9punkt - Die Debattenrundschau

Grausamkeit der Horde

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.04.2022. Viktor Jerofejew ist im deutschen Exil angekommen. Wenn Putin nicht einen Pseudosieg serviert bekommt, fürchtet er in der Zeit, "dann erscheint am Ende des Kriegstunnels eine Atomexplosion". Bei Zeit online fordert die Soziologin Gesa Lindemann eine europäische Armee. Alissa Ganijewa liest in der NZZ mitgeschnittene Gespräche russischer Soldaten mit ihren Müttern und ist entsetzt über die verrohte Sprache - gerade bei den Müttern. "Die Behauptung, dass russische Menschen in Deutschland und Europa jetzt die Opfer einer feindlichen Stimmung sind, ist größtenteils Putin-Propaganda", meint Sasha Marianna Salzmann im Tagesspiegel.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.04.2022 finden Sie hier

Europa

"Ukrainische Städte unter Beschuss, weitere Massengräber entdeckt", lautet die Schlagzeile heute. Und "Ukraine schlägt Verhandlungen in Mariupol vor", ohne Vorbedingungen (hier).

Viktor Jerofejew ist im deutschen Exil angekommen. Ein Beitrag von "Kulturzeit" zeigte ihn gestern im Schloss Wiepersdorf, wo er mit traurigem Lächeln die Lage kommentierte. Heute schreibt er in der Zeit einen Text von düsterer Pracht. Es ist nicht Putins Krieg, allzu einhellig machen die Russen mit, schreibt er. Jerofejew geht tief in die Geschichte zurück: "Das grausame und gnadenlose tatarisch-mongolische Joch, das sich vor allem in der Verhöhnung des russischen Volkes, der Verspottung der Fürsten und dem menschenverachtenden Verhalten gegenüber gefangenen Frauen manifestierte, legte sich schwer auf die russischen Fürstentümer des Mittelalters. Im Ergebnis infizierten sich die Moskauer Fürsten, devote Tributzahler der Goldenen Horde und teilweise Kollaborateure, um es in moderner Sprache zu sagen, mit dem Gedankengut ihrer neuen Herrscher. Nachdem sich das Moskauer Zarenreich von diesem Joch befreit hatte, wurde es, durchdrungen von der Grausamkeit der Horde, zu einem Nacheiferer von deren Autokratie und setzte deren abscheuliches Verhältnis zu allen ihren Untertanen, vom Bojaren bis zum Leibeigenen, in die Wirklichkeit um." Falls ihm die russische Armee nicht einen "Pseudosieg" beschert und Putin beleidigt ist, so Jerofejew, "dann erscheint am Ende des Kriegstunnels eine Atomexplosion".

Es ist nicht nur Putins Krieg, und gleichzeitig wird in der heutigen Zeit deutlich, dass das verkorkste Verhältnis der Deutschen zu Russland nicht allein eine Sache der SPD ist. Manuela Schwesig setzte sich nicht so sehr für Nord Stream 2 ein, weil es Arbeitsplätze brachte (längst nicht so viel wie Tesla in Brandenburg), sondern weil es in der Bevölkerung so populär war, schreiben Anne Hähnig und Martin Nejezchleba: Schwesig "wurde im vorigen Herbst mit sensationellen 39,6 Prozent der Stimmen gewählt - nur Monate nachdem sie den Bau der Pipeline vorangetrieben hatte. Auch die Opposition im Landtag war diesbezüglich lange auf ihrer Seite: Die Stiftung Klimaschutz wurde ohne jede Gegenstimme beschlossen. Auch die CDU, das gehört zur Wahrheit, war angetan von dem Konstrukt und stimmte dafür."

Und die deutsche Politik steigert sich in ihre Abhängigkeit geradezu hinein, schreibt Bernd Ulrich ebendort: "Es ist unendlich peinlich, man schämt sich. Und man sucht nach den Schuldigen. Je unmissverständlicher Putin durch Taten seinen Charakter offenbarte und je schamloser er seine Absichten erkennen ließ, desto vehementer vergrößerte die deutsche Politik ihre Abhängigkeit von ihm. Je aggressiver er sich gebärdete, desto wehrloser machte sich Deutschland."

