9punkt - Die Debattenrundschau

Das Recht zu existieren

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.04.2022. In Time denkt Peter Pomerantsev darüber nach, wie Russlands Verbrechen an der Ukraine eigentlich genau zu bezeichnen sind. In der Welt erklärt Peter Sloterdijk die Herrschaft des permanenten Komplotts. Die Deutschen haben die Griechen einst bitter für ihre Fehler zahlen lassen, aber für ihre eigenen möchten sie nicht aufkommen, ärgert sich Paul Krugman in der NYTimes und meint damit, Putin ermöglicht zu haben. Warum konnten eigentlich nur Diktatoren und Autokraten von der Globalisierung profitieren, aber nicht die Demokratiebewegungen, fragt Katja Artsiomenka auf ZeitOnline. Vor den Wahlen in Frankreich blicken SZ und Le Monde auf eine völlig erodierte politische Landschaft.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.04.2022 finden Sie hier

Ideen

Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Genozid. Peter Pomerantsev denkt in einem Essay für Time - sicher einer der wichtigsten Reflexionen zum Krieg bisher - darüber nach, wie genau Wladimir Putins Verbrechen an der Ukraine eigentlich zu benennen ist: "Der beste Begriff für das, was Putin tut, kam von einer Freundin, die sich unermüdlich gegen Russlands Verbrechen in Syrien engagiert hatte. Was hier angegriffen wird, sagt sie, ist das 'Recht zu existieren'. Im rechtlichen Sinne mag das unscharf sein, aber für mich liegt darin die Essenz von Putins Kriegen in Tschetschenien, Syrien und nun der Ukraine und seiner Unterdrückung in Russland. Sein Ziel ist es stets, anderen Menschen das Recht zu nehmen, selbst zu definieren, wer sie sind, ihre Zukunft, ihre Bedeutung. Er möchte nicht nur kontrollieren, wer lebt und stirbt, er möchte die Realität selbst kontrollieren."

Im Welt-Interview mit Ulf Poschardt erklärt Peter Sloterdijk, was es mit der großen Rot-Grau-Verschiebung auf sich hat, die er in seinem neuen Buch "Wer noch kein Grau gedacht" konstatiert und die sich auf Eric Hobsbawms 'Zeitalter der Extreme' bezieht: "Lenins 'roter Terror' von 1918 ging gleitend in das Stalingrau über, das aus der Synthese von Terror, Bürokratie und Geheimdienstherrschaft entstand. Mein Kronzeuge für diese Deutung ist Marcel Mauss, ein Mann mit den unantastbaren Beglaubigungspapieren einer generösen französischen Linken. Nach seiner 1936 formulierten Diagnose war das Sowjetsystem nur als 'Herrschaft des permanenten Komplotts' zu begreifen. Das ist der wahre Name der 'Diktatur des Proletariats'. Das permanente Komplott der Regierung gegen die Bevölkerung beschreibt die Situation in der östlichen Hemisphäre ab dem Dezember 1922, dem Moment der Gründung der Sowjetunion, zwei Monate nach Mussolinis Machtübernahme, und die Formel gilt bis heute. Zu seinen Konstanten gehörte die Ausdehnung des Namens 'Faschismus' von der italienischen Partei auf alles Nicht-Bolschewistische. Putin hängt in diesem Punkt weiter am stalinistischen Tropf, für ihn ist alles Nicht-Putinische blanker 'Faschismus', vor allem in der Ukraine."

Russland glaubt nicht wirklich daran, dass es von Nazis und Nato bedroht sei, stellt der Historiker Volker Weiß in der SZ fest, das Land nehme sich das Recht zum Krieg heraus, um imperiale Größe oder territoriale Hegemonie zu behaupten. Die Blaupausen für ein solches Denken findet Weiß nicht nur bei den üblichen Kreml-Ideologen von Alexander Dugin bis Sergei Karaganow oder Europas Rechtsradikalen, sondern auch bei den gern angeführten Geostrategen: "Zur Überlebensfrage für Russland wird der Krieg vor allem, wenn man ihn nach dem Muster der Heartland-Theorie liest, die der britische Geograf Halford Mackinder zur Zeit des Ersten Weltkriegs entwickelt hat: Es bestehe ein ewiger geopolitischer Konflikt um den eurasischen Kontinent, den Schlüssel zur Weltmacht. Freunde wie Gegner Putins beten zudem die Behauptung des US-Geostrategen Zbigniew Brzezińskis nach, Russland könne ohne die Ukraine kein Imperium sein. Ein Einflussverlust dort sei daher für Moskau nicht akzeptabel."
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Europa

