9punkt - Die Debattenrundschau

In einem Depot in Helsinki

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.05.2022. Wer redet in Europa noch über Nawalny? Kein Mensch mehr. Nawalny im Lager ist normal geworden, "alles, was weniger als ein Atomkrieg ist, ist bereits die Norm", schreibt der russische Journalist Mikhail Zygar bei Spiegel online. Finnland kappt seine Verbindung zu Russland - der Zugverkehr wird eingestellt, berichtet politico.eu. Es gibt keine Partei in Deutschland, die nicht Mitschuld trägt an der deutschen Energieabhängigkeit von Russland, konstatiert die FAZ. In Buffalo hat ein Rechtsextremist zehn Menschen umgebracht. Der New Yorker versucht, die Theorie des "Großen Austauschs" zu erklären.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.05.2022 finden Sie hier

Europa

Finnland tritt wie Schweden der Nato bei. Die Verbindungen zwischen Finnland und Russland werden zusehends gekappt, etwa der Hochgeschwindigkeitszug Allegro, berichtet Charlie Duxbury  bei politico.eu: "Die vier Züge, die in den Farben der finnischen und der russischen Flagge lackiert sind, stehen jetzt in einem Depot in Helsinki, wo sie von finnischen Ingenieuren gewartet werden. Topi Simola, der Leiter der finnischen Eisenbahngesellschaft VR - dem finnischen Partner in dem finnisch-russischen Gemeinschaftsunternehmen, das Allegro betrieben hat - sagt, dass der öffentliche Druck, den Dienst einzustellen, nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine Ende Februar schnell zunahm. Nachdem der Dienst finnischen Expats bei der Ausreise aus Russland nach der Invasion geholfen hatte, wurde er stillgelegt. Der letzte Allegro rollte am 28. März in die finnische Hauptstadt."

Sabine am Orde und Stefan Reinecke moderieren für die taz ein Streitgespräch zwischen dem Rechtsprofessor Reinhard Merkel, Mitunterzeichner des Emma-Briefs, und  der ehemaligen Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Merkel hält Putin, nachdem er mit Waffen zurückgeschlagen wurde, gegen deren Lieferung er war, für so geschwächt, dass Gesprächsbereitschaft zu vermuten sei: "Ich denke, Putin will mit einem für eine atomare Weltmacht noch hinnehmbaren Gesichtsverlust aus dieser für ihn inzwischen höchst prekären Geschichte herauskommen." Schuld am weiteren Fortgang seien die Amerikaner, die die Russen schwächen wollten. Leutheusser-Schnarrenberger sieht das anders: "Das Wichtigste ist, dass die Ukraine in der Lage ist, Verhandlungen zu führen, die nicht die eigene Kapitulation bedeuten. Und dazu braucht sie Waffen."

Im Grunde gibt es keine Partei in Deutschland, die nicht Mitschuld trägt an der deutschen Energieabhängigkeit von Russland, schreibt Christian Geinitz im Leitartikel der FAZ: "Es ist scheinheilig von der Ampelkoalition, die Ausrichtung auf Russland der unionsdominierten Vorgängerregierung anzukreiden. Gerade die SPD unterhielt engste Kontakte nach Moskau, und die Grünen haben im aktuellen Koalitionsvertrag sogar den Bau neuer Gaskraftwerke verankert, um Kohle- und Atomstrom zu ersetzen. Intelligenter wäre es gewesen, Gaskraftwerke zu ersetzen, wenn schon nicht mit heimischer Braunkohle, dann mit der Kernenergie, die noch dazu das Klima schont."

Die Rede vom "neuen Kalten Krieg" zwischen Russland und dem Westen trifft nicht zu, schreiben die Politologen Eckhard Lübkemeier und Oliver Thränert auf der Gegenwart-Seite der FAZ: "Putins Russland ist eine revisionistische Macht, die anders als die Sowjetunion in Europa nicht am Status quo interessiert ist, sondern diesen grundlegend infrage stellt. Chinas Rolle ist heute ungleich gewichtiger. Konnte der Westen damals Widersprüche zwischen beiden Akteuren ausnutzen, bilden sie heute eine Achse autokratischer Großmächte."