Auch die deutsche Wirtschaft schreckt vor deutlicheren Sanktionen zurück. Stefan Wolf, Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, sagt im Streitgespräch mit dem Ökonomen Moritz Schularick: "Die Prognosen der Ökonomen unseres Verbands gehen von mindestens einer Million Arbeitslosen zusätzlich aus und von einem Minus des Bruttoinlandsprodukts von fünf bis sechs Prozent. Hinzu kommt, dass die Inflation weiter deutlich steigen würde. Das ist es aus meiner Sicht im Verhältnis nicht wert."

Die Kritik an Bundeskanzler Scholz ist übertrieben, findet Ulrike Herrmann in der taz. Er treibe eine ähnliche Politik wie Boris Johnson. Nur könne die Bundeswehr nicht liefern. "Sie wurde in den vergangenen Jahrzehnten totgespart, das Material ist verschlissen. Für die Schützenpanzer Marder, von der Ukraine heiß begehrt, gibt es nicht genug Munition und Ersatzteile. Die wenigen funktionsfähigen Exemplare, die übrig sind, braucht die Bundeswehr selbst."

Die Europäer geben keineswegs zu wenig Geld für Rüstung aus, meint die Soziologin Gesa Lindemann auf ZeitOnline. Was fehlt, sei allerdings eine europäische Armee, meint sie: "Gäbe es eine europäische Armee, die dazu in der Lage ist, die EU-Ostgrenzen zu verteidigen, würde auch Polen zu einem Hort glühender Europabefürworter:innen werden. Gerade gegenüber Russland wäre eine engagierte Verteidigungshaltung auch eine Haltung zur Verteidigung 'unsere(r) gemeinsamen Werte'. Wenn die militärische Gewalt, die gegen Russland schützt, zugleich die Gewalt zur Verteidigung der demokratischen rechtsstaatlichen Ordnung wäre, halte ich es sogar für fraglich, ob es in Polen zum Angriff auf die rechtsstaatlichen Prinzipien der Gewaltenteilung gekommen wäre. Denn Polen könnte darauf vertrauen, dass ein vereintes Europa einen effektiven Schutz gegenüber Russland bieten kann."

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Die gestrige Fernsehdebatte zwischen Emmanuel Macron und seiner Herausforderin Marine Le Pen hat nicht viel geändert, meint Louis Hausalter in Marianne: "Das erste Thema ... betraf den Alltag, denn es ging um Kaufkraft. Doch schon in ihren ersten Interventionen überschütteten die beiden Kandidaten das Publikum mit einer Flut von Zahlen und technischen Details. Die Aufmerksamkeit wurde gleich zu Beginn des zweieinhalb Stunden dauernden, relativ höflichen und langweiligen Meinungsaustauschs auf eine Probe gestellt."

Charlie hebdo hat sich den Wähler, die Debatte betrachtend, so ausgemalt: "Die Franzosen werden schon noch Gefallen daran finden."


Ein Wahlsieg Macrons ist keineswegs sicher - und ein Sieg Le Pens würde ein "Horror-Szenario" für Deutschland bedeuten, warnt die deutsch-französische Politikwissenschaftlerin Sophie Pornschlegel im Tagesspiegel: "Sie möchte die EU von innen aushöhlen, ganz im Stil von Viktor Orbán und der polnischen PiS-Regierung. ... Marine Le Pens Pläne sprechen für sich: Sie würde eine umfassende Diskriminierung von EU-Ausländern einleiten, auf dem Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche, für Sozialleistungen, auf dem Arbeits- und Wohnmarkt." Im SZ-Gespräch glaubt der französische Verfassungsrechtler Jean-Philippe Derosier weiterhin an die fünfte Republik, meint aber, dass sie modernisiert werden müsse.
Archiv: Europa