Dass der Kreml und seine Oligarchen die britische Politik korrumpieren konnten, lag natürlich vor allem an der Gier nach dem russischen Geld, schreibt im Guardian Oliver Bullough, Autor des Buchs "Butler to the World". Aber nicht nur: "Der Kreml kontrolliert in Russland alles, und er setzt jedes verfügbare Instrument ein - das Militär, den FSB, die Wirtschaft, das organisierte Verbrechen, die Botschaften, die Medien - entweder einzeln oder in Kombination für jede Aufgabe, die er angehen will. Dies unterscheidet sich grundlegend von der Arbeitsweise des britischen Staates, und das hat es den Russen ermöglicht, mit Leichtigkeit durch die Ritzen unseres Systems zu schlüpfen: Die Bedrohung ist nicht rein kriminell, also ist nicht die Polizei dafür zuständig; sie ist nicht militärisch, also schreitet das Verteidigungsministerium nicht ein; sie wird nicht von Spionen betrieben, also schreiten unsere Sicherheitsdienste nicht ein."

"Wie Deutschland zum Ermöglicher Putins wurde", erklärt Paul Krugman in der New York Times. Er kritisiert, dass Deutschland ein Energieembargo ablehnt, obwohl die Kosten, wie er beteuert, tragbar wären. Und er erinnert an die griechische Schuldenkrise und die strenge Austeritätspolitik, zu der Deutschland die schuldenbelasteten Ländern gezwungen habe: "Zwischen 2009 und 2013 schrumpfte die griechische Wirtschaft um 21 Prozent, während die Arbeitslosenquote auf 27 Prozent stieg. Doch während Deutschland sich nicht scheute, Ländern, denen es eine unverantwortliche Kreditaufnahme vorwarf, eine wirtschaftliche und soziale Katastrophe aufzuerlegen, ist es nicht bereit, selbst weitaus geringere Kosten zu tragen, obwohl seine Energiepolitik in der Vergangenheit unbestreitbar unverantwortlich war."

Auf ZeitOnline erinnert Katja Artsiomenka daran, wie kleinherzig die EU 2020 davor zurückschreckte, scharfe Sanktionen gegen Belarus und Machthaber Alexander Lukaschenko zu verhängen: "Den friedlichen Protest zu unterstützen, hätte Wladimir Putin provozieren und den Frieden in Europa gefährden können. Belarus wurde gesehen als ein Staat, der eine Regierung, aber keine Souveränität hat. Der Westen hatte Belarus damit längst an Putin verschenkt, und die demonstrierenden Belaruss:innen und ihren Widerstand für ihre Freiheit verraten. Seit über anderthalb Jahren frage ich mich daher, wieso die westlichen Demokratien Freiheit, Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit immer noch als lokale Privilegien begreifen, während Diktaturen global agieren und gedeihen können. Wenn jemand in den vergangenen Jahren Freiheit bei der Umgestaltung der Weltordnung genossen hat, dann sind das die Diktaturen. Aber nicht die Menschen, die in ihnen existieren müssen.

Wer sagt, dass Putin den Krieg nicht gewinnt. Ein Sieg zumindest im Donbass ist keineswegs ausgeschlossen, meint Zeit-Korrespondent Michael Thumann: "Vorstellbar ist folgendes Szenario: Die ukrainische Armee würde im Osten eingeschlossen werden, die russischen Truppen könnten vorrücken und das Land am Dnjepr möglicherweise in zwei Teile zerschlagen. Das wäre, wenn es gelänge, ein erheblicher Erfolg auf dem Schlachtfeld - und eine gewaltige Schwächung der Ukraine." Vor allem aber, so Thumann, wirkt das Leben in Moskau noch völlig normal. Die Geschäfte sind voll, die Restaurants auch. Und im Westen ist der Rechtspopulismus - Putins stärkste Bastion hierzulande, aber nicht die einzige - bestens in Form, wie Ungarn und Frankreich zeigen.

