9punkt - Die Debattenrundschau

Undenkbar noch vor Monaten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.05.2022. Alissa Ganijewa schildert in der FAZ die Mentalität der Machtfixierung in Russland: Putin ist nicht der Herrscher Russlands, weil er so beliebt ist, sondern er ist so beliebt, weil er der Herrscher ist. Entweder "Nie wieder Krieg" oder "Nie wieder Auschwitz", meint Thierry Chervel im Perlentaucher - beides zusammen geht nicht. Die Welt erzählt die Geschichte der rührenden Männerfreundschaft zwischen Gerhard Schröder, dem Unternehmer Bernd Freier und dem Historiker Gregor Schöllgen. Zornig antwortet Karl-Markus Gauß im Standard auf Emma-Brief-Initiator Peter Weibel.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.05.2022 finden Sie hier

Europa

Putin ist die Verkörperung einer Mentalität der Angst und Machtfixierung, die in Russland auch deshalb entstand, weil man die Freiheit so gut wie nie kennengelernt hat, schreibt die Autorin Alissa Ganijewa in der FAZ. Und Unfreiheit hat durchaus ihre komfortable Seite: "Putin ist nicht der Herrscher Russlands, weil er so beliebt ist, sondern genau umgekehrt, er ist so beliebt, weil er der Herrscher ist. Jeder andere mausgraue Typ mit Ambitionen und einem Messiaskomplex, und wäre er noch so korrupt, würde genauso einhellig akzeptiert und sogar verklärt, wenn er den Menschen nur ermöglichen würde, weiter in ihrem politischen Koma zu verharren."

"Russische Intellektuelle haben in den letzten zwanzig Jahren ihren Job nicht gemacht", ärgert sich die ukrainische Journalistin Daria Badior im Tagesspiegel (hinter Paywall): "Sie haben nicht für eine geistige Neugestaltung Russlands gesorgt und sind oft auch daran gescheitert, ihr eigenes Denken zu dekolonisieren. Kulturarbeiterinnen, Kritiker und Journalistinnen haben vielfach weder die Fremdenfeindlichkeit in Russland verurteilt noch die tiefe Verachtung, die die meisten Russen gegenüber den Ukrainern hegen. (…) Erkennen sie, dass die in intellektuellen Kreisen Russlands weit verbreitete Haltung der 'brüderlichen' Nationen unangemessen und kolonial ist?"

Es gibt nicht ein "Nie wieder", es gibt zwei, schreibt Perlentaucher Thierry Chervel zur jüngsten Debatte, ob man im Krieg stillhalten oder sich engagieren soll: "Es gibt ein 'Nie wieder Krieg' und ein 'Nie wieder Auschwitz'. Sie sind alles andere als miteinander identisch. Die Emma-Brief-Autoren ziehen auch aus dem jüngsten Krieg noch die Lehren aus den fünfziger Jahren: Es zeigt sich, dass wir den Schock des Krieges viel tiefer verinnerlicht haben als den des Holocaust. Habermas, Kluge, Schwarzer und Co. haben die antitotalitären Lehren aus der Geschichte  nie gezogen."

In einem Essay für den Freitag blendet die Autorin Alida Bremer in die Debatten zu den Jugoslawienkriegen zurück - die mit der aktuellen Debatte viele Gemeinsamkeiten hatten. Am Schluss protestiert sie gegen die gebetsmühlenhaft wiederholte Behauptung, es sei Gorbatschow versprochen worden, dass sich die Nato nicht ausdehnt: "Man muss sich das einmal vor Augen halten: Es war Nazi-Deutschland, das diese Länder zunächst ins Elend gestürzt hat. Bei der Befreiung von den Deutschen wurden die Länder von der Roten Armee überrannt und in Jalta dem Einflussgebiet der UdSSR zugesprochen. Dann fiel die Berliner Mauer - und als Preis für die Wiedervereinigung Deutschlands soll es Garantien gegeben haben, dass jene Länder weiter unter russischem Einfluss verbleiben sollten?"

