9punkt - Die Debattenrundschau

Hallo an alle aus der Hochsicherheitszone

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.06.2022. Ein Foto bei La Repubblica zeigt Scholz, Draghi und Macron im Salonwagen auf dem Weg nach Kiew. Eine EU-Beitrittsperspektive sollte für die Ukraine schon rausspringen, meint Pierre Haski bei France Inter. Robert Habeck meldet sich auf Twitter zum Teilstopp der russischen Gaslieferungen: Sparen, Sparen, Sparen. Eine Gruppe ukrainischer AutorInnen antwortet in der taz auf den Emma-Brief - mit einem Brief an die junge Generation in Deutschland. Sönke Neitzel glaubt in der Welt nicht, dass die Ukraine den Donbass zurückerobern kann.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.06.2022 finden Sie hier

Europa

Eine Gruppe ukrainischer AutorInnen antwortet in der taz auf den Emma-Brief - das heißt, sie wischt ihn schnell beiseite, denn die Emma-Brief-AutorInnen seien alt, und der ukrainische Brief wendet sich an die junge Generation in Deutschland: "In euren Firmen und Startup-Unternehmen, in eurem Aktivismus und eurer Interessenvertretung, in der Politik und im Cyberspace baut ihr ein modernes Deutschland und Europa auf." An sie (von deren Mobilisierunge hier leider noch nicht viel zu bemerken war) sendet der ukrainische Brief mahnende Worte: "Eine alte Politik hat dazu geführt, dass Deutschland wieder einmal 'auf der falschen Seite' in die Geschichte eingehen wird, nicht als eines der führenden Länder im Rahmen des europäischen Projektes im 21. Jahrhundert, sondern als einer der Sponsoren des terroristischen Regimes der Russischen Föderation." Um ein Bündnis zu schaffen, appelliert der Brief auch an das zentrale politische Thema vor dem Krieg: "Genau jetzt, da die Menschheit vor einer der enormsten Herausforderungen steht, hat sich Russland auf einen aggressiven Krieg eingelassen. Der Krieg hat sich negativ auf die Bekämpfung des Klimawandels ausgewirkt." Theresa Neubauer, antworten Sie.

Na, hoffentlich kennen die Russen die Strecke nicht: Scholz, Macron und Draghi im Salonwagen auf dem Weg nach Kiew. Ob sie schon einen "Kompromiss" gefunden haben?
Pierre Haski schreibt in seiner Kolumne bei Fance Inter: "Der ukrainische Präsident Selenski hat den Beitritt zur Europäischen Union zu einem mobilisierenden Ziel für sein kriegsgetroffenes Land gemacht und würde eine zweideutige oder negative Antwort nur schwer verkraften. Während die Kämpfe im Osten der Ukraine toben, fällt es Selenski schwer, auf europäische Subtilitäten einzugehen. Für ihn ist die Beitrittsperspektive eine Lebensversicherung, nachdem er den Beitritt zur Nato aufgegeben hat: Die Europäische Union ist kein Militärbündnis, aber sie hat eine Klausel über kollektive Sicherheit, die in der Nachbarschaft Russlands sehr viel Sinn macht."

Alexej Nawalny
ist ohne vorherige Information seiner Angehörigen oder Anwälte in ein noch strengeres Straflager verlegt worden. Hier sein erster Tweet. Übersetzung laut Deepl: "Die Weltraumreise geht weiter - ich habe das Schiff gewechselt. Hallo an alle aus der Hochsicherheitszone":
Außer Scholz gibt es ja einen Minister, der auch kommuniziert. Er wendet sich heute ans deutsche Volk, um auf die von Russland mit technischen Vorwänden begründete Kürzung der Gaslieferungen zu reagieren:
Die Welt zitiert den Präsidenten der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, zur Lage auf dem Gasmarkt: "Schon jetzt haben sich die Gaspreise für private Haushalte gegenüber der Vorkriegszeit vervielfacht. Für Mieter kann es eine böse Überraschung geben, werden hohe Nachzahlungen fällig werden. Das können schnell mehr als tausend Euro sein, da werden Schockwellen durch das Land gehen. Banken werden ihre Geschäfte mit Ratenkrediten hochfahren, angeschlagenen Firmen droht die Insolvenz."

Der bedauerliche Gerhard Schröder (SPD), der ja auch schon einen Posten bei Rosneft verloren hat, wehrt sich mit Anwaltsschreiben gegen die Schließung seines Altkanzlerbüros im Bundestag, meldet unter anderem Zeit online mit dpa: "Ein solcher Beschluss des Haushaltsausschusses sei 'evident rechts- und verfassungswidrig', schreibt der Anwalt. Er äußert in dem Schreiben die Hoffnung, dass sich die Sache über ein Gespräch 'auf Augenhöhe' klären ließe. Vor Gericht wolle Schröder sein Recht zunächst nicht einklagen, sagt der Anwalt. Das stehe 'trotz der mittlerweile nicht mehr hinnehmbaren öffentlichen Hetzjagd' nicht an vorderster Stelle."

