9punkt - Die Debattenrundschau

Ihr habt uns nicht wirklich vermisst

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.09.2022. Frieden ist nicht das allergrößte Ziel erklärt die estnische Premierministerin Kaja Kallas in der Zeit den Westeuropäern, die es nach dem Zweiten Weltkrieg so schön gemütlich hatten im Frieden. Um heutige Identitätsdebatten zu entkrampfen, empfiehlt die FR mit dem Soziologen Jean-Claude Kaufmann, mehr auf die eigene fluide Identität und ihre Launen zu setzen. Und Business Insider fragt: Wie viele Familienmitglieder von NDR-Direktorin Sabine Rossbach haben eigentlich für den NDR gearbeitet?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.09.2022 finden Sie hier

Europa

Im Interview mit der Zeit fordert die estnische Premierministerin Kaja Kallas die westlichen EU-Länder auf, endlich einmal auf die Osteuropäer zu hören und die Russen mit allen militärischen, politischen und wirtschaftlichen Mitteln in ihrem Krieg gegen die Ukraine zu stoppen. Die Osteuropäer, nicht der Westen haben ihre Erfahrungen mit russischer Politik machen müssen: "Warum sehen die Regierungschefs der großen Länder Frieden als das allergrößte Ziel? Weil ihre Länder nach dem Zweiten Weltkrieg in Freiheit mit dem Wiederaufbau beginnen konnten. Aber für die von den Sowjets besetzten Ländern hieß Frieden: Deportation, Unterdrückung unserer Kultur, Verstaatlichung von Privateigentum. Mir scheint, als hätte der Westen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht sehen oder hören wollen, was bei uns geschah. Das war sehr bequem, ihr habt uns nicht wirklich vermisst. Olaf Scholz hat das gerade in Prag in seiner Rede anerkannt. Jetzt öffnen wir vielleicht auch eure Augen für die Verbrechen, die geschehen."

Im Interview mit der Berliner Zeitung analysiert der ukrainische Philosoph Wolodymyr Jermolenko  die russische Propaganda über die Ukraine und erklärt, warum sie so erfolgreich ist im "globalen Süden": "Russland polarisiert und stilisiert sich zu einem Antiimperium. Sie stellen den Westen als gierig und blutdürstig dar. In vielen Ländern verfängt das auch, wegen deren eigener Geschichte. Und sie stellen sich sogar als Beschützer des Islams dar, was in Ländern wie Indonesien gut funktioniert. Russland nutzt in diesem Kontext sogar die eigene Brutalität geschickt dafür aus. Denn jede brutale Gewalttat der Russen provoziert eine Reaktion des Westens darauf. Diese Reaktion münzt Russland um in ein: 'Schaut her, die mögen uns sowieso nicht.' Sie wollen die Führungsmacht des Antiwestens und des globalen Südens sein. Und genau hier ist es paradox, denn Russland will sich als antiimperialistisch stilisieren, dabei sind sie selbst eines der grausamsten Imperien in der Geschichte. Mittlerweile ist Russland sogar das einzige Imperium, das es noch in Europa gibt."

Die in Berlin lebende russische Autorin Irina Rastorgujewa versteht die Wut auf die Russen, die mehrheitlich Putin unterstützten. Aber es gibt auch viele andere, erinnert sie in der FAZ: "Nur wer nicht mehr die Kraft hat zu schweigen, geht auf die Straße. Doch das ist eher ein Akt der Selbstopferung. Es gibt nicht mehr viele, die das Land verlassen können, weil sie gegen das Regime sind; die Leute haben kein Geld, keine Optionen." Doch wenn sie helfen, sei das auch nicht recht. "Meine Bekannte, die Theaterkritikerin Dascha in Sankt Petersburg, kann Russland nicht verlassen; sie hilft ukrainischen Flüchtlingen in Russland. Ihre Freunde in der Ukraine beschuldigten sie, dadurch legitimiere sie die Aktionen der russischen Faschisten (denn es gibt auch propagandistisch ausgeschlachtete Hilfsaktionen des russischen Staates)."

