft

Die Exiliranerin Monireh Kazemi bekennt bei hpd.de ihre Überraschung, nicht nur über das Ausmaß der Proteste im Iran, sondern auch über die Solidarität hierzulande. Selbst Grüne oder Linke, von denen sie sich bisher als "Islamophobe" behandelt fühlte, unterstützen die Proteste im Iran! "Ich gehe dieser Tage zu den Demos und Kundgebungen. Alles überrascht mich. Nicht nur, dass die Linke und die Grünen dabei sind, sondern auch viele Iranerinnen und Iraner, die bislang wegen geplanter Iranreisen und Familien in ihrem Geburtsland immer vorsichtig gewesen sind. Viele Menschen fühlen sich von der Brutalität der Islamischen Republik betroffen und erscheinen in großen Mengen auf den Straßen. Und es sind nicht nur Iranerinnen und Iraner oder Kurden, nein, es kommen auch Deutsche, Afghanen und sogar Ukrainer."

Ebenfalls bei hpd.de findet sich ein hilfreicher Grundsatztext der Organisation "Terre des Femmes" zur Klärung der Begriffe "Femizid", "Feminizid" und Ehrenmord", die tatsächlich alle trotz der gleichen frauenfeindlichen Dimension in unterschiedlichen Kontexten stehen. Besonders umstritten sei der Begriff des Ehrenmords, auch weil er in diskriminierende Absicht benutzt werde. Dennoch trage er bei, "sich über die Spezifika der geschlechtsspezifischen Gewalt mit einem vermeintlichen Ehrkontext bewusst zu sein. Alle Stellen, die mit (potenziell) bedrohten oder betroffenen Personen in Kontakt geraten können, müssen über die besondere Gefährdungslage informiert sein. Denn nur so kann aus unserer Sicht gewährleistet sein, dass gefährdete Personen frühzeitig identifiziert und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln geschützt werden. Denn die Gefahr geht bei Ehrverbrechen nicht "nur" von einem (potenziellen) Täter aus, sondern zumeist von einem (Familien-)Kollektiv an Personen."

Francis Fukuyama setzt seine Promotiontour für sein aktuelles Buch "Der Liberalismus und seine Feinde" in der Welt fort, im Interview mit Mladen Gladic erläutert er, weshalb die USA für "nicht sehr rassistisch" hält ("in Harvard, Yale, Stanford steht der Anteil an asiatischen Studenten in keinem Verhältnis zu ihrem Anteil an der Bevölkerung") und warum er das meritokratische Prinzip ablehnt: "In den meisten öffentlichen Schulsystemen der USA gab es spezielle Schulen für begabte Kinder. Und man musste eine Prüfung ablegen, um aufgenommen zu werden. Vor allem nach den Black-Lives-Matter-Unruhen wurden viele Programme abgeschafft, mit der Begründung, dass sie Schwarze diskriminieren, denn bei den standardisierten Aufnahmeprüfungen schneiden sie nicht gut ab. Ich halte das für problematisch, denn standartisierte Tests sind ein wichtiges Mittel, um Fähigkeiten zu messen. Nebenbei bemerkt, hat das eine starke politische Gegenreaktion hervorgerufen."

Sollte man BDS-Unterstützer wie Annie Ernaux oder Roger Waters boykottieren? Nein, meint Harry Nutt in der FR, findet aber eine andere Frage auch bedeutsamer: "Warum eigentlich wird nicht leidenschaftlich darüber debattiert, wie solch eine Haltung sich in zahlreichen Institutionen des deutschen Kulturbetriebs bis in die Leitung hinein etablieren konnte, wo doch in beinahe jeder Eröffnungsrede, von was auch immer, Dialog und demokratische Strukturen hochgehalten werden?"

"Laut einer Recherche von Correctiv.Lokal und der Initiative "FragDenStaat" gaben nur 57 Prozent der öffentlichen deutschen Krankenhäuser mit gynäkologischer Abteilung an, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen", schreiben Anastasia Trenkler und Marvin Wenzel im Tagesspiegel+. "Das gilt für die medizinische und kriminologische Indikation. Nach der Beratungsregel sind es weniger als 40 Prozent. In Bayern ist die Situation besonders düster. Dort gaben neun von 83 öffentlichen Kliniken an, ein solches Angebot zu haben, so die Rechercheergebnisse. Bei katholischen Einrichtungen werden Schwangerschaftsabbrüche nur im äußersten Notfall durchgeführt. Etwa zur Rettung des Lebens der Mutter. Aus dem christlichen Selbstverständnis resultiert auch, dass die Caritas-Beratungsstellen seit dem Jahr 2000 bei der Schwangerschaftskonfliktberatung keine Beratungsscheine mehr ausstellen dürfen. Auch die Streichung von Paragraf 219a, der es Mediziner bis vor kurzem strafrechtlich verbot, über das Durchführen von Schwangerschaftsabbrüchen zu informieren, bedauerte die Caritas."
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