Auch in der Republik Moldau gibt es Sorgen vor einer Intervention Russlands, sagt die Historikerin Rebecca Hayes im Welt-Gespräch mit Mladen Gladic. "Russland hat nie aufgehört, sich für die Teile des ehemaligen Sowjetimperiums zu interessieren, die unabhängig geworden sind. Der Transnistrien-Krieg wurde von Russland unterstützt. (…) Die Transnistrier gewannen ihn, weil die 14. sowjetische Armee, die während des Kalten Krieges in Transnistrien stationiert war, eingriff. Etwa 2000, nennen wir sie sowjetische Truppen, sind bis heute in Transnistrien geblieben und stehen im Grunde unter der Kontrolle Russlands. Die Regierung Moldaus und die OSZE haben gefordert, dass sie abgezogen werden. Aber die transnistrischen Behörden und die Russen verweigern das."

Der Medientheoretiker Peter Weibel nannte die Ukraine im Standard-Interview einen "failed state", unter anderem weil sie es nicht auf eine "einheitliche Sprache" gebracht hätte (Unser Resümee). "Abstrus" findet Karl-Markus Gauß das in der SZ: "Wer würde die Schweiz oder Kanada als 'failed states' bezeichnen, weil ihnen die 'einheitliche Sprache' abgeht? Muss man dem dreisprachigen Belgien das Existenzrecht absprechen, soll man darauf vertrauen, dass die Basken und Katalanen den spanischen Zentralstaat eines Tages in Trümmer legen werden? Würden sich die asiatischen oder afrikanischen Staaten heute den europäischen Nationalstaat des 19. Jahrhunderts zum Vorbild nehmen, wären permanenter Zerfall und endlose Bürgerkriege die Folge."

Selber Schuld, Putin, kommentiert Kai Strittmatter in der SZ Finnlands Entscheidung für die Nato: "Für Finnland selbst ist die Entscheidung für die Nato ein historischer Bruch. Schmerzlich für nicht wenige, nicht zuletzt für die regierenden Sozialdemokraten, die die Bündnisfreiheit als Teil der finnischen Identität verstanden. Die vergangenen Wochen waren dann eine erstaunliche Lektion in Sachen Demokratie: Es gab eine breite Debatte über Für und Wider eines Nato-Beitritts, an deren Ende nun ein breiter Konsens steht. Dabei waren die Bürger den Politikern diesmal voraus, tatsächlich trieben sie die anfangs zögerliche Politik in der Nato-Debatte vor sich her. Mittlerweile befürworten drei von vier Finnen eine Nato-Mitgliedschaft - undenkbar noch vor Monaten."

Der Westen unterstützt die Ukraine, aber mit welchem Ziel eigentlich? Nigel Gould-Davies vom International Institute for Strategic Studies findet hierzu in der New York Times einige einfache Worte: "Der Westen braucht eine Strategie, die garantiert, dass Russland sein Handeln am Ende bereuen wird. Ein Frieden, der zum zweiten Mal nach 2014 eine russische Invasion mit ukrainischem Territorium belohnt, hätte schwerwiegende Folgen für die Zukunft der Ukraine, die Sicherheit und Glaubwürdigkeit des Westens und die Normen der Souveränität und Nichteinmischung, die die internationale Ordnung stützen."

Hans-Martin Tillack erzählt in der Welt die Geschichte einer rührenden Männerfreundschaft. Es geht um Gerhard Schröder, seinen Hagiografen, den Historiker Gregor Schöllgen (1035 positive Seiten über das Wirken des großen Schröder legte er 2015 vor, mehr hier) und den Unternehmer  Bernd Freier von der Kleidungskette S.Oliver, der Schöllgens Lehrstuhl in Erlangen nach Erscheinen der Biografie viel Geld zukommen ließ: "Bereits 2005 stand der Unternehmer hinter einer Initiative für die Wiederwahl von Schröder als Kanzler. Organisiert wurde das von Freiers damaligem Kommunikationsdirektor Heino Wiese. Der war vorher Geschäftsführer der niedersächsischen SPD und später russischer Honorarkonsul in Hannover. Bereits für S.Oliver war Wiese nach eigenen Angaben im Russland-Geschäft aktiv. Im Jahr 2005 begründete er das politische Engagement für Schröder auch damit, dass dieser die Beziehungen zu Russland und China stärken und zur Erschließung neuer Märkte nutzen wolle."