Wer redet in Europa noch über Nawalny? Kein Mensch mehr. Nawalny im Lager ist normal geworden, "alles, was weniger als ein Atomkrieg ist, ist bereits die Norm", schreibt der russische Journalist Mikhail Zygar, der in einem sehr lesenswerten Kommentar auf Spon erklärt, wie Putin diese Verschiebung der Normalität bewerkstelligt: "Was in der Ukraine geschieht, erschien im Februar fast allen in Russland apokalyptisch. Selbst die meisten russischen Fernsehzuschauer und die Mitglieder des Sicherheitsrates, die am 21. Februar, drei Tage vor Beginn des Krieges, hilflos auf Putin einredeten und zu erraten versuchten, was er von ihnen wollte, hätten dies als Wahnsinn und Albtraum empfunden. Aber dann, nach Beginn der Invasion, begannen sie einen Wettstreit darüber, wer der härtere Falke sei - ein Wettstreit, den der ehemalige Präsident Dmitrij Medwedew gewann, jener Mann, der vor zehn Jahren noch wie eine Taube und ein Liberaler wirkte. Medwedews Äußerungen sind inzwischen so wahnsinnig, dass Putins Worte im Vergleich dazu wie der Gipfel der Mäßigung erscheinen. Lawrow und die russische Diplomatie spielen seit Langem dasselbe Spiel - sie geben Putin das Gefühl, die goldene Mitte zu sein.

Den Russen wurde zulange gestattet, den Kollaps ihres Imperiums als Katastrophe und nicht als selbstverschuldet anzusehen, schreibt der russisch-amerikanische Politologe Sergey Radchenko im Spectator. Durch den Krieg werden russische Träume von Größe zurückgestutzt: "Danke, Ukraine, dass du diese bittere Medizin serviert hast. Russland hat sie dringend gebraucht. Russland braucht eine angemessene Demütigung. Es braucht eine demütige Anerkennung seines geschwächten Status, ein Schuldbekenntnis und ein langsames, schmerzhaftes Bemühen, das Vertrauen derjenigen wiederherzustellen, denen es Unrecht getan hat. Russland hat diese Lektion in den 1990er Jahren nicht gelernt. Es muss sie jetzt lernen."
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Kulturmarkt

So wie Deepl und Google Translate den Übersetzern Kopfzerbrechen bereiten dürften, gibt es in der Branche der Sprecher und Vorleserinnen Sorge vor automatisierten Stimmen, berichtet Fridtjof Küchemann, der für die FAZ mit verschiedenen Akteuren der Branche gesprochen hat. Mit künstlicher Intelligenz und immer echter klingenden Stimmen wollen darauf spezialisierte Firmen ganze Kontinente bisher unvorgelesener Texte erobern. "Bei Polly, dem Text-to-Speech-Angebot der Amazon-Tochter AWS mit 68 Stimmen in dreißig Sprachen im Angebot, erlauben sogenannte SSML-Tags im für die maschinelle Sprachproduktion vorgesehenen Text die Steuerung und Korrektur von Atmung, Betonung oder sogar dem Timbre einer Stimme. Der Befehl lässt die Stimme scheinbar Luft holen, lässt sie flüstern."
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Politik

Ein amerikanischer Anders Breivik hat in der New Yorker Stadt Buffalo zugeschlagen und mit einem automatischen Gewehr zehn Menschen getötet, fast alles Schwarze. Wie Breivik begründete er seine Tat, die er mit einer Kamera auf seinem Helm filmte, mit einem Manifest, berichtet Sofia Dreisbach in der FAZ: Hier "bezeichnet er sich als 'White Supremacist' - als Anhänger der Idee einer 'Vorherrschaft der Weißen' - und als Antisemiten. Außerdem verbreitet er die Verschwörungstheorie eines 'Völkermords an Weißen'. In einem Ausschnitt aus seinem Video ist zu sehen, dass auf seine Waffe eine '14' geschrieben ist - wohl eine Anspielung auf den aus 14 Wörtern bestehenden Leitsatz des amerikanischen Rassisten David Eden Lane: 'We must secure the existence of our people and the future for white children.'"

