9punkt - Die Debattenrundschau

Aber der Nahostkonflikt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.07.2022. Richard Herzinger untersucht im Perlentaucher die antikoloniale Rhetorik, mit der Wladimir Putin den "globalen Süden" für sich gewinnen will. Herfried Münkler weiß schon, warum die Emma-Pazifisten ihre Friedensforderungen an die Ukraine, und nicht den Angreifer richten, und erklärt es in der NZZ. Nicolas Tenzer fragt in seinem Blog, ob man Russland zum terroristischen Staat erklären soll. Und die New York Times erklärt, warum Antony Blinken davor zurückscheut.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.07.2022 finden Sie hier

Europa

Russische Stellen bestreiten zwar ein Kriegsgefangenenlager beschossen zu haben - Dutzende ehemalige Kämpfer des Asow-Stahlwerks sollen ums Leben gekommen sein - aber verbreitet zugleich solche Tweets (Screenshot)



Der französische Russlandexperte Nicolas Tenzer fragt in seinem Blog, ob man Russland als einen "terroristischen Staat" definieren sollte. Dafür spräche, dass Verbrechen wie Butscha terroristischen Akten gleichen. Eine solche Definition hätte rechtliche Konsequenzen, etwa "dass Vertreter eines terroristischen Staates ihre diplomatische Immunität verlieren würden und auf dem Boden eines jeden Drittstaates, der ein solches Gesetz erlassen hat, verhaftet werden könnten. Wie jede terroristische Gruppe würde auch der russische Staat zu einem Pariastaat werden. Es sei darauf hingewiesen, dass einige Länder, darunter Litauen, Russland bereits offiziell als terroristischen Staat bezeichnet haben."

Frieden in der Ukraine? Ja, gerne, aber wie, fragt Herfried Münkler in der NZZ. In einem Krieg will der Überlegene in der Regel nicht verhandeln: "Dieses Problem kennen auch jene, die jetzt ein sofortiges Kriegsende fordern; deswegen haben sie ihre Forderungen an die im Kriegsgeschehen unterlegene Seite adressiert. Den Überlegenen, der obendrein der Angreifer ist, sprechen sie nicht an. Sie ahnen, dass sie bei ihm auf taube Ohren stoßen würden. ... So direkt wollen Befürworter eines schnellen Kriegsendes die Kapitulationsaufforderung an die Ukraine nicht aussprechen; stattdessen fordern sie die sofortige Beendigung der westlichen Waffen- und Munitionslieferungen an die Ukraine. Wenn man keine Waffen hat, erübrigt sich deren Niederlegen. Und da Russland im Vergleich mit der Ukraine die sehr viel größeren Reserven an Waffen und Munition hat, läuft die Einstellung westlicher Waffenlieferungen auf ein Wehrlosmachen der Ukraine - und das heißt: einen russischen Siegfrieden - hinaus." Wer das für neutral hält, sollte noch einmal Talleyrand lesen, empfiehlt Münkler.

Richard Herzinger untersucht im Perlentaucher die antikoloniale Rhetorik, mit der Wladimir Putin den "globalen Süden" für sich gewinnen will: "Das russische Manöver, den eigenen Ausrottungsfeldzug gegen eine souveräne Nation zur Befreiungsaktion im Namen der Unterdrückten dieser Erde umzulügen, ist indes nicht neu, sondern hat furchtbare historische Vorbilder. Während das mit Hitler-Deutschland verbündete japanische Regime im Zweiten Weltkrieg in den von seinen Armeen besetzten asiatischen Ländern - an erster Stelle in China - die grausamsten Massaker begehen ließ und die von ihm unterworfenen Völker aufs brutalste ausbeutete und versklavte, inszenierte es sich zugleich als 'panasiatischen' Befreier des Kontinents vom britischen Imperialismus und dem vermeintlichen 'Kolonialismus' der USA."