Es wurde viel spekuliert, ob der Rassismus in England es zulassen würde, dass Rishi Sunak Premierminister werden könnte. Er wurde es nicht, aber Rassismus kann man der neuen Regierung unter Liz Truss wirklich nicht vorwerfen, meint in der FAZ Gina Thomas: "Zum ersten Mal in der britischen Geschichte hat kein einziger weißer Mann eines der vier wichtigsten Regierungsämter inne. Truss ist die dritte Frau an der Spitze der Konservativen Partei und Premierministerin, die Ministerien für Äußeres, Inneres und Finanzen sind mit Nachfahren farbiger Zuwanderer besetzt. Noch nie war die ethnische Zusammensetzung des Kabinetts so vielfältig wie jetzt. Das steht im Einklang mit dem Spektrum jener elf Kandidaten, die sich anfangs um die Nachfolge Boris Johnsons bewarben: Mehr als die Hälfte von ihnen war asiatischer oder afrikanischer Abstammung."
Archiv: Europa

Ideen

Um heutige Identitätsdebatten zu entkrampfen, empfiehlt Harry Nutt in der FR ein Buch des französischen Soziologen Jean-Claude Kaufmann: "Wenn Ich ein anderer ist". Laut Kaufmann ist Identität etwas offenes, fluides. "Aus der Laune des Augenblicks, legt Kaufmann nahe, können Einstellungsveränderungen hervorgehen, die ganz elementar zu etwas beitragen, was heute unter kategorialen Begriffen wie Selbstbestimmung und Identität verhandelt und oft auch politisiert wird. Wenn man das von Kaufmann beschriebene Phänomen der Identität, das er in seiner schönen und manchmal auch nicht so schönen Vielfältigkeit und Variabilität zeigt, mit den Haltungen vergleicht, die immer wieder in intensiv diskutierten Identitätskämpfen aufeinanderprallen, so fällt auf, wie sehr ein an sich fluides und im Wandel befindliches Ich in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen auf Festlegungen zusteuert und nicht selten auch bugsiert wird. Angesichts seines unentwegten Bemühens, Herr oder Frau im eigenen Haus zu bleiben, wird das Ich damit konfrontiert, wie viele Türen, Fenster, Anbauten und Dachkammern es hat."
Archiv: Ideen

Kulturpolitik

Die Zeit erscheint heute mit einer Museumsbeilage (mehr in Efeu). Den Auftakt macht Ijoma Mangold, der in einem Text, den die Zeit mit zehn Minuten Lesezeit angibt, noch einmal die ganze Debatte um die Benin-Bronzen (Unsere Resümees), die ab dem 17. September im Humboldt-Forum zu sehen sein werden, nachzeichnet. Der Krieg in der Ukraine war offenbar ein "unfreiwilliger Beschleuniger" für die Rückgabe, meint er: "Plötzlich wird Nigeria furchtbar interessant wegen seiner Öl- und Gasvorkommen." Mangold resümiert: "Das postkoloniale Denken ist offenbar immer dort fruchtbar und befreiend, wo es Komplexität erhöht. In der Praxis erweist es sich leider viel zu oft als auftrumpfender, erkenntnisblinder Moralismus, für den nur und ausschließlich Weiße als Täter gelten. Dafür musste vieles ausgeblendet werden, was für die historische Rekonstruktion unerlässlich ist: vor allem die vielfachen Kooperations- und Komplizenverhältnisse oder der schon bestehende Sklavenhandel Westafrikas, auf den der transatlantische dann so bequem aufsetzen konnte."
Archiv: Kulturpolitik

Medien

Der Wirtschaftsteil der Zeit eröffnet mit einem anderthalbseitigen Interview, in dem Patricia Schlesinger, in glamouröses Licht getaucht dem Leser entgegenblickend, alle Vorwürfe von sich weist. Man wolle ihr nur schaden: "Menschen haben offenbar gezielt über Wochen und Monate Sachen gesammelt, die sie gegen mich verwenden wollten. Nach dem Motto, die kriegen wir da weg. Und ich habe es nicht bemerkt."

Laut einem Bericht von Business Insider wirft ein Rechercheteam des NDR jetzt der NDR-Direktorin Sabine Rossbach vor, sie habe jahrelang reichlich Beiträge der PR-Firma ihrer Tochter Anna Hesse ins Programm gespeist. "Die Recherchen des NDR-Teams ergeben außerdem, dass Rossbach gegenüber ihren Mitarbeitern nie einen Interessenskonflikt aufgrund der Arbeit ihrer Tochter offengelegt habe. Dabei könnte es sich hier sogar um einen Verstoß gegen die NDR-Compliance-Regeln handeln, wie es heißt. Seit Kurzem prüft der NDR intern, ob ein Verstoß vorliegt. Auf Anfrage des Recherche-Teams, warum nicht schon vor Jahren eine Untersuchung stattgefunden habe, erhielten sie vom NDR keine Antwort. ... Auch der Ehemann der Funkhauschefin, Dieter Petereit, wurde vom Sender mit einem üppigen Beratervertrag versehen. Rossbachs zweite Tochter erhielt vor einigen Jahren bei NDR Kultur eine seltene Festanstellung."
Archiv: Medien