Die Theorie des "Großen Austauschs" wurde von dem französischen rechtsextremen Autor Renaud Camus ersonnen. Sie löst die extreme Rechte aus den Nationalismen und macht die Feinde austauschbar - Hauptsache, sie sind nicht "weiß", erklärt Kathleen Belew, Autorin des Buchs "Bring the War Home - The White Power Movement and Paramilitary America", im Gespräch mit Isaac Chotiner im New Yorker: "erlaubt einen Opportunismus bei der Auswahl der Feinde, so dass man sich an den Sündenbock einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Ortes heften kann, aber sie folgt auch der zentralen Motivationslogik, die darin besteht, die Sache im Inneren zu schützen, unabhängig vom Feind im Äußeren. Es geht um die grundlegende Bedeutung der Erhaltung und der Geburtenrate der weißen Rasse."

Der Attentäter, Peyton Gendron, hatte schon im letzten Frühjahr "scherzhaft" angekündigt, ein Selbstmordattentat begehen zu wollen und war von einem psychiatrischen Dienst untersucht worden. Nach seinem Schulabschluss verlor man ihn aus den Augen, berichtet die New York Times.
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Gesellschaft

Gibt es solche Schätzungen auch für Deutschland?


Corona ist so oder so nicht vergangen, schreibt Bernd Rheinberg bei den Salonkolumnisten, denn da ist "Long Covid": "Die 'einfachen' Symptome sind vergangen, aber die starke Schlappheit, die Kurzatmigkeit, der Hirnnebel, die Schlafstörungen und Gliederschmerzen sind noch da oder tauchen jetzt erst auf. Für viele folgt nun eine schwere Zeit, in der sie feststellen müssen, dass ihre bisherige Leistungsfähigkeit verschwunden ist, die Krankheit sich anfühlt, wie auf Dauer gestellt, und die Tage sich nur zwischen schlecht und mies unterscheiden. Dieser Zustand wird Long Covid genannt. Er kann Wochen in Anspruch nehmen, Monate - oder gar nicht vergehen."
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Stichwörter: Coronakrise, Long Covid, Corona

Ideen

Stephan Grigat, Professor für Theorien und Kritik des Antisemitismus, würde in der NZZ gern erst mal die Begriffe klären, bevor man über Antisemitismus und Rassismus diskutiert. Antisemiten, schreibt er, "imaginieren sich ihre Vernichtung durch den überlegenen Geist, die 'Herren des Geldes' oder die als illegitim begriffene jüdische Staatlichkeit. Dieser imaginierten Bedrohung gedenken sie in letzter Konsequenz durch Vernichtung zuvorzukommen." Rassisten dagegen sehen andere als minderwertig an. Das wirkt sich auch auf den Vorwurf der "Islamophobie" aus, so Grigat, denn keine "politisch relevante Gruppe" glaube, nur die Vernichtung aller Muslime könne uns retten. Darum zielt für ihn der Vorwurf der "Islamophobie" vor allem "auf die Abwehr einer dringend gebotenen Kritik nicht nur am Islamismus, sondern beispielsweise auch an antisemitischen Ausprägungen eines orthodox-konservativen Mehrheitsislam. Derartige Kritik unter Rassismusverdacht zu stellen, ist ein durchschaubares Manöver, das sehr viel offensiver in seiner intellektuellen Unredlichkeit und seinem antiaufklärerischen Impetus kenntlich gemacht werden sollte."
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Überwachung

Mit der geplanten neuen Chatkontrolle hebelt die EU jede vertrauliche Kommunikation im Netz aus, warnen Chris Köver, Markus Reuter, Sebastian Meineck bei Netzpolitik. Denn dazu muss die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung aufgehoben werden. "Diese Verschlüsselung ist wichtig, damit weder kriminelle Hacker:innen noch Staaten unsere private Kommunikation lesen können. Auf den ersten Blick lässt sich eine Chatkontrolle also nicht mit Ende-zu-Ende-Verschlüsselung vereinbaren. Aber die Regulierung würde Unternehmen verpflichten, Inhalte trotzdem irgendwie zu scannen. Die EU-Kommission lässt offen, wie das technisch gehen soll. Generell sollen die betroffenen Anbieter laut EU-Kommission zwar 'vermeiden, die Sicherheit und Vertraulichkeit der Kommunikation von Nutzern zu unterminieren'. Doch das ist die Quadratur des Kreises: Entweder werden vertrauliche Inhalte automatisch überprüft und Treffer an Dritte weitergeleitet - oder nicht."
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