9punkt - Die Debattenrundschau

Die Kultur der nachträglichen Teilzerknirschung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.04.2022. Eines der Mittel, um die Russen glauben zu machen, sie seien die eigentlichen Opfer, ist die Instrumentalisierung des Holocaust, schreibt der belarussische Historiker Alexander Friedman in der taz. Die "Entnazifizierung" der Ukraine ist die Floskel, mit der Putin-Berater Sergei Karaganow den Krieg im Corriere erneut rechtfertigt. Unterdessen nimmt Putin laut Welt Abschied am Grab des Rechtsextremisten Wladimir Schirinowski. Nach der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen wird es vor allem darauf ankommen, wie sich die Anhänger Jean-Luc Mélenchons verhalten, analysiert France Inter.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.04.2022 finden Sie hier

Europa

Emmanuel Macron 28 Prozent, Marine Le Pen 23 Prozent, Jean-Luc Mélenchon 22 Prozent. Die traditionellen Parteien wie die Sozialisten, die bürgerliche Rechte, die Kommunisten und die Grünen sind pulverisiert. Und Eric Zemmour hat 7 Prozent bekommen und spricht sich im zweiten Wahlgang natürlich für Marine Le Pen aus. Die Frage wird aber vor allem sein, wie sich die Anhänger des Linkspopulisten Mélenchon verhalten, schreibt Victor Vasseur bei France Inter. Mélenchon, der wie Le Pen häufig Sympathien für Putin äußerte und einen Austritt Frankreichs aus der Nato befürwortet, hat eine scheinbar klare Empfehlung abgegeben, indem er dreimal wiederholte, es solle keine Stimme an die extreme Rechte gehen. Aber ist das klar? "2017 war Mélenchon vorgeworfen worden, er habe seine Wahlempfehlung zu spät gegeben. Diesmal ist es klar und deutlich. Aber trotz seiner Rede sind seine Wähler hin- und hergerissen. Sie hören, dass man der extremen Rechten keine einzige Stimme geben darf, aber Macron zu wählen, erscheint ihnen widernatürlich. In der zweiten Runde wird es also das Lager der Nichtwähler geben, diejenigen, die desillusioniert Macron wählen werden, und diejenigen, gerade erst beginnen nachzudenken."

Die ukrainischen Behörden leiten juristische Ermittlungen zu den ermordeten Zivilisten aus vormals russische besetzten Gebieten ein, berichtet Dominic Johnson in der taz: "Am Samstag wurde nach Behördenangaben ein Massengrab mit Dutzenden toten Zivilisten im Dorf Busowa entdeckt. Die Leichen hätten in einem Graben in der Nähe einer Tankstelle gelegen, sagte Taras Didytsch, Vorsteher der Gemeinde Dmytriwka, zu der Busowa und weitere umliegende Dörfer gehören, dem ukrainischen Fernsehen. Um wie viele Tote es sich handele, sei noch nicht klar. Busowa stand wochenlang unter russischer Besatzung. Bis Sonntagnachmittag hatte die Zahl der aufgefundenen getöteten Zivilisten in den von der Ukraine zurückeroberten Vorstädten von Kiew nach Angaben von Generalstaatsanwältin Wenediktowa 1.222 erreicht."

Dominic Johnson fragt in der taz auch, ob Putins Krieg auf einen "Völkermord" hinausläuft. Einige Kriterien zur Beantwortung dieser Frage lassen sich durch den Blick auf Ruanda klären, meint er: "Ruandas Kombination von ideologischer und militärischer Mobilisierung ähnelt auch Russlands Kriegsvorbereitung, von Putins berüchtigtem historischen Essay über die Nichtexistenz der Ukraine bis hin zum Truppenaufbau an der ukrainischen Grenze." Hinzu kommt die programmatische Hetzschrift Timofej Sergejzews (unser Resümee), veröffentlicht in der staatlichen Nachrichtenagentur Ria Nowosti: "Man könne in der Ukraine nicht zwischen Regierung und Volk unterscheiden, wird argumentiert. Die 'Entnazifizierung' der Ukraine sei nicht nur eine Militäroperation, sondern 'eine Serie von Aktionen gegen die nazifizierte Bevölkerungsmehrheit', eine 'Entukrainisierung'. Die Eliten seien zu eliminieren, das Volk - bezeichnet als 'sozialer Sumpf' - durch dauerhafte Zwangsarbeit und Umerziehung gefügig zu machen."

