9punkt - Die Debattenrundschau

In einem Meer aus Tragödien

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.05.2022. In der FAS beleuchtet der Schriftsteller Boris Schumatsky die Muster russischer Schuldabwehr. In der taz weist der Umweltschützer Wladimir Sliwjak darauf hin, dass Moskau Europa nicht nur mit seinen fossilen Brennstoffen in der Hand hat, sondern auch mit nuklearen. Ebenfalls in der taz beschreibt Marcia Pally, wie sich Abtreibungsgegner und Waffenliebhaber in den USA aus dem Erbe von Puritanern und Kolonisten speisen. Die bosnische Schriftstellerin Lana Bastašic beobachtet in der NZZ die Rückkehr der Hexenjagd auf dem Balkan.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.05.2022 finden Sie hier

Europa

Im Donbass spitzt sich die Lage zu, die Kämpfe werden härter und für die ukrainischen Truppen bedrohlicher, wie unter anderem der Guardian berichtet.

Nicht die Ukrainer, sondern die Russen erinnern den Schriftsteller Boris Schumatsky in der FAS an die Nazis, die Schuld und Wissen leugneten: "In den ukrainischen Bombenkellern, wenn es dort Netzempfang gibt, können die Leute lesen, wie sich ihre russischen Freunde auf allen Kanälen darüber beklagen, dass ihr Berufsleben von Putin zerstört wurde und wie sie unter den westlichen Wirtschaftssanktionen leiden, die sie manchmal als 'Teppichbombardierungen' bezeichnen. Die Menschen in Kiew oder Charkiw schicken ihnen Bilder und Videos, Trümmerstraßen und Leichen. 'Hat das Putin wirklich allein getan?', fragen sie, und die Russen, die bis vor einigen Wochen ihre Kollegen oder Geschäftspartner waren, schießen mit Zitaten von Hannah Arendt zurück. Kollektivschuld diene nur dazu, die wahren Schuldigen zu entlasten. Sie selbst seien ja immer gegen Putin gewesen, und jetzt würden sie gecancelt, ihr Paypal gesperrt, ihre Honorare auf Patreon unzugänglich gemacht."

Im taz-Interview mit Bernhard Pötter zeigt Wladimir Sliwjak, russischer Umweltschützer und Träger des Alternativen Nobelpreises, wie die fossilen Ressourcen Russlands aggressives Auftreten in der Welt befeuern: "Der Krieg ist zu einem großen Teil nur möglich, weil Russland wegen der hohen Preise für fossile Brennstoffe so viel Geld aufgehäuft hat. Allein in diesem Jahr sind es bisher etwa 50 Milliarden Euro. Das ist nicht nur fossiler, sondern auch nuklearer Brennstoff, über den aber in Europa niemand reden will. Dabei erlaubt der es Russland, Länder wie Ungarn, die Slowakei, Tschechien oder Bulgarien wirklich zu kontrollieren. Das ist viel wichtiger für Putins geopolitische Ansprüche."

In der FR macht sich der Schriftsteller Boris Akunin im Interview mit Ekaterina Venkina wenig Hoffnung für Russland unter Putin: "Wenn er scheitert, wird es eine Revolution geben. Wenn er Erfolg hat, wird Russland zu einem belagerten Lager. Eine 'Iranisierung', sogar 'Nordkoreanisierung' sind dann für lange Zeit möglich. Russland wird sich hinter dem Eisernen Vorhang verschanzen, mit rostigen Raketen drohen und den Planeten endlos mit einem Atomkrieg terrorisieren. Innerhalb des Landes werden Finsternis und das 'System Gulag' herrschen."

In der FAZ schickt Melanie Mühl eine Reportage aus Odessa, das wie eine Insel "in einem Meer aus Tragödien" wirkt - und so viel ruhiger als im Jahr 2014, wie ihr der Ukrainer Juri erzählt: "Den russischen Raub der Krim 2014 hat er noch schulterzuckend hingenommen. 'Es war die Schuld der Ukraine', sagt er. Damals ging ein Riss durch Odessa. Bei den Ausschreitungen am 2. Mai 2014 stießen prorussische und proukrainische Demonstranten aufeinander, die Stadt kochte, Gewalt und Hass eskalierten. 48 Menschen starben, viele von ihnen verbrannten bei lebendigem Leib, die Täter wurden nie zur Rechenschaft gezogen. Juri spricht nicht gern darüber, er wird einsilbig. Lieber spricht er über den neuen Juri, den Patrioten. Jenen Juri, der der Territorialverteidigung sofort seine Hilfe angeboten hat."

