9punkt - Die Debattenrundschau

Etwas sehr Vertrautes, fast Zartes

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.03.2022. Die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland machen Hoffnung, aber was ist, wenn Putins Rückzug aus der Region von Kiew nur Kalkül ist, fragt Bret Stephens in der New York Times. Die New York Times erinnert auch an die extrem brutale Kriegsführung Putins in Tschetschenien. In der taz erklärt eine belarussische Autorin, warum die belarussische Opposition auf Wolodimir Selenski sauer ist. In der Welt betrachtet Thomas Schmid ein Foto, das Sergej Lawrow und Frank-Walter Steinmeier in inniger Nähe zeigt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.03.2022 finden Sie hier

Europa

Die russische Armee zieht sich aus der Region Kiew zurück, Putins Verhandler zeigen sich bei den Friedensgesprächen ein bisschen konziliant, sagen die neusten Meldungen. Bret Stephens bleibt in der New York Times skeptisch und erinnert an den Tschetschenienkrieg: "In der Anfangsphase des Krieges löschten motivierte tschetschenische Kämpfer eine russische Panzerbrigade aus und versetzten Moskau in Staunen. Die Russen formierten sich neu und vernichteten Grosny aus der Ferne mit Hilfe von Artillerie und Luftstreitkräften. Russland operiert heute nach dem gleichen Schema. Wenn westliche Militäranalysten argumentieren, dass Putin in der Ukraine militärisch nicht gewinnen kann, meinen sie eigentlich, dass er nicht sauber gewinnen kann. Seit wann hat Putin jemals sauber gespielt?" Putins Kalkül, so Stephens, könnte auch sein, die Kontrolle über die riesigen Gasvorkommen im Osten der Ukraine zu gewinnen, während er die Bevölkerung durch Terror in die Arme des Westens treibt.

Auch in Grosny hatte heroischer Widerstand die Russen zunächst verblüfft, schreibt Carlotta Gall, die seinerzeit über den Tschetschenienkrieg berichtete, in einem Artikel, auf den Stephens verweist. Dann flankierte Putins Armee Grosny von drei Seiten und entfesselte einen furchtbaren Angriff aus der Luft. Anschließend "verlagerte sich der Kampf in die südlichen Vororte, wo die russischen Streitkräfte den letzten Widerstand mit bunkerbrechenden Bomben, die durch achtstöckige Gebäude direkt in die Keller voller Zivilisten stürzten, und mit Benzin-Luft-Bomben, die über den Dächern explodierten und eine gewaltige Druckwelle verbreiteten, vernichteten."

Einige russische Journalisten von Exilmedien haben ein Interview mit Wolodimir Selenski geführt, das in Russland natürlich sofort verboten wurde (unser Resümee). Darin hat sich Selenski nicht gerade feinfühlig über Belarus geäußert und gesagt, ihm sei egal, was Lukaschenko macht. "Hierzulande kam das zum Teil nicht gut an", schreibt eine belarussische Autorin unter Pseudonym in der taz: "Schließlich sind viele Belarussen auf der Seite der Ukraine, manche haben sogar aktiv den Kriegseinsatz von Belarus aus sabotiert, etwa indem sie Bahnstrecken beschädigen. Jetzt fühlen sie sich von Selenski im Stich gelassen - und das nicht das erste Mal: Der Einmarsch der russischen Armee von belarussischem Gebiet aus hätte vermieden werden können, wenn die Ukraine im Jahr 2020 die demokratischen Kräfte in Belarus unterstützt hätte. Doch Selenski habe offenbar mehr daran gelegen, die Wirtschaftsbeziehungen mit Lukaschenko aufrechtzuerhalten."

Auch die Litauer machen sich Sorgen, berichtet Gabriele Lesser ebenfalls in der taz, sie fürchten, dass Russland auch Litauen angreifen könnte - "über die 'Suwalki-Lücke', die extrem schmale Grenze zu Polen, die eingekesselt ist von der russischen Exklave Kaliningrad und Belarus" - hier eine Karte. Und Marina Mai befürchtet "ein Meer russischer und sowjetischer Fahnen am Sowjetischen Ehrenmahl (sic) im Treptower Park" bei einer geplanten prorussischen Demo am 9. Mai.