Die NZZ hat einen Artikel des russischen Politologen Wladimir Pastuchow übernommen, der in der Nowaja Gaseta erschienen war, fünf Tage bevor die Zeitung ihre Arbeit vorläufig eingestellt hat. Pastuchow geht darin der neuen "Para-Normalität" auf den Grund, die von den großrussischen Geistesströmungen der Geschichte geprägt sei: dem orthodoxen Fundamentalismus, der Slawophilie und dem Stalinismus: "Wenn man zum ersten Mal mit der neuen Kreml-Ideologie konfrontiert wird, verspürt man ein intellektuelles Unbehagen, so sehr wirkt dieses Produkt wie eine krude Ansammlung von Alogismen. Aber sobald sich das Auge an die Dunkelheit gewöhnt hat, erkennt man langsam durchaus vertraute und keineswegs neue Gestaltungselemente, die das Konzept als eine latente Spielart der Rassentheorie entlarven. Wie die meisten anderen Theorien dieser Art basiert sie auf einer hypertrophierten Vorstellung von der Rolle und Bedeutung der russischen Nation, der man Züge eines einzigartigen und unvergleichlichen historischen Subjekts verleiht."

Der Putin-Berater Sergei Karaganow hatte sich neulich schon im New Stateman geäußert (unser Resümee). Auch Im Gespräch mit Federico Fubini vom Corriere della Sera verteidigt er Putins Doktrin und bekennt sich zum Besgriff der "Entnazifizierung", der Legitimitationsfloskel für die russischen Verbrechen: "Beim Nationalsozialismus geht es nicht nur um Antisemitismus. Es geht darum, alle anderen Nationalitäten zu hassen und zu unterdrücken. Das hatte sich in der Ukraine ausgebreitet. Wir wissen nie, wie die militärischen Operationen enden. Entmilitarisierung bedeutet Zerstörung der ukrainischen Streitkräfte - das geschieht und wird sich beschleunigen. Natürlich, wenn die Ukraine mit neuen Waffen unterstützt wird, könnte das die Agonie verlängern. (...) Ich gehe davon aus, dass die Entmilitarisierung erreicht wird und dass es auch eine Entnazifizierung geben wird. So wie wir es in Deutschland und in Tschetschenien gemacht haben. Die Ukrainer werden viel friedlicher und freundlicher zu uns sein."

Es ist nicht mehr nur "Putins Krieg", sondern Russlands Krieg, hält der belarussische, in Deutschland lehrende Philosoph Alexander Friedman in der taz fest. Auch die Russen sehen sich in bewährter Täter-Opfer-Umkehr als Opfer eines "Völkermords", exemplarisch dargelegt in einem Song des Rappers Sergei Schnurow (unser Resümee), der Russen mit Judenstern auftreten lässt. "Das von Schnurow in seinem Song aufgegriffene Thema Holocaust wird ins russische Völkermord-Narrativ integriert: Die Russen und Russinnen gelten als 'neue Juden'. Die Instrumentalisierung des Holocaust, die sich im aktuellen Krieg beobachten lässt, hat in Russland ohnehin Tradition. Während der nationalsozialistische Judenmord in der UdSSR wenig beachtet wurde und in der sowjetischen Erinnerungskultur nur eine marginale Rolle spielte, wurde er nach 1991 deutlich intensiver behandelt und unter Putin - im Kontext der rasanten Aufwertung des Zweiten Weltkriegs - gezielt verwendet, um die baltischen Staaten, Polen, und vor allem die Ukraine zu diffamieren."

