9punkt - Die Debattenrundschau

Fabriken, Minen, Häuser, Güter und Aktien

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.06.2022. Die Nato und der G7-Gipfel senden starke Signale an Moskau, vor allem durch die Versiebenfachung der schnellen Eingreiftruppe, freut sich Stefan Kornelius in der SZ. Erstaunliche Zahlen muss laut FAZ die katholische Kirche verkünden: Fast 360.000 Menschen sind ausgetreten, das sind rund 1,7 Prozent. Der Supreme Court hat noch eine dritte sturzkonservative Entscheidung getroffen, alarmiert thedailybeast.com, sie betrifft die Trennung von Staat und Religion. In der SZ spricht David de Jong über die düstere Kontinuität in den reichsten Familien Deutschlands.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.06.2022 finden Sie hier

Europa

Aus dem G7-Gipfel von Schloss Elmau kommen gute, aber auch späte Signale gegen Putin, findet der SZ-Leitartikeler Stefan Kornelius. Dazu zählt er die Nachricht, dass die Nato ihre schnelle Eingreiftruppe von 40.000 auf 300.000 Mann und Frau versiebenfacht. Die permanenten russischen Kriegsverbrechen - zuletzt der höhnische Raketenbeschuss einer Shopping Mall in Krementschuk - verlangten eine massive Antwort und "eine Botschaft der Entschlossenheit, die im Kreml nicht verspottet, sondern ernst genommen wird. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, wo das militärische Kalkül Russlands gebrochen werden muss. Denn wenn die russische Führung jetzt nicht die Absurdität ihres Abnutzungskrieges erkennt, dann steigert sie sich selbst in eine nicht mehr zu kontrollierende Eskalation hinein."
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Politik

Dass der Linke Gustavo Petro gegen den grotesken Rechtspopulisten Rodolfo Hernández die Präsidentschaftswahlen in Kolumbien gewonnen hat, ist zunächst mal eine gute Sache, schreibt der in Medellin geborene Schriftsteller Héctor Abad in der NZZ. Aber er misstraut auch Petro, der viele gemäßigte Linke und Liberale vergrätzt habe: "Hoffentlich ist das nur ein Vorurteil, eine trügerische Ahnung. Je falscher ich mit meinem Misstrauen liege, desto besser für Kolumbien und uns Kolumbianer. Mein Gefühl hat jedoch einen realen Hintergrund. Zunächst einmal: Als Bürgermeister von Bogotá war Petro miserabel. Statt zu regieren, stritt er sich vier Jahre lang mit Freund und Feind. Seine engsten Vertrauten und Verbündeten ergriffen schon nach kurzer Zeit die Flucht."

Frauke Steffens erzählt in der FAZ einige interessante Details zum Hintergrund der Abtreibungsentscheidung des Supreme Court: "Die Republikaner sammelten sich nicht immer so enthusiastisch hinter dem Thema Abtreibung wie heute. Es war der von Richard Nixon ernannte konservative Richter Harry Blackmun, der 1973 die Mehrheitsentscheidung im Fall 'Roe v. Wade' begründete. Der evangelikale Teil der republikanischen Basis habe Schwangerschaftsabbrüche lange für ein katholisches Problem gehalten, meint etwa der Religionswissenschaftler Randall Balmer vom Dartmouth College in New Hampshire. Katholiken waren wiederum sehr häufig Demokraten."
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Wissenschaft

Seit sechzig Jahren wird über den Klimawandel diskutiert. Seit 1995 ist er bewiesen, sagt die Wissenschaftshistorikerin Naomi Oreskes im Gespräch mit Claudia Mäder in der NZZ, dem man anmerkt, dass sie der Verzweiflung nahe ist. Eigentlich hätten wir die Löung längst gefunden, die erneuerbaren Energien. "Der Klimawandel wäre schon lange ein sehr guter Grund gewesen, sich von der fossilen Energie abzuwenden und auf die Erneuerbaren zu setzen. Jetzt gäbe es einen weiteren hervorragenden Grund, das zu tun: Man könnte sich so aus der Abhängigkeit von einem diktatorischen, totalitären Regime lösen. Der Krieg in der Ukraine hätte in meinen Augen der Moment sein müssen, in dem man sich definitiv für die erneuerbaren Energien entscheidet. Stattdessen ist in Deutschland davon die Rede, stillgelegte Kohlekraftwerke wieder zu öffnen. Das ist einfach unglaublich."
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Stichwörter: Klimawandel

Religion

Erstaunliche Zahlen nennt Thomas Jansen in der FAZ nach einer Pressekonferenz des  Bischofs Georg Bätzing: "359.338 Menschen haben die katholische Kirche im Jahr 2021 verlassen. So viele wie nie zuvor. Bei einer Gesamtzahl von 21,6 Millionen Katholiken sind das rund 1,7 Prozent. Im bisherigen Rekordjahr 2019 waren knapp 273.000 Menschen ausgetreten." Allein in Köln traten nach den bekannten Skandalen und ihrer wenig überzeugenden Aufarbeitung 40.000 Menschen aus. In der evangelischen Kirche, so Jansen, waren die Zahlen in diesem Jahr bescheidener.