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In NRW sind am Sonntag Landtagswahlen. Stefan Laurin schildert das Land in einer kurzen Porträtskizze für die Ruhrbarone als Quersumme von Wolkenkuckucksheim aus Politikervisionen für die Zukunft und traurigem Niedergang in der Realität: "Immer schlägt die Verführung des idealistischen Rausches die schnöde Beschäftigung mit den Problemen der Gegenwart: Man will die Welt verändern, aber Straßen, Hochschulen und Schwimmbäder zerbröseln, das Bruttoinlandsprodukt pro Bürger liegt unter dem Bundesschnitt. Ja, nicht einmal einen vernünftigen Nahverkehr bekommt man hin, weil geduldet wird, dass Dutzende Verkehrsgesellschaften nebeneinander werkeln. Aber man ist ja solidarisch in Nordrhein-Westfalen. Auch mit erfolglosen und überflüssigen Vorständen."
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Politik

"'Ich bitte alle Frauen in der Welt, für fünf Minuten in ein Paket zu steigen, und dann macht es jemand zu. So fühlen wir uns in der Burka'", zitieren Thomas Avenarius und Tobias Matern in der SZ die Afghanin Fauzia Khan, die ihnen von ihrem neuen Leben unter den Taliban berichtet: "Es könnte noch schlimmer kommen: Das Frauenbild der Taliban ist so engstirnig, dass sie während ihrer ersten Herrschaft den Frauen nicht nur den Schleier aufzwangen. Auch Lachen und lautes Reden in der Öffentlichkeit wollten sie verbieten - und Schuhe mit Absatz: Das Klackern der Absätze auf dem Pflaster würde die Männer zu unziemlichen Gedanken verführen."
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Stichwörter: Afghanistan

Ideen

In der FR verteidigt die Philosophin Olivia Mitscherlich-Schönherr das Scholz'sche Zaudern hinsichtlich der Waffenlieferungen: "Mit Blick auf Sokrates lässt sich Zaudern als Praxis zu verstehen, die Freiheitsspielräume eröffnet. (…) Gegenüber dem Durchregieren gewinnt der öffentliche Streit wieder an Macht. Öffentlich kann wieder aus alternativen Perspektiven darüber gestritten werden, wie die aktuelle Krisensituation in ihrer Komplexität zu analysieren und zu gestalten ist."

In der Welt legen die beiden Sprachwissenschaftler Ewa Trutkowski und Helmut Weiß dar, dass das generische Maskulinum älter ist als vermutet - und schließen: "Anstatt einer Machtverschiebung zugunsten von geschlechtermäßig Marginalisierten zu dienen, erscheint sogenannte geschlechtergerechte Sprache immer mehr als funktionales PrideDesign für Sprache: fernab der sprachlichen Realität, auf Internetseiten von Unternehmen, die sich dadurch 'pinkwashen' und entsprechende 'awareness' signalisieren wollen, aber bis zum Hals im GenderPayGap stecken ... Deshalb fragt sich: Wer außer denen, die so tun, spricht wirklich so?"
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Gesellschaft

Deutschland nutzte die Rente aus billigem russischen Gas, um immer obszönere SUVs mit gefälschten Abgaswerten nach China zu exportieren. Gabor Steingart ("manchmal liest man den Alten gern") durchleuchtet in seinem jüngsten Newsletter die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von China - hier ist Verflechtung viel komplexer, außerdem hat sich China ohnehin massiv in die deutsche Wirtschaft eingekauft. Und darum redet die Wirtschaft zwar nicht mehr bei Russland, aber immer noch bei China wie die SPD: "Die Russland-Sanktionen hat man mitgetragen. Ein ähnliches Vorgehen gegenüber China aber berührt den Kern vom Kern des deutschen Geschäftsmodells. Die Äußerungen von Herbert Diess auf der VW-Hauptversammlung darf die politische Klasse als höfliche Form der Kampfansage verstehen: 'Der frühzeitige Abgesang auf das Modell 'Wandel durch Handel' greift zu kurz. Blockbildung kann nicht unsere Antwort sein.'"