In Moskau ist der russische Politiker Wladimir Schirinowski gestorben. Am blumengeschmückten Sarg nahm auch Wladimir Putin Abschied von einem Rechtsextremisten, der noch jeden neuen Krieg Russlands freudig begrüßt hatte. In der Welt erinnert sich der Fernsehjournalist Adrian Geiges an Schirinowski: "Ein besonders makabres Beispiel, wie Schirinowski als Politclown vorwegnahm, was Putin dann im Ernst umsetzt: Im Juni 1995 schüttete Schirinowski in einer Talkshow Orangensaft über das Gesicht des demokratischen Politikers Boris Nemzow, der später zum wichtigsten Putin-Kritiker wurde. (...) Putin würdigte Schirinowski jetzt als 'erfahrenen Politiker', der 'offen für Diskussionen' und ein 'brillanter Redner und Polemiker' gewesen sei. Er habe immer 'eine patriotische Position' vertreten und 'die Interessen Russlands verteidigt'. Es ist grotesk: Putin begründet seinen Ukraine-Feldzug damit, er wolle das Land 'entnazifizieren'. Gleichzeitig verneigt er sich an dessen Sarg vor einem Mann, den man getrost als Nazi bezeichnen kann - und der offenbar bis zu seinem Tod in der russischen Führung bestens vernetzt war."

Cludius Seidl denkt in der FAZ über die wirklichen Bilder ukrainischer Leichen und die russischen Relativierungen nach, in denen sich ein seit langem bekanntes Muster russischer Propaganda zeige: "Natürlich widersprechen die Lügen einander, das sollen sie auch: Weil es nicht darum geht, zum Beispiel der Wahrheit des Westens eine eigene, stimmigere Wahrheit entgegenzusetzen. Es geht darum, die Möglichkeit von Wahrheit zu zerstören. Es geht darum, die Idee einer für alle verbindlichen Wirklichkeit abzuschaffen."

Frank-Walter Steinmeier, der Architekt der deutschen Russland-Politik und gerade wiedergewählter Bundespräsident, gesteht im Gespräch mit  Melanie Amann und Veit Medick vom Spiegel zwar Fehler ein, äußert sich an manchen Stellen aber fast patzig: "Ich zähle mich zu denjenigen, die ein politisches Leben lang dafür gearbeitet haben, dass der Krieg nie mehr nach Europa zurückkehrt. Das ist nicht gelungen. Waren deshalb die Ziele falsch?"

Die Aufarbeitung der deutschen Russland-Politik und Schlamassels der Abhängigkeit fängt gerade erst an, schreibt Mona Jaeger in der FAZ. Sie schlägt das Instument der Enquetekommission vor: "Einzelne Stimmen haben sie in Sachen Russland schon gefordert. Enquetekommissionen stehen im Schatten der Tagespolitik, was Nachteil, aber auch Vorteil ist. Bisher haben sie sich vor allem mit weicheren gesellschaftspolitischen Themen beschäftigt, die keinem wehtaten. Aber das ließe sich ändern."

Auf Zeit online fordert Christian Bangel einen Untersuchungsausschuss, um den russischen Einfluss auf die deutsche Politik zu untersuchen. Denn sonst stehlen sich alle - außer Matthias Platzeck - aus ihrer Verantwortung: Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD), die zu glauben scheine, "dass sie mit einer kompletten Schubumkehr die Erinnerung an die Rolle ihrer Landesregierung im Umgang mit Gazprom einfach tilgen kann" ebenso wie Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, der sich heute mit Putin nicht mehr an einen Tisch setzen möchte, aber trotzdem noch mit Russland Geschäfte machen möchte. "Diese Kultur der nachträglichen Teilzerknirschung zieht sich bis ganz nach oben" zu Angela Merkel, Olaf Scholz, Frank-Walter Steinmeier und Sigmar Gabriel, so Bangel. "Gut möglich, dass Putin bald die Option ziehen wird, den Krieg einzufrieren, um Ressourcen für den nächsten Schlag aufzubauen. Dann wird die Lage vorübergehend ruhiger erscheinen, ohne wirklich beruhigt zu sein. Wie lange wird es dauern, bis mental oder finanziell korrumpierbare deutsche Politiker dann wieder von Dialog sprechen, aber schmutzige Geschäfte auf Kosten unserer Nachbarn meinen?"