Einen wichtigen Artikel in der FAS haben wir übersehen. Nikolai Klimeniouk thematisierte die Schwächen der russischen Opposition mit ihren drei Gruppen um Alexej Nawalny, Michail Chodorkowski und Garri Kasparow: "Von den drei erwähnten Gruppen hat sich nur 'die Gruppe Kasparow' konsequent mit dem russischen Militarismus befasst. Dabei sind die anderen beiden Gruppen viel einflussreicher (Chodorkowski verfügt über Geld, Nawalny hat ein starkes Netzwerk aufgebaut), und bei ihnen spielten Russlands Kriege nie eine zentrale Rolle. Ihr Fokus war primär auf die Korruption gerichtet."

Ein Foto macht die Runde, aufgenommen 2016 bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Es zeigt Frank-Walter Steienmeier, damals noch Außenminister, und seinen russischen Kollegen Sergej Lawrow, wie sie sich beiläufig berühren. Welt-Autor Thomas Schmid interpretiert das Foto in seinem Blog: Lawrow wirkt nicht unfreundlich, behält aber seine charakteristische Düsternis und Verschlossenheit bei, anders Steinmeier: "Versonnen schaut er an (Lawrow) vorbei, den Anflug eines Lächelns auf den Lippen. Greift nach Lawrows Arm, zupft behutsam den Stoff des Jacketts, knittert ihn ein wenig. Die Bewegung hat etwas sehr Vertrautes, fast Zartes. So verhält man sich nicht, wenn man auf Distanz bleiben will. Die Geste scheint vielmehr zu sagen: Wir kennen uns gut, ganz egal, was hier geredet wird. Das Foto zeugt, allem Trennenden zum Trotz, von einem Einvernehmen."

Wie zäh der "Gesprächsfaden" ist, den Steinmeier um Himmels willen nie abreißen lassen wollte, erzählt der Reportern Jan A. Karon in einem Twitter-Thread:


"Zeitenwende" schön und gut, schreibt Nikolaus Busse in der FAZ. Aber "Deutschland betritt das neue Zeitalter mit einer politischen Klasse, die sich in einer Schicksalsfrage grundlegend geirrt hat. Vom Bundespräsidenten über die Parteien im Bundestag bis zu den Landesregierungen haben fast alle mitgemacht bei der jahrelangen Beschwichtigung Putins. An der eingeübten Außenpolitik hielt man in Nibelungentreue fest, bis es wirklich gar nicht mehr anders ging." Und wie Schuppen fällt es uns von den Augen: "Wie kann es sein, dass sich ein Land bei Öl und Gas, zwei zentralen Energieträgern, willentlich von einem einzigen Anbieter abhängig macht, noch dazu von einem, der seit vielen Jahren offen gegen den Westen vorgeht?"

Fake News sind auch nicht mehr, was sie mal waren, beschwert sich Georg Mascolo in der SZ. KGB und Stasi unterhielten riesige Labore für Desinformation, die sie zuweilen recht raffiniert im Westen platzierten, erzählt er. Heute sind die Fabrikationen so grob gezimmert, dass sie selbst von RT DE nur halbherzig verbreitet werden. Und übrigens: "Wer wissen wollte, wie der KGB gearbeitet hatte, für den gab es .. neben der ehemaligen Stasi-Zentrale in Berlin stets ein zweites Reiseziel: Es war Kiew, wo die ukrainische Regierung nach dem Zerfall der Sowjetunion die dortigen riesigen Archive des KGB übernahm und der Forschung weitgehend zugänglich machte." An die jüngste Verschwörungstheorie, bei der auch das Bernhard-Nocht-Institut in Hamburg, eine deutsche Forschungseinrichtung zur Bekämpfung von Tropenkrankheiten, eine Rolle spielt, und die behauptet, dass die Ukraine Angriffe mit Biowaffen auf Russland plant, glaubt offenbar nur noch Putin selbst.

Immer wieder werden den "Ajdar"- und "Asow"-Batallionen, in denen ukrainische Freiwillige kämpfen, neonazistische Tendenzen nachgesagt. Bernard-Henri Lévy wird attackiert, weil er sich an der Seite Maxim