9punkt - Die Debattenrundschau

Dieser Rückfall ins 19. Jahrhundert

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.08.2022. In der NZZ erklärt die Slawistin Annette Werberger, warum die postkoloniale Rhetorik für Wladimir Putin so praktisch ist. In commonsense.news fragt Avital Chizhik-Goldschmidt, warum Putin jahrelang sein Image als oberster Philosemit pflegte und jetzt nicht mehr. In der taz annonciert der Moskauer Soziologe Greg Judin einen Bürgerkrieg in Russland. Ebenfalls in der taz fragt die Medienkolumnistin Silke Burmester zur Affäre um die RBB-Intendantin Patricia Schlesinger nicht: Was ist da Los? Sondern: Wem nützt es? Und nochmal in der taz beklagt sich Ilija Trojanow bitter über die Kritik am Emma-Brief .
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.08.2022 finden Sie hier

Europa

Wladimir Putin befleißigt sich in seinen häufiger gewordenen Reisen zu afrikanischen Autokraten (anderswo ist er nicht mehr willkommen) einer postkolonialen Rhetorik, mit der er den "globalen Süden" an sich binden und vom kolonialen Charakter seines Kriegs gegen die Ukraine ablenken will. Damit verfolgt Putin ein klares Ziel, schreibt die Slawistin Annette Werberger in der NZZ: "Die russische Regierung befördert diese Denkakrobatik, weil sie durch diese sowohl alte linke als auch neue rechte Kräfte an sich binden kann. Die einen folgen aus ideologischer Gewohnheit und altem Ressentiment, die anderen bewundern die neue rabiate nationalistische Politik. Der Putinismus gibt sich somit internationalistisch und nationalistisch zugleich, und er kann seine politische Taktik schnell anpassen."

Putin hat in den letzten Jahrzehnten auch eine prononciert proisraelische Politik geführt. Dieses Bündnis hat Risse bekommen, einerseits wegen antisemitischer Äußerungen, etwa von Putins Außenminister Sergej Lawrow oder seinen Megafonen im Staatsfernsehen. Putin hat außerdem die Jewish Agency in Russland geschlossen, eine NGO, die Tausenden von Juden in der ganzen Welt die Einwanderung nach Israel erleichterte. Im Kontext des Krieges sind inzwischen mehr Juden aus Russland als aus der Ukraine nach Israel gegangen, schreibt Avital Chizhik-Goldschmidt in Bari Weiss' Blog commonsense.news. "Zwei Jahrzehnte lang hat der russische Präsident sein Image als oberster Philosemit gepflegt. Man kann über Wladimir Putin sagen, was man will, er war angeblich der beste russische Führer, den die Juden je hatten. Dafür gab es einen Grund: Solange man die Juden in seiner Ecke hatte, konnte man kein Faschist sein. Und Antifaschist zu sein, war ein zentraler Bestandteil der Geschichte, die die Sowjets und jetzt auch die Russen über sich selbst erzählen. (Fragen Sie einfach jeden, der den Tag des Sieges in Moskau verbracht hat.) Es verdeckte Russlands eigene, dunklere, faschistische Impulse - die wir jetzt in der Ukraine beobachten können."

In der taz beklagt sich Ilija Trojanow bitter über die Kritik am Emma-Brief (unser Resümee), den er ebenfalls unterzeichnet hatte. "Fast keine der unzähligen Reaktionen ging ernsthaft auf die Argumente ein. Stattdessen falsche Wiedergabe, emotionalisierte Hetze und deftige Diffamierung. Die meisten Artikel fassten den offenen Brief nicht einmal wahrheitsgemäß zusammen, sondern verfälschten ihn zu einer Karikatur. ... Die Absicht des Meinungsgegners muss per se verwerflich sein. Weswegen niedere Motive unterstellt werden, die von Feigheit bis hin zu Eitelkeit reichen (zum Beispiel es handele sich um Leute, die alles von sich geben, nur um in die Talkshows eingeladen zu werden). Polemik ist das bevorzugte Mittel derjenigen, die nicht debattieren wollen. Sie ist inhärent amoralisch. Wer polemisiert, weiß sich ohne Zweifel im Recht. Die ethische Haltung hingegen ist eine der kontinuierlichen Überprüfungen der eigenen Kenntnisse und Erkenntnisse." Das hätte dann allerdings eine echte Auseinandersetzung mit der Kritik bedeutet, statt ihr polemisch Diffamierung zu unterstellen.