Und so richtig beliebt machen sich die Deutschen international ja immer noch nicht:



Archiv: Europa

Gesellschaft

Scharia wollen wir in Deutschland nicht, heißt es oft. Richtig, aber wollen wir wirklich die christliche Parallelgesellschaft, die hier immer noch geduldet wird, fragt Ronen Steinke in der SZ. "Die beiden christlichen Kirchen genießen Privilegien, die andere, zahlenmäßig auch bedeutsame Religionsgemeinschaften in Deutschland nicht genießen. Diese Ungleichbehandlung ist weitverbreitet, man findet sie im Bildungssystem, im Arbeitsrecht und natürlich im Steuerrecht, wo der Staat für die Kirchen die Mitgliedsbeiträge eintreibt. Vielleicht, so sagt es der Rechtswissenschaftler Eric Hilgendorf, dessen Standardwerk zum Religions- und Weltanschauungsrecht kürzlich in einer Neuauflage erschienen ist, hätten die Kirchen einen stärkeren Anreiz, 'kundenfreundlicher aufzutreten', wenn sie sich selbst um ihre Finanzierung kümmern müssten."
Archiv: Gesellschaft

Geschichte

Auf dem Gelände der Ditib-Moschee in Berlin-Tempelhof, die dem türkischen Verteidigungsministerium gehört, liegen zwei prächtige Ehrengräber. Hier liegen Cemal Azmi und Bahattin Schakir, erzählt die Historikerin Kristina Milz in der FAZ. Die beiden gehörten der jungtürkischen Regierung an und wurden vor genau hundert Jahren bei einem von zwei Armeniern begangenen Attentat in Berlin ermordet. Dass die beiden Politiker so prächtige Gräber in Berlin haben, zeigt auch, dass der Völkermord in der Türkei alles andere als aufgearbeitet ist, so Milz: "Gouverneur Azmi war berüchtigt als 'Henker von Trabzon'. Er soll zur sexuellen Befriedigung seines Sohnes einige der schönsten armenischen Mädchen im Alter von zehn bis 13 Jahren ausgesucht haben, bevor er die anderen im Meer ertränken ließ. 2003 wurde in der Türkei eine Grundschule nach ihm benannt. Bahattin Schakir, der andere, organisierte die Deportationen aus den Hauptsiedlungsgebieten der Armenier im Westen des Reichs und befehligte Todesschwadronen."
Archiv: Geschichte

Ideen

Den Westen als den Ursprung alles Bösen anzuprangern, funktioniert nur solange, wie man ihm Utopien entgegenhält, meint in der NZZ der Schriftsteller Giuseppe Gracia, der sich etwas mehr Augenmaß wünscht: "Beim Kampf gegen Rassismus, Sexismus oder Homophobie schweigen die Aktivisten in Europa oder den USA über die Zustände in nichtwestlichen Ländern - wo dieser Kampf am nötigsten wäre. Genau wie bei der Klimapolitik vergleicht man westliche Umweltpolitik nicht mit der Realität in China, Indien oder Russland. Stattdessen fragt man: Wie lange dauert es, bis Europa und die USA emissionsfrei sind? Dabei dominiert die sogenannte 'non human perspective'. Das bedeutet: Die Auswirkungen der Menschheit auf die Umwelt werden nach dem utopischen Ideal einer Umwelt ohne Menschen und ihre Maschinen beurteilt."

Außerdem: Lässt sich genetisch feststellen, ob jemand Jude ist? Klingt verrückt, aber in Amerika zum Beispiel sind Gentests de rigeur, um beispielsweise festzustellen, ob jemand wirklich indianische Vorfahren (und damit bestimmte Ansprüche an den Staat) hat. Das funktioniert auch bei Juden, glaubt Michael Wolfssohn nach Lektüre eines Buchs des an der neoorthodoxen Yeshiva University in New York arbeitenden Medizingenetikers Harry Ostrer, "Legacy. A Genetic History of the Jewish People".
Archiv: Ideen