9punkt - Die Debattenrundschau

Eine geradezu schizophrene Trennung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.04.2022. Die Medien rätseln über die Lage in Mariupol - haben die russischen Soldaten Massengräber ausgehoben? Unter anderem berichet der Guardian. Die taz schildert die Lage in Charkiw, wo die Zivilbevölkerung unter Bombardement steht. In Deutschland verschärft sich der Streit um Waffenlieferungen. In der NZZ fragt sich Monika Maron, warum Alice Schwarzer bestimmte Männer bewundert und andere toxisch findet. Und in Frankreich wird Emmanuel Macron wohl gewinnen, allerdings gegen eine Mehrheit von Extremisten, notiert die FAZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.04.2022 finden Sie hier

Europa

Man sollte über den innenpolitischen Streitigkeiten nicht vergessen, was ein paar hundert Kilometer weiter weg passiert. Videodokumentationen zeigen, dass russische Soldaten in Mariupol Massengräber ausgehoben haben, berichtet etwa der Guardian heute: "'Die Leichen der Toten wurden lastwagenweise herbeigeschafft und einfach in die Gräber geschüttet', sagte Piotr Andrjuschtschenko, der Sprecher des Bürgermeisters Wadim Bojtschenko, auf Telegram. In den Gräbern könnten bis zu 9.000 Tote liegen, teilte die Stadtverwaltung von Mariupol am Donnerstag in einem Beitrag auf der Messaging-App Telegram mit. Der Bürgermeister schätzte, dass mehr als 20.000 Einwohner von Mariupol getötet wurden, seit die russischen Streitkräfte die Stadt in den ersten Tagen der Invasion von Wladimir Putin angriffen."

Während Mariupol zumindest nach russischen Behauptungen mehr oder weniger eingenommen zu sein scheint, wird Charkiw unablässig beschossen. Juri Larin berichtet für die taz aus der Stadt: "Die Beraterin des Leiters des Regionalrats von Charkiw, Natalja Popowa, ist sich sicher, dass die russischen Angriffe bewusst Zivilist*innen treffen sollen. 'Die Gesamtzahl der Angriffe auf Wohnviertel hat zugenommen. In Charkiw selbst gibt es nur wenige sensible Objekte. Wohin auch immer sie schießen, die Geschosse schlagen in Bäckereien, Cafés, Schulen und Kindergärten ein', sagt sie... Die Taktik der russischen Truppen sei heimtückisch, sagt sie. Auf den ersten Angriff folgt meist fünf bis zehn Minuten später ein zweiter an genau derselben Stelle. Die Russen wissen, dass sie ihre Leute nicht im Stich lassen. So sei der Rettungsdienst immer sofort da. Und dann erfolge die nächste Attacke. Doch es seien schon viele Charkiwer*innen und andere Ukrainer*innen gerettet worden. "

Währenddessen singt taz-Korrespondent Bernhard Clasen eine Hommage auf Odessa, das im 19. Jahrhundert als die "unrussischste" und europäischste Stadt des Zarenreichs galt: "Abenteuerlustige aus allen Ländern, aufgeklärte Freigeister, Unternehmer kamen ab 1794 ans Schwarze Meer, an den Rand der Steppe. Kirchen aller Konfessionen entstanden, Juden durften sich niederlassen, Bauern flohen aus den Dörfern, diese neue Stadt sprach sich herum und blieb in den Köpfen… Keine Leibeigenschaft, keine Mauern, kein Schloss, beseelt vom klassischen Ideal, ohne Höflinge und Schranzen und, nicht unwichtig, fern der russischen Hauptstadt - ein echter Aufbruch Ost am Rande der Steppe. Mark Twain schwärmte 1867 über die Stadt: 'Wir blickten die Straße hinauf, wir blickten hinunter, in diesen Weg oder jenen, wir sahen immer nur Amerika!'"