Gesellschaft

Antisemitismus breitet sich zunehmend in der Mitte der deutschen Gesellschaft aus, entnehmen Dirk Banse und Martin Lutz (Welt) dem "Lagebild Antisemitismus" des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Judenfeindlichkeit tauche vermehrt im Zusammenhang mit der Pandemie auf: "'Die Pandemie hat wie ein Brandbeschleuniger für Antisemitismus gewirkt', sagte Felix Klein, der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung Welt. 'Auch dadurch, dass er viele Milieus, die bisher für sich standen, miteinander verbunden hat.' Dazu kämen ein immer offener geäußerter israelbezogener Antisemitismus in allen Milieus und fortgesetzte Angriffe auf die Erinnerungskultur. 'Viele der antisemitischen Straftaten finden online statt, in Form von Beleidigung, Bedrohung, Volksverhetzung, Holocaustleugnung', so Klein."

Die russische Schriftstellerin Alissa Ganijewa liest in der NZZ mitgeschnittene Gespräche russischer Soldaten und ihrer Mütter, Frauen und Freundinnen und ist entsetzt über die verrohte Sprache - gerade bei den Frauen. Zu hören sei, wie jene  "bestialisch" und "obszön" zu Plünderung, Vergewaltigung und zum Töten auffordern: "Ein Marodeur, der plündert, brandschatzt, den Feind besudelt und Beute nach Hause bringt, gilt darin als tapferer Ernährer. Der russische Staat mit seiner nachgerade faschistischen imperialen Ideologie hat seinen armen, trägen und gedemütigten Volksmassen einen Freibrief ausgestellt, sich für ihr Elend auf Kosten freiheitlich denkender, ihr Leben aktiv gestaltender und europäisch gesinnter Menschen zu rächen. Der Kern des russischen Systems besteht seit langem aus bewaffneten Männern, die anderen bewaffneten Männern zudienen. Die Zahl der Ordnungshüter und Machtträger mit Schlagstöcken übersteigt mittlerweile deren Zahl in der UdSSR, obwohl die Bevölkerung Russlands nur halb so groß ist. Frauen werden dazu erzogen, andere Frauen zu hassen und Feminismus als Schimpfwort zu betrachten, als eine Geisteskrankheit, die der eigenen Erfolglosigkeit gegenüber Männern entspringt."

Außerdem: "Die Behauptung, dass russische Menschen in Deutschland und Europa jetzt die Opfer einer feindlichen Stimmung sind, ist größtenteils Putin-Propaganda", meint Sasha Marianna Salzmann im Tagesspiegel-Interview mit Nadine Lange (hinter Paywall).
Archiv: Gesellschaft

Medien

Auf ZeitOnline erzählt Witalij Sytsch, der das ukrainische Magazin NV leitet, vom journalistischen Arbeiten unter Kriegsbedingungen: "Wir produzierten 300 Nachrichtengeschichten pro Tag und wurden zusammen mit der Ukrajinska Prawda zu einer der zwei meistbesuchten Nachrichtenseiten in der Ukraine. Unsere Userzahlen stiegen im März sprunghaft an. Wir erreichten 25 Millionen Nutzer und etwa eine halbe Milliarde Seitenaufrufe. Die Russen zollten uns Anerkennung, indem sie großangelegte Cyberangriffe auf uns starteten - sie schickten 200.000 Informationsanfragen pro Sekunde an unsere Website und schafften es irgendwann, sie für fünf Stunden lahmzulegen. Unserem Chefprogrammierer gelang es - obwohl er in Wassylkiw, in der Region Kiew, unter Beschuss lag -, unsere Website wieder in Gang zu bringen und unsere Cybersicherheit so zu verbessern, dass es den Russen nie wieder gelang, die Website auszuschalten. Wir schafften es sogar, uns Zugang zu den Telegramkanälen der russischen Hacker zu verschaffen und wussten so im Voraus, wann sie einen Angriff starten würden."
Archiv: Medien