Reinard Bingener erzählt in der FAZ die Geschichte der Gasversorgung in Deutschland. "Anfang der Achtzigerjahre verfügte die deutsche Gaswirtschaft über relativ breit diversifizierte Bezugsquellen: Die Niederlande und Russland waren die wichtigen Lieferanten, daneben waren aber auch das heimische Niedersachsen sowie Norwegen wesentliche Bezugsquellen. Dann setzten indes Entwicklungen ein, die Deutschland mehr und mehr in die Abhängigkeit von Russland führten... Eine nicht unwesentliche Rolle spielt dabei die BASF." Naja, und "im Sommer 2021 fiel dann auf, dass die Gazprom-Speicher in Deutschland nicht wie üblich aufgefüllt wurden".

Meist sind es Kranke, Drogensüchtige, Obdachlose oder Hart-IV-Empfänger, die ihre Geldstrafen für Bagatelldelikte wie Schwarzfahren nicht zahlen können und in Folge inhaftiert werden, schreibt Ronen Steinke - jüngstes Buch: "Klassenjustiz" - im Feuilleton der SZ. Weshalb sich die "Initiative Freiheitsfonds" gegründet hat, die Spenden sammelt, um die Geldstrafen zu übernehmen: "Die meisten Hilferufe kommen gar nicht von den Straftätern selbst. Sie kommen von den Strafanstalten. Es sind E-Mails, in denen etwa ein Gefängnis-Sozialarbeiter aus Niedersachsen den 'Freiheitsfonds' fragt, 'ob eventuell ein Telefongespräch mit Ihnen möglich wäre', um über ein paar Härtefälle zu sprechen. ... Die Botschaft: Bitte helft uns, diesen Wahnsinn zu beenden! Bitte kauft uns unsere Gefangenen ab."
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Geschichte

Ukrainische Denkmäler werden dokumentiert und notdürftig geschützt, russische und sowjetische Denkmäler von den Ukrainern beseitigt. "Schon lange vor Kriegsbeginn hatten die Ukrainer ein kompliziert leidenschaftliches Verhältnis zu ihren Denkmälern", schreibt die Anthropologin Natalja Tschermalich in der NZZ: "Man erinnert sich an die Zerstörungswelle, von der 2014 nach Beginn der Maidan-Revolution die Lenin-Statuen massenhaft betroffen waren. Historiker beschreiben die Denkmäler aus der kommunistischen Ära oft als zu Stein erstarrte Ideologie. Die Zerstörung solcher Symbole nährt die Hoffnung, dass man mit dem zerlegten Stein auch die unerträglich gewordene Vergangenheit beseitigt. In der Ukraine rief der Volkszorn gegen sowjetische Denkmäler die Politiker auf den Plan. Heute sind kommunistische wie nationalsozialistische Symbole verboten. Seither haben Hunderte von Straßen ihre Namen geändert, und Hunderte von Denkmälern aus der Sowjetzeit sind verschwunden. Das ist wiederum bei einigen Intellektuellen auf Ablehnung gestoßen, da sie das sowjetische Kulturerbe - etwa modernistische Schilder aus farbigem Stein - als Teil der ukrainischen Kultur betrachten."

Außerdem: Laut einem Bericht eines Rechercheteams des NDR soll Stern-Gründer Henri Nannen während des Zweiten Weltkriegs in leitender Position an antisemitischer Propaganda beteiligt gewesen sein, berichtet Jens Jessen auf ZeitOnline:  Das Team "hat die Flugblätter ausgegraben, die vom Südstern produziert wurden. Es sind antisemitische Karikaturen und Hetzschriften, die Juden als Drahtzieher und Verantwortliche des Krieges hinstellen und die US-Soldaten als deren unwissende Opfer. Wenn Nannen nicht selbst Autor der Texte war, hat er sie doch als verantwortlicher Redakteur schreiben lassen..." Noch "unerfreulicher erscheint heute, dass niemand zuvor den Verdachtsmomenten nachgehen wollte".
Archiv: Geschichte