Putin hatte gestern mal wieder einen Fernsehauftritt. An einem ziemlich kurzem Tisch saß ihm in unterwürfiger Haltung sein Verteidigungsminister gegenüber, während sich Putin an den Tisch klammerte, als sei im Kreml Seegang. Man solle sich nicht die Mühe machen, das Stahlwerk von Mariupol zu erobern, man könne es ja auch blockieren, wies Putin großmütig an. Die Interpretation von FAZ-Korrespondent Friedrich Schmidt liest sich ein bisschen wie klassische Kremlologie: "Wichtig sei, dass Putins Präsidialverwaltung aufgrund von (geheim gehaltenen) Meinungsumfragen zum Schluss gekommen sei, Putin müsse als 'Friedensstifter' verkauft werden und nicht als 'Falke', um 'politisch zu punkten'. Somit zeige die öffentliche Ankündigung, auf die Erstürmung von Asowstal zu verzichten, dass der Krieg nicht von der großen Masse der russischen Bevölkerung unterstützt werde, wie es das Regime behauptet."
 
Kein anderes europäisches Land hat sich freiwillig in eine derartige energiewirtschaftliche Abhängigkeit von Russland begeben wie Deutschland, schreibt der Grünen-Politiker Ralf Fücks in der Welt. Aber das Geschäftemachen mit Russland gegen alle Einwände hat Tradition bis ins 19. Jahrhundert, fährt er fort: "Russland sollte als Rohstofflieferant den Aufstieg der deutschen Industrie gewährleisten, Deutschland im Gegenzug Maschinen und industrielle Fertigprodukte liefern. 1880 hatte Deutschland einen Anteil von 40 Prozent an den russischen Importen. Die Machtergreifung der Bolschewiki änderte nichts an diesem Grundmuster. 1931 kamen sogar 46 Prozent aller Einfuhren der Sowjetunion aus Deutschland. Die antiwestliche Allianz zwischen den beiden Mächten setzte sich nach dem Hitler-Stalin-Pakt fort, als die Sowjetunion noch bis zum Beginn des deutschen Überfalls im Juni 1941 kriegswichtige Rohstoffe an das 'Dritte Reich' lieferte. Die unbeirrt vorangetriebene wirtschaftliche Verflechtung mit Russland seit der Machtübernahme Putins beruhte auf einer geradezu schizophrenen Trennung von Wirtschaftsbeziehungen und Politik."

Könnte es sein, dass die Bundesregierung über die Frage der Waffenlieferungen stolpert, fragt Wolfgang Münchau, ehemals Financial Times Deutschland, im Spectator: "Es gibt Anzeichen dafür, dass dies geschehen könnte, auch wenn es noch ein paar Unfälle entfernt ist. Ironischerweise ist es nun an Friedrich Merz, dem Oppositionsführer und CDU-Vorsitzenden, den Zusammenhalt der Koalition zu testen. Seine Partei überlegt derzeit, ob sie im Bundestag ein formelles Votum für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine verlangen soll. Das würde die Koalition in die Bredouille bringen. Verschiedene Politiker der Grünen und der FDP könnten diesen Schritt unterstützen." Münchau bezieht sich auf einen Bild-Bericht, wonach Olaf Scholz hinter den Kulissen die Waffenlieferungen eher behindere.

Darüber, dass die Grünen und ihr Milieu lauter die Lieferung schwerer Waffen fordern als mancher Militärexperte, kann sich Hilmar Klute in der SZ nur wundern: "Keiner von ihnen hat, genau wie die Generation der heute Fünfzigjährigen, einen Krieg erlebt. Zum Glück. Keiner von ihnen hat einen Schimmer von den Folgewirkungen militärischer Schritte, keiner von ihnen kann auch nur drei Meter weit strategisch denken. Anders gesagt: Im wahrsten Sinn blutige Laien erheben sich sozialmedial, journalistisch und politisch zu Experten. Und sie stürzen sich wie irre gewordene Greifvögel auf Olaf Scholz' eigens sehr vage gehaltenen Begriff der Zeitenwende und leiten daraus die Zwangsläufigkeit eines militärischen Mandats ab. Die Vorsicht des Kanzlers, dessen durchaus etwas John-Cage-hafte Verlautbarungen, werden fast als Angriff auf die Wertemoral gesehen. Dabei ist Scholz durchaus zu Waffenlieferungen bereit, nur eben unter Aufwendung staatspolitischen Geschicks." Und bei Klute reicht ein Alter über 50, um sich der "Folgewirkungen militärischer Schritte" voll bewusst sein?

Es ist nicht richtig, dass Verhältnis der SPD zu Russland pauschal zu verurteilen, lange war der Versuch der Annäherung berechtigt, schreibt Joachim Käppner in der SZ. Aber der Fehler lag darin, "an diesem Versuch festzuhalten, als sein Misslingen immer deutlicher wurde. Mehr und mehr betrachtete Russlands Präsident die ausgestreckte Hand als Zeichen von Schwäche."