Im Interview mit der taz erklärt der Moskauer Soziologe Greg Judin, warum er in Russland einen neuen Faschismus heraufziehen sieht und welchen Anteil das "globale Kapital" an dieser Entwicklung hat. Er prophezeit einen Bürgerkrieg in Russland: "Zwischen ultrareaktionären imperialen Kräften, die das Land ins 19. Jahrhundert zurückführen wollen, und sogenannten republikanischen Kräften, die zum Beispiel Nawalny verkörpert. Diesen Konflikt sehen wir im gesamten postsowjetischen Raum, auch in der Ukraine. Dort gibt es ebenfalls Leute, vor allem im Osten, die zu einem Imperium zurück wollen. Sie sind jetzt weniger geworden, doch es gibt sie. Doch darüber wird nicht gerne geredet. Auch in Belarus gibt es dieses Phänomen, dort ist es jedoch einfacher. Ein ultrasowjetischer Präsident und eine republikanische Nation, die vor allem Gruppen junger Leute tragen. Was Russland angeht, fehlt mir die Vorstellungskraft, ob es zu diesem Rückfall ins 19. Jahrhundert wirklich kommt. Doch wir sehen bereits, dass dieses Projekt darauf gründet, so viele Menschen wie möglich umzubringen. Alle diejenigen, die das Regime als seine Gegner ansieht. Welche Form dieser Konflikt annehmen wird, weiß ich nicht. Vielleicht Terror, ein Bürgerkrieg oder eine Revolution. Viel wird davon abhängen, wie der Krieg gegen die Ukraine endet."

Viel retweetet wird Tom Mutchs Artikel für Byline Times über den umstrittenen Ukraine-Report von Amnesty International. Mutch erzählt, dass er die Amnesty-Funktionärinnen schon beim Zustandekommen warnte. Und er bleibt bei seiner Meinung: "Ich glaube, der Versuch von Amnesty International, objektiv zu sein, hat zu einer schädlichen falschen Äquivalenz geführt, die den Angreifer mit dem Angegriffenen und den Aggressor mit dem Opfer gleichsetzt. Wann immer russische Soldaten wahllos ukrainische Zivilisten angreifen, werden sie sich von nun an auf Amnesty International berufen, um ihr Vorgehen zu verteidigen."
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Geschichte

"Historisch gesehen ist vor einigen Tagen im Grunewald ein Stück altes Westberlin explodiert." So erklärt Lothar Müller in der SZ im Rahmen einer kleinen Geschichte des Grunewalds, warum mitten in einem Berliner Naherholungsgebiet Bomben lagern, die dort vor einigen Tagen den Wald in Brand setzten: "Dicht verschweißt waren hier die Hinterlassenschaften des Zweiten Weltkriegs mit der insulären Lage, mit der Unzugänglichkeit des Umlands. Nur im größten Waldgebiet ließen sich Weltkriegsbomben, Granaten, Munition und beschlagnahmte Feuerwerkskörper weit genug von Wohngebieten sammeln, lagern und kontrolliert sprengen. Die politische Diskussion zwischen den Regierungen in Berlin und Brandenburg fasst nun die Zukunft ins Auge und diskutiert wieder einmal die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Verlagerung des Sprengplatzes ins Umland."
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Stichwörter: Grunewald, Westberlin

Gesellschaft

Warum sind in den Debatten über Schwangerschaftsabbrüche eigentlich fast nie Männer zu hören (außer die fundamentalistischen, versteht sich)? Klar, ihr Bauch gehört ihr, da haben viele vielleicht Angst, sie könnten als bevormundend rüberkommen. Aber das muss ja nicht sein, ermuntert die Sozialarbeiterin Wibke Charlotte Gneuß im Zeit-Blog "10 nach 8" werdende Väter: "Ich stelle mir dann beispielsweise vor, wie sich hinter eine der vielen prominenten Frauen, die gegen das Tabu anschreibend über ihren eigenen Schwangerschaftsabbruch berichten, ein Partner stellt und öffentlich bekennt: Ja, WIR haben beim Sex nicht aufgepasst. (Darum geht es nämlich: Verhütet, ihr Süßen, verhütet!). Ich stelle mir einen Mann vor, der seine Frau weder beim Outing noch im Shitstorm alleine lässt. Oder einen, der beschreibt, wie erleichtert er war, dass er mit 16 nicht die Schule und mit 26 nicht das Juraexamen abbrechen musste, weil er zwischendurch zu früh gekommen ist. Last but not least haben doch auch Männer ein Recht, über ihre - bestimmt mitunter - konfliktreichen Erfahrungen mit ungewollten Schwangerschaften und Schwangerschaftsabbrüchen zu sprechen."