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Bei den morgigen Wahlen in Frankreich spielen Konservative und Sozialisten keine Rolle mehr, Präsident Emmanuel Macron steht allein Links- und Rechtsextremen gegenüber. In der SZ betont Nadja Pantel zwar, dass Macron auch Erfolge in seiner Amtszeit vorzuweisen hat, gibt ihm aber auch eine Mitschuld an der Erosion der politischen Landschaft: "Er hat sich in seiner Amtszeit kaum für demokratische Prozesse interessiert. Er hat auf die Spitze getrieben, was er eigentlich reformieren wollte: Zentralisierung und Personalisierung der Politik. Stattdessen lautet sein Motto: Da wo ich bin, ist die Mitte. Es braucht zur Konsens- und Lösungsfindung also keine öffentliche Debatte, sondern nur noch die Entscheidung des Präsidenten. Zu dieser Weltsicht passt auch sein Wahlkampf, der abgehoben, selbstgerecht und verkopft wirkt."

In Le Monde hält Jérôme Fenoglio nicht nur die Erfolge der äußeren Rechten für ein Problem, sondern die Politikmüdigkeit in allen Lagern, und das ausgerechnet zu einer Zeit, da Marktglauben und Globalisierung an ihr Ende gekommen seien: "Während überall die Politik wieder die Kontrolle übernimmt, bereitet sich der französische Wähler darauf vor, bei der großen Wahl, die ihm wie alle fünf Jahre bevorsteht, der Wahlkabine fernzubleiben.
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Medien

Bittere Ironie: In seiner Amtszeit hat Emmanuel Macron ganz auf den privaten Fernsehsender TF1 gesetzt, doch ausgerechnet dieser will am Sonntag nur eine Dreiviertelstunde Sendezeit für die Wahlen erübrigen, weil die Einschaltquoten mit Macron nicht mehr stimmen. Von den Öffentlich-Rechtlichen habe sich Macron distanziert, um nicht von ihrem linken Ruf infiziert zu werden, schreibt Altwegg: "Nach dem Verbot von RT und Sputnik forderte der Philosoph Michel Onfray ein Verbot auch der französischen öffentlich-rechtlichen Programme. In den vergangenen Wochen haben ihnen verschiedene Magazine - Causeur und die Wochenendbeilage des Figaro - äußerst kritische Titelgeschichten gewidmet. Die Sender sind die Zielscheibe eines Kulturkampfs, den nicht nur die Impfgegner und Putin-Freunde gegen die 'Mainstream-Medien' führen. 2017 nannte sie Macron eine 'Schande der Republik'. In diesem Wahlkampf verspricht er - wie die rechten Kandidaten auch - die Abschaffung der Gebühren. Doch im Gegensatz zu ihnen hat er nie von einer Privatisierung gesprochen."
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Geschichte

Im FR-Interview mit Harry Nutt ruft der Historiker Michael Wildt die Gewaltgeschichte in Erinnerung, die Osteuropa geprägt hat und die in der deutschen Aufarbeitung ausgeblendet wurde, auch wenn Wildt diese nicht als reinen Selbstbetrug bezeichnen würde: "Allerdings wurde in der Aufarbeitung des deutschen Vernichtungskrieges die Sowjetunion mit Russland gleichgesetzt und nicht gesehen, dass die nationalsozialistischen Massenverbrechen vor allem in der Ukraine, Belarus, Polen begangen wurden. Dass es dort auch stalinistische Massenverbrechen gab. In Deutschland weiß man nach wie vor sehr wenig über die Gewaltgeschichte in Osteuropa."

In der taz erzählt Francesca Polistina die Geschichte des Jungen Simon aus Trient, nach dessen Tod im Jahr 1475 Behauptungen die Runde machte, das Kind sei Opfer eines Ritualmordes geworden. Typischer Fall von Antijudaismus, klar, aber auch von gesteuerter Fake News, schreibt Polistina: "Was den norditalienischen Fall aus Trient so besonders macht, ist nicht die Legende an sich, sondern die Tatsache, dass er mit der Erfindung der Druckerpresse einhergeht. Cattoi vom Diözesanmuseum sagt, dass hier die Druckpresse für eine Schmähkampagne im modernsten Sinne des Wortes genutzt wurde. Simon wurde so zum vielfach vervielfältigten Symbol des christlichen Antisemitismus. Der Mann hinter dieser Kampagne hieß Johannes Hinderbach. Er war nichts weniger als der damalige Fürstbischof von Trient. Warum agierte er so? Der Antijudaismus war die eine Sache, Historiker Cattoi betont aber auch, dass es dem Fürstbischof persönliches Prestige und ökonomische Vorteile verschaffte. Es konnte nicht schaden, dass die Diözese nun einen Märtyrer vorzuweisen hatte."
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