Neben den Entscheidungen für Waffen und gegen Abtreibung legte der Supreme Court auch noch eine weniger beachtete Entscheidung vor, die die Trennung von Staat und Religion berührt. In der Sache "Kennedy v. Bremerton School District" entschied das Gericht, dass öffentliche Gebete in Schulen durchgeführt werden dürfen. Jay Michaelson erklärt in thedailybeast.com, wie problematisch das ist: "Aus verfassungsrechtlicher Sicht steht dieser Sachverhalt in einem Spannungsverhältnis zwischen zwei Klauseln des Ersten Verfassungszusatzes. Einerseits ist das Gebet des Trainers seine freie Religionsausübung. Andererseits ist er der Trainer, dies ist eine öffentliche Schule, und obwohl die Spieler theoretisch nicht daran teilnehmen müssen, weiß in der Praxis jeder, dass man Ächtung und Ausschluss riskiert, wenn man es nicht tut. Daher verstoßen die Gebete sehr wohl gegen die Establishment Clause, die es der Regierung verbietet, eine offizielle Religion einzuführen."
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Kulturpolitik

Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz gibt die Ngonnso-Figur (Bild) an Kamerun zurück, berichtet Susanne Memarnia in der taz. Die Figur war bisher im Kamerun-Saal des Humboldtforums ausgestellt worden. Rückgabeforderungen gab es schon lange, da es hieß, die Figur sei geraubt worden. "Seitens der SPK wurde das lange zurückgewiesen, wie die Institution auch in anderen Fällen über Jahrzehnte alle Rückgabeforderungen rigoros abgebügelt hat. Ngonnso sei eine Schenkung des preußischen Offiziers Kurt von Pavel, hieß es immer. Doch Pavel war kein friedlicher Sammler, sondern Kommandeur der Kaiserlichen Schutztruppe und Leiter diverser 'Strafexpeditionen' in Kamerun, mit denen die Deutschen den antikolonialen Widerstand ersticken wollten. Dabei kam er im Januar 1902 auch in die Region Banso und deren Hauptort Kumbo, wo er in den Besitz der Figur kam - wie genau, ist wohl unklar."
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Geschichte

Das deutsche Wirtschaftswunder basiert nicht allein auf dem Anpacken des Mittelstands in der Nachkriegszeit - sondern auch darauf, das sich die Oetkers, die Flicks, die Fincks und die Quandts in der Nazizeit durch Opportunismus, Arisierungen und Zwangsarbeit kräftig bereicherten. Und anders als behauptet, hat sich das in der Öffentlichkeit gar nicht so weiter herumgesprochen, sagt David de Jong, Autor des Buchs "Braunes Erbe" im SZ-Gespräch mit Niklas Elsenbruch. "Ich möchte mit meinem Buch auch auf die Kontinuität von Macht und Geld hinweisen. Die Familien zählten schon im Kaiserreich und der Weimarer Republik zu den reichsten Deutschen - mit Ausnahme der Porsche-Piëchs. Nach der NS-Zeit konnten sie ihr Eigentum in Westdeutschland einfach behalten, ihre Fabriken, Minen, Häuser, Güter und Aktien. Das war wichtig für das Wirtschaftswunder, aber auch für ihre eigenen Finanzen."
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Gesellschaft

In Oslo hat vor wenigen Tagen ein Islamist vor einem schwulen Nachtclub zwei Menschen getötet und mehr als zwanzig verletzt. Über die Hintergründe des Attentats und die Opfer will Zuher Jazmati nicht reden. Er ist in der Berliner Zeitung so besorgt, "Rechte" könnten das Attentat für ihre Zwecke ausnutzen, dass man fast den Eindruck bekommt, hinter den Attentat in Oslo stünde ein Komplott von Faschisten: "Kaum war bekannt geworden, dass der Tatverdächtige möglicherweise aus islamistischen Motiven gehandelt hat, witterten die Rechten und Rassisten in Deutschland ihre Chance, dies für das Schüren antimuslimisch-rassistischer Ressentiments zu nutzen und gegen Muslim*innen und den Islam zu wettern. Das war auch nach dem Anschlag im Juni 2016 auf den LGBTQIA*-Club Pulse in Orlando so, bei dem ein Islamist 49 Menschen tötete, und nach einer im Oktober 2020 verübten Tat in Dresden, als ein schwules Paar von einem Islamisten angegriffen und einer der beiden getötet wurde. Auch damals wurde der Tod von Menschen instrumentalisiert, um islamfeindliche Hetze zu verbreiten und Stimmung gegen Muslim*innen zu machen. Das Thema Queerness und der angebliche Schutz von queeren Menschen werden dabei von den Rechten vereinnahmt, um Rassismus zu legitimieren."
Archiv: Gesellschaft
Stichwörter: Rassismus, Oslo, Queer, Komplott, Orlando