In der SZ beklagt die russische Historikerin Irina Scherbakowa, die auch bei Memorial tätg war, den geringen Widerstand gegen Putins Krieg in Russland selbst: "Leider wird der Streit zwischen denen, die weggegangen sind, und denen, die geblieben sind, immer heftiger. Die einen sagen, man sei weggelaufen, statt zu kämpfen, die anderen sagen, wenn nicht Hunderttausende auf die Straße gehen, passe das Volk sich doch dem Regime an. Alles ein Ausdruck von Hilflosigkeit und Verzweiflung."
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Ideen

Mehr noch als gegen Abtreibungen richtet sich der evangelikale Fundamentalismus in den USA gegen den säkularen Staat, schreibt die Autorin Marcia Pally in der taz und sie erkennt darin das geistige Erbe der Puritaner und Siedlerkolonisten: "Der neuzeitliche Liberalismus legt großen Wert auf die Freiheit des Individuums und lehnt Autoritäten ab. Dies galt besonders in den USA, da viele der Eingewanderten unterdrückerischen politischen Systemen entkommen waren. Auch auf dem großen Treck westwärts war es ratsam, auf sich selbst gestellt zu überleben, sich in den neuen Siedlungen auf die Gemeinschaft verlassen zu können und sich vor Autoritäten und Fremden zu hüten (diese kollektive historische Erfahrung ist übrigens eine der historischen Wurzeln für das von außen befremdlich anmutende Beharren auf das Recht auf Waffenbesitz)."
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Gesellschaft

Mit dem Sozialismus wurde in den Republiken des ehemaligen Jugoslawien auch der emanzipatorische Fortschritt begraben, stellt die bosnische Schriftstellerin Lana Bastašic fest. Frauen verschwinden aus der Öffentlichkeit, sexuelle Belästigung ist wieder an der Tagesordnung: "Als ein Museumsdirektor aus Belgrad mich öffentlich meiner angeblich 'blasphemischen Gedichte' und 'lesbischen Geschichten' wegen beschimpfte, richtete sich der Angriff nicht gegen mich, sondern gegen meinen Vater. Herr Bastašić habe, so der Direktor, 'seine Tochter nicht richtig erzogen'. Noch nicht einmal meine Blasphemie gehörte mir selber. Mein Vater hatte es versäumt, mich zu zähmen. Außerdem zeigten meine Tätowierungen, 'dass ich die Kunst der Hexerei' verehrte, was den orthodoxen christlichen Werten widersprach."
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Medien

In der taz weiß René Martens nicht, ob er angesichts der neuen Organisationsstruktur bei RTL nach der Einverleibung von Gruner und Jahr lachen oder weinen soll. 14 Oberchefredakteure sollen über Bereiche wie "Reportage, Dokumentation & Investigativ" herrschen, über ihnen thront jedoch RTL-News-Geschäftsführer Stephan Schmitter als Chief Journalistic Content Officer: "Man muss Medienhäuser heute natürlich anders organisieren als zu Zeiten, als der Stern noch siebenstellige Verkaufszahlen hatte, aber ein Grund für das, was wir nun auch schon seit sehr vielen Jahren 'Medienkrise' nennen, sind Management-getriebene Top-down-Strukturen, in denen nicht Journalisten das letzte Wort haben."

In der FAZ berichtet Jürg Altwegg, dass sich in Frankreich Stimmen mehren, die russischen Propagandasender zu sperren, die noch immer über den europäischen Satelliten Eutelsat verbreitet werden: "Weil die russischen Propagandasender außerhalb der EU beheimatet sind, muss das Land des Satellitenbetreibers handeln. Eutelsat ist ein französisches - börsennotiertes - Unternehmen. Neben dem Staat gehört es weiteren Investoren, hat aber zweifellos auch russische Aktionäre."
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