Behauptungen, Russland könne sich ganz gut den Sanktionen entziehen, gelten nur für die Energieexporte, schreibt Ulrike Herrmann in der taz. Der IWF übernimmt russische Zahlen, wonach die Wirtschaftleistung so nur um sechs Prozent zurückgegangen sei. "Der IWF hat allerdings mit dem Problem zu kämpfen, dass die russische Statistikbehörde seit Mai keinerlei belastbare Daten mehr veröffentlicht. So wird über Exporte und Importe eisern geschwiegen, damit der Westen nicht erkennen kann, ob die Sanktionen unterlaufen werden. Auch Zahlen zur einheimischen Produktion fehlen jetzt völlig, denn die letzten Erhebungen waren niederschmetternd. Im April 2022 wurden im Vergleich zum Vorjahr 85,4 Prozent weniger Autos hergestellt, bei Waschmaschinen waren es minus 59 Prozent, bei Fahrstühlen minus 48 Prozent und bei Kühlschränken minus 46 Prozent."

Sanktionen sind allerdings am wenigsten gegen Autokratien wirksam, fürchtet Nikolaus Piper in der SZ: "Die Maßnahmen beruhten meist auf der Hoffnung, abschreckend zu wirken und die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Diktatoren wie Putin jedoch, die das Militär, den Sicherheitsapparat und die Medien kontrollieren, müssten sich nicht um die öffentliche Meinung kümmern."

Deutschland wird besonders unter dem Gasmangel leiden, da seine ganze Wirtschaft auf die Existenz billigen russischen Gases gebaut ist. Nun hätte Deutschland gern europäische Solidarität, was Gaslieferungen angeht. Nikolaus Doll versteht in der Welt gut, warum den Deutschen in Europa allenfalls ein höfliches Hüsteln entgegenschallt: "Energiewende und Atomausstieg waren mit den anderen EU-Mitgliedstaaten nicht abgestimmt, sie waren in die Pläne nicht mal eingeweiht. Und nun, wo es womöglich eng - pardon - kalt wird, sollen alle in ein Boot. Wenig überraschend heißt es von Lissabon bis Budapest: 'Nicht mit uns.' Was die Regierungen in vielen EU-Staaten besonders erzürnt, ist das starre Festhalten der Deutschen an ihrer Energieagenda, vor allem am Ausstieg aus der Atomkraft. Die letzten Kernkraftwerke stillzulegen, weil das nun mal so beschlossen ist, und zugleich um Gas zu betteln, das versteht im Ausland niemand."

Dr amerikanische Außenminister Antony Blinken zögert übrigens bei der Frage, ob Russland als terroristischer Staat zu behandeln sei, berichten Michael Crowley and Edward Wong in der New York Times: "Seit Wochen wird Druck auf Blinken ausgeübt, Russland offiziell zum staatlichen Sponsor des Terrorismus zu erklären, eine Bezeichnung, die derzeit Nordkorea, Syrien, Kuba und dem Iran vorbehalten ist. Doch obwohl es emotional nachvollziehbar wäre, sträubt sich Blinken gegen einen Schritt, der ihn dazu zwingen könnte, US-Verbündete zu sanktionieren, die mit Russland Geschäfte machen, und der die letzten Reste der Diplomatie zwischen Washington und Moskau auslöschen könnte."

Inzwischen in Italien:

Archiv: Europa

Gesellschaft

Selbstverständlich gibt es muslimischen Antisemitismus, schreibt Ibrahim Quraishi in der taz. Auch mit Blick auf das Documenta-Debakel (mehr auch heute hier): "'Aber der Nahostkonflikt!', wendet an dieser Stelle sicher jemand ein. Der Nahostkonflikt sei der Grund für Antisemitismus in der muslimischen Welt, so lautet die gängige These. Das Gegenteil ist richtig: Der Konflikt dient in diesem Teil der Welt als Rechtfertigung für Judenfeindschaft. Wir sollten ehrlich sein und dieser Legende laut widersprechen."
Archiv: Gesellschaft