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Emmanuel Macron ist siegreich aus dem Duell mit Marine Le Pen hervorgegangen. Aber selbst wenn er die Wahl wohl gewinnt, erinnert Jürg Altwegg in der FAZ daran, dass "Macrons 'Block der Vernunft' eine Mehrheit der Extremisten gegenübersteht. Es ist eine Allianz des Antikapitalismus und Antiamerikanismus. Auch sie hat historische Wurzeln. Antikapitalisten waren die Roten und die Braunen. Den Amerikanern haben die Franzosen nie wirklich verziehen, dass sie im Krieg von ihnen befreit wurden. Mit Putin sind sie bedeutend nachsichtiger. Die Nähe zu ihm hat Marine Le Pen nicht geschadet."

Im französischen Wahlkampf spielte das Thema Algerien kaum eine Rolle, bemerkt Claus Leggewie in der FR fest. Auch Macron, der den Kolonialismus deutlicher als seine Vorgänger als Verbrechen einstufte, blieb zuletzt doch verhalten, fährt er fort: "Macron nimmt Rücksicht auf die 'nostalgériens', Nachfahren der pieds-noirs titulierten Algerienfranzosen, die sich nach ihrem Massenexodus vor allem in Südfrankreich angesiedelt haben und dort auch nach sechzig Jahren einen beachtlichen Wählerblock für Marine Le Pen bilden. Wie ihr Vater verwandelt sie die so empfundene Schmach der Niederlage 1962 in ein dauerhaftes antiarabisches, dann antiislamisches Ressentiment. Macrons vorsichtige Einsicht beschimpfte Marine Le Pen als 'verheerende Signale der Reue, der Spaltung und des Selbsthasses', Eric Zemmour, der aus einer jüdisch-algerischen Familie stammt, überholte sie noch mit der Rechtfertigung der in Algerien systematisch angewandten Folter, und die bürgerliche Kandidatin Valérie Pécresse reklamierte den Schlussstrich. Dieser 'sudisme' (Stora) überträgt frühere oder heutige, wahre oder eingebildete Benachteiligungen in ein rassistisches Weltbild, das weit in Bürgertum, Arbeiterschaft und Angestelltenmilieu reicht und die Stichwahl entscheiden kann."
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Medien

CNN hatte vor kurzem mit großem Brimborium und mit 300 Millionen Dollar Investitionen einen Streamingdienst eröffnet, der allerdings noch unter dem alten Chef Jeff Zucker ersonnen worden war. Und nun ist er kurz nach der Eröffnungsparty wieder abgeschaltet worden, berichtet die New York Times: "Die Abschaltung ist das schmachvolle Ende einer Operation, in die CNN zig Millionen Dollar gesteckt hat: von einer landesweiten Marketingkampagne über Hunderte von neu eingestellten Mitarbeitern bis hin zu großen Verträgen für bekannte Moderatoren, darunter der ehemalige 'Fox News Sunday'-Moderator Chris Wallace und die ehemalige NPR-Ko-Moderatorin Audie Cornish. Der Stop erfolgte nur zwei Tage, nachdem Netflix zum ersten Mal in einem Jahrzehnt einen vierteljährlichen Rückgang der Abonnementszahlen gemeldet hatte - ein potenzielles Warnzeichen für große Medienunternehmen, die sich dem zunehmend überfüllten Feld der Streaming-Dienste anschließen."
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Gesellschaft

In seiner Spiegel-online-Kolumne schimpft Sascha Lobo über den deutschen "Lumpen-Pazifismus, den er in den Überresten der Friedensbewegung verortet, aber nicht nur dort: "Es sind Menschen wie der Friedensbeauftragte der evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Friedrich Kramer. Er sagt auf die Frage, wie man auf die Kriegsverbrechen des Diktators Putin in der Ukraine reagieren solle: 'Manchmal können wir alle nur hilflose Zuschauer sein. Und das ist vielleicht gut so.' Es scheint mir kaum möglich, die eigene Ungerührtheit im Angesicht tot gebombter Kinder noch maliziöser zu feiern. Aber gut, es ist ein Bischof."

Auch Monika Maron kann in der NZZ nur den Kopf schütteln über jene, die Verhandlungsbereitschaft oder gar Kapitulation von der Ukraine fordern. "Warum richten diese Verteidiger des Friedens ihre Forderungen an die Ukraine, warum nicht an Putin? Und warum glauben sie, dass Putin, wenn er die Ukraine niedermetzeln durfte, sich nicht ermutigt fühlt, sich den nächsten Traum zu erfüllen, die Moldau oder vielleicht sogar das Baltikum? … Und Alice Schwarzer macht sich Sorgen um Putin. Man solle ihn nicht dämonisieren, schreibt sie und fragt, was ihn wohl so verhärtet hat. Den Mut der Ukrainer und ihres Präsidenten macht sie verächtlich als gefährliches, männliches Heldentum: 'Wo Helden sind, sind die Vergewaltigten und Toten nicht weit.' Und ihre Ahnungslosigkeit oder Herablassung belegt sie, indem sie von der 'kleinen Ukraine' spricht, dem zweitgrößten Flächenland Europas mit vierzig Millionen Einwohnern. Man hätte Putin von Anfang an geben müssen, was er wollte, dann gäbe es den Krieg und den drohenden Weltkrieg nicht. Darum fordert sie kühn: 'Verhandeln. Jetzt!', als hätte es nicht längst Verhandlungen gegeben, die an Putins ehernen Ultimaten gescheitert sind."
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Ideen

"Wir stecken mitten in einer Demokratie-Rezession", sagt Michael J. Abramowitz, Präsident der NGO Freedom House im Interview mit Susanne Lenz (Berliner Zeitung). "Ich glaube auch, dass die weltweiten Veränderungen im Mediensystem zum Niedergang beitragen. Die unabhängigen Medien werden schwächer. Journalisten stehen heute unter großem Druck. Sie werden ermordet, bedroht. Aber auch die wirtschaftliche Tragfähigkeit von unabhängigen Medien nimmt ab. Das bedeutet weniger Kontrolle für die Politik."
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Religion

Die orthodoxen Christen in der Ukraine können zwischen zwei Kirchen wählen - der eigenständigen Orthodoxen Kirche und der Ukrainischen Orthodoxen Kirche, die dem Moskauer Patriarchat und damit Kirill, einer "Säule des Putinismus", unterstellt ist, schreibt Sonja Zekri in der SZ und befürchtet ein neues Schisma: "Andrij Pintschuk, Ex-Bürgermeister und Erzpriester eines Dorfes bei Dnipro, hat auf Facebook eine Petition veröffentlicht, in der er die Absetzung Kirills als Oberhaupt der russischen Orthodoxie fordert. Das Konzept der 'russischen Welt', mit dem der Kreml - und Kirill - unter anderem seine koloniale Ukraine-Politik rechtfertigt, müsse als Abfall vom orthodoxen Glauben, als Häresie verurteilt werden. 400 Moskau unterstehende ukrainische Priester haben die Petition bislang unterschrieben. Selbst die Moskau unterstehenden Priester des Kiewer Höhlenklosters, das nicht nur Unesco-Welterbe ist, sondern als 'Vatikan' der Orthodoxie gilt, beten für den Sieg über Russland."
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Kulturmarkt

Moritz Baumstieger wirft für die SZ einen Blick ins direkt neben Dubai gelegene Emirat Schardscha, das sich nach einer Initiative des (an sich erzkonservativen) Scheichs Sultan bin Muhammed al-Quassimi anschickt ein Global Player im Literaturbetrieb zu werden. "Als reines Mäzenatentum ist diese Kulturförderung aber nicht zu verstehen - sie ist gleichzeitig Investment. Auch wenn die Geschäfte mit den Rohstoffen glänzend laufen, hat man in den Emiraten verstanden, dass das fossile Zeitalter zu Ende geht. Neben Messen für Kinder-, Jugend- und Erwachsenenliteratur hat die 2014 von der Regierung geschaffene 'Shardjah Book Authority' eine 'Publishing City' errichtet, eine Freihandelszone für Verlage und Buchgewerbe, mit Büro- und Lagerräumen und Druckereien, die - ganz unbescheiden - einmal zur Drehscheibe für den Buchmarkt weltweit werden soll."
Archiv: Kulturmarkt
Stichwörter: Dubai, Literaturbetrieb, Buchmarkt