Die Schriftstellerin Mirna Funk kann das Jammern über den "Gender Pay Gap" nicht mehr hören. Im Osten gibt's den kaum noch, aber dort gibt's ja auch keinen "westdeutschen Privilegsfeminismus", spottet sie auf Spon. "Dieser behauptet, dass Kinder und Beruf nicht vereinbar wären. Dass Frauen nur in Teilzeit arbeiten könnten oder automatisch die Rolle der Hausfrau übernehmen müssten. Dabei wird weder reflektiert, dass hier aus einer Wohlstandsposition heraus argumentiert wird, bei der offensichtlich auf ein Gehalt verzichtet werden kann, noch, dass ein Drittel dieses Landes völlig irritiert der Debatte beiwohnt, weil bei ihnen Vereinbarkeit seit mindestens drei Generationen gelebt wird. ... Trotzdem sagt ein nicht zu unterschätzender Teil der Frauen dieses Landes weiterhin: Wir haben hier diese ganze Care-Arbeit und Schatzi lässt mich damit allein und deswegen kann ich nicht arbeiten gehen, obwohl ich eigentlich möchte. Und ich frage mich nun, ob diese am Alltagsgeschehen nicht teilnehmenden Männer vorher die tollsten Superdudes waren und dann zu fiesen Ekeln mutierten...?"
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Medien

Die bekannte ehemalige Medienkolumnistin der taz Silke Burmester liefert den geradezu idealtypischen Kommentar zur Patricia-Schlesinger-Affäre. Sie fragt nicht: Wofür ist das prunkvolle Gebaren der Intendantin eigentlich Ausdruck, wenn sie gleichzeitig strenge Sparbeschlüsse für freie Journalisten verantwortet? Sondern konstatiert: "Eine bessere Vorlage hätte man den Zersetzern der Demokratie, den Kritiker*innen des öffentlich-rechtlichen Systems, denen, die es anfeinden und abschaffen wollen und die in 'denen da oben' ein grundsätzliches Problem ausmachen, nicht erweisen können." Erik Peter und Sean-Elias Ansa berichten für die taz.

In der FAZ spricht sich Heike Schmoll glasklar gegen das Gendern in den Öffentlich-Rechtlichen aus, das dort inzwischen fast zur Norm geworden sei, obwohl es von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird: "Auch wenn die Sender nicht offiziell zur Verwendung der Genderformen aufgerufen haben, so gibt es Handreichungen, wie gegendert werden kann. In den Redaktionen ist ein enormer Gruppendruck entstanden. Wer nicht gendert, wird von Kollegen angesprochen und muss sich rechtfertigen. Dabei werden die Genderformen mit Kunstpause, Doppelpunkt oder Asterisk von mehr als drei Viertel der Medienkonsumenten abgelehnt. Eine kleine Minderheit nutzt jedoch den Einfluss der durch Zwangsrundfunkgebühren jedes Bürgers finanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehsender, um ihre Sprachauffassung durchzusetzen. Die Sprachgemeinschaft erziehen zu wollen ist eine Anmaßung der öffentlich-rechtlichen Sender, die von niemandem toleriert werden muss."

Bundeskulturministerin Claudia Roth fördert "Projekte zur strukturellen Stärkung des Journalismus" mit 2,3 Millionen Euro, teilte ihr Ministerium vorgestern mit. Eine unabhängige Jury habe die Projekte, die sich auf einen Aufruf hin beworben hatten, ausgewählt. Zu den geförderten gehören Projekte wie Correctiv und das "Netzwerk Recherche", aber auch Ferda Atamans "Neue deutsche Medienmacher", berichtet Marc Felix Serrao in der NZZ: "Die 'Medienmacher*innen', deren frühere Vorsitzende Ferda Ataman übrigens auch in der besagten unabhängigen Jury sitzt und die von den Grünen gerade erfolgreich ins Amt der Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung gebracht wurde, erhalten in diesem Jahr eine Förderung von bis zu 200.000 Euro. Frau Ataman habe selbst weder an der Beratung noch an der Abstimmung über das Projekt der 'Medienmacher*innen' teilgenommen, teilte eine Regierungssprecherin auf Anfrage mit."
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Politik

In der taz fragt sich Stephan Grigat, warum deutsche Medien in Berichten über den Nahost-Konflikt so wenig über die Rolle des Iran sprechen, ohne den die Raketenangriffe der Hamas auf Israel nicht möglich wären. "Es wird geschätzt, dass der Islamische Dschihad etwa 70 Millionen US-Dollar pro Jahr aus dem Iran erhält und die Hamas zwischen 70 und 100 Millionen. In den letzten drei Jahren hat Irans Islamistenführer Chamenei laut israelischen Medienberichten der Hamas angeboten, bis zu 30 Millionen Dollar monatlich zur Verfügung zu stellen, wenn Teheran im Gegenzug Informationen über israelische Raketenstellungen von den palästinensischen Moslembrüdern erhält. All das bedeutet: Wer mit dem Ajatollah-Regime im Iran Geschäfte macht, finanziert den Terror gegen Israel. Dementsprechend reicht es nicht, wenn die europäischen Regierungen die Raketenangriffe der iranischen Verbündeten auf Israel verurteilen. Ohne ein konsequentes Vorgehen gegen die iranische Finanzierung dieses Terrors bleiben solche Statements folgenlose Rhetorik."
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