Putin setzt durch immer weiteres Verheizen der eigenen Armee darauf, dass sich die Ukraine aus dem Donbass zurückzieht, prognostiziert der Militärhistoriker Sönke Neitzel im Gespräch mit Ibrahim Naber von der Welt. Und das war's dann vorerst: "Es gibt die normative Kraft des Faktischen. Ich glaube nicht, dass die Sanktionen Putin dazu zwingen, irgendwas zu ändern. Mir ist kein Fall in der Geschichte bekannt, in dem Sanktionen wirklich einen Krieg beendet hätten. Ich halte es für völlig unrealistisch, dass die Ukraine in der Lage sein wird, diese Gebiete im Donbass zurückzuerobern. So wünschenswert es auch wäre!" Und eines ist für Neitzel klar, auch angesichts des beklagenswerten Zustands der Bundeswehr: "Wenn die Ukraine sich auf Deutschland verlassen müsste, wäre die Ukraine jetzt russisch."

Und noch ein Thread bei Twitter, verfasst von dem an der Uni Chicago lehrenden Kunsthistoriker Roko Rumora. Er berichtet, dass die berühmte Partisanen-Nekropole von Mostar, ein zentrales Monument des offiziellen jugoslawischen Antifaschismus, offenbar von kroatischen Rechtsextremen gründlich zerstört worden sei. 650 Gedenksteine seien zerbrochen. "Die Gedenkstätte für die gefallenen antifaschistischen Kämpfer von Mostar wurde 1965 von dem berühmten Architekten Bogdan Bogdanović errichtet. Es war in der jüngsten Ausstellung des MoMA über jugoslawische Architektur zu sehen. Es ist ein außergewöhnlicher Ort." Weitere Informationen bei Balkan Insights.

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Ideen

Fritz Engel und Bernd Ulrich reihen in der Zeit die von ihnen diagnostizierte Untätigkeit der Menschen angesichts der Klimakrise in die Trias der Freudschen Kränkungen ein: "Unter der Oberfläche verletzt die vierte, die ökologische Kränkung den Menschen in einer Weise, die darüber hinausgeht, was Sigmund Freud vor hundert Jahren analysiert hat. Sie stellt alles infrage, was dem Menschen zu Stolz und Ehre gereicht, sie versieht fast alle Erzählungen mit einem Fragezeichen, die der moderne Mensch gern über sich selbst verbreitet. Angefangen vom Gang der Geschichte über den Sinn des eigenen Lebens bis hin zum Hochgefühl der individuellen Freiheit."

Der ukrainische Philosoph Anton Tarasyuk (einer der Mitautoren des taz-Briefs oben) antwortet in der Zeit auf Thomas Karlaufs Verteidigung Helmut Schmidts. Für ihn ist Schmidt wie Habermas ein Postvisionär, der die Welt nach dem Wüten der Geschichte wie ein Schachbrett betrachtet. Diese Art von Geopolitik ist passé, so Tarasyuk: "Wir haben keine andere Wahl, wir müssen die große europäische Vision in die Politik zurückbringen. Es gibt keinen Raum für halbherzige Schritte oder Postvisions-Konformismus. Im besten Fall werden sie zu eingefrorenen Konflikten führen, im schlimmsten Fall wird es um die gänzlich sinnlose Verschwendung von Ressourcen gehen."

Ebenfalls in der Zeit schreibt Ijoma Mangold über den Sturz der Politologin Ulrike Guérot, die eben noch auf allen Podien saß und nun als Coronaskeptikerin, Putin-Versteherin und Plagiatorin gilt.
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Geschichte

Der Historiker Manfred Berg erinnert in der Zeit an den amerikanischen Diplomaten George F. Kennan, der in einigen berühmten Aufsätzen den Charakter der stalinistischen Herrschaft beschrieb. Die Parallelen zu heute sind unheimlich: "Stalin und die sowjetischen Machthaber seien von einem tief in der russischen Geschichte verwurzelten Misstrauen und einem Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Westen besessen, von dem sie sich bedroht und verachtet fühlten. Nichts fürchteten sie so sehr wie den offenen Austausch mit der Welt, der den 'archaischen' Charakter ihrer Herrschaft entlarven könnte. Die entscheidende Triebkraft der sowjetischen Politik ist nach Kennans Einschätzung nicht das 'Feigenblatt des Marxismus', sondern ein paranoides Sicherheitsstreben, das nach der Vernichtung aller potenziellen inneren und äußeren Gegner trachte."
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Stichwörter: Kennan, George