Geschichte

Für die Welt hat Sven Felix Kellerhoff ein vorab veröffentlichtes Kapitel aus dem Buch "Geheime Dienste. Die politische Inlandsspionage des BND in der Ära Adenauer" des Historikers Klaus-Dietmar Henke gelesen. Henke geht in dem Buch, das im Mai erscheint, der Verbindung der CDU zu Spitzeln des deutschen Geheimdienstes nach, die die Sozialdemokraten ausspionieren sollten - und spricht von einem "Super-Watergate". Die Studie bietet wenig neues, schon gar kein "deutsches Watergate", winkt Kellerhoff ab, der auch mit dem Historiker Rolf-Dieter Müller gesprochen hat: "Die Ausspähung der SPD hatte für die Arbeit des BND weder Priorität noch größeres Gewicht. Es war mehr eine Art von Gefälligkeit des Chefs für den Kanzler, die dieser wohlgefällig zur Kenntnis nahm, wenngleich viele Meldungen auch aus der Presse entnommen werden konnten, was beim BND ohnehin zur Routine gehörte."
Archiv: Geschichte

Ideen

Wenn die Atombombe erst gefallen ist, wird das feuilletonistische Drehen von Locken auf Glatzen (und der Sportteil in der "Heute"-Sendung) dann aufhören?

Eigentlich hatte Helmut Lethen Amerika schon als erledigt angesehen, wie er im Interview mit Ulrike Baureithel und Michael Angele im Freitag bekennt, "ein Land, das die schrecklichsten Zerstörungsmittel in seinem Kolonialkrieg in Vietnam einsetzte, um auch in Asien einen eigenen Hinterhof zu beherrschen. Das Rätsel ist doch, warum die USA trotz dieser Erfahrungen immer noch den Zauber des freieren Lebens ausstrahlen. War der Zauber schon ermattet und nach Afghanistan fast schon erloschen, so wird er jetzt durch Putins Angriffskrieg wieder aufgefrischt. Wie soll man damit umgehen?" Und dann noch Butscha: "Grauen versieht den Kontaktstrom der Empathie mit Energie."

Paul Ingendaay liest für die FAZ nochmal die von Juri Andruchowytsch herausgegebene Anthologie "Euromaidan". Da steht schon alles drin: "Dass Putin 'der europäischen Nachkriegsordnung ein Ende gesetzt' habe, schrieb also schon vor acht Jahren, mit genau diesen Worten, die in Kiew geborene und in Berlin lebende Schriftstellerin Katja Petrowskaja, bevor es kurz darauf auch der ehemalige tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg auf einem Podium in Wien sagte - sehr ruhig übrigens, mit Pausen und langen Blicken ins Publikum. 'Wladimir Wladimirowitsch Putin', so Schwarzenberg 2014 mit vollendeter Höflichkeit, habe mit der Krim-Annexion einen 'offenen Rechtsbruch' begangen, und wir müssten uns darüber im Klaren sein, dass jetzt 'eine sehr erfolgreiche Friedensepoche in Europa endet'."

Außerdem: Die französische Philosophin Corine Pelluchon wünscht sich in der Zeit, dass sich die Zeit des Universalismus in Frankreich dem Ende neigt und ein ökologisches Denken an seine Stelle tritt. Die taz-Linke Charlotte Wiedemann fordert "Nüchternheit statt der Heroisierung von Ukraine und Wehrhaftigkeit und eine neue Friedensbewegung gegen "allseitigen Imperialismus". Und Katrin Bettina Müller bespricht in der taz die Ausstellung über Moses Mendelssohn im Jüdischen Museum in Berlin und notiert, was die heutige Debatte von ihrem Protagonisten lernen kann: "Höflichkeit, Offenheit, Herzlichkeit, Witz und Ironie, Interesse und Neugierde, scharfe Kritik. Engagement, Lust am spielerischen Gefecht, Sachlichkeit, Gründlichkeit, Leidenschaft."
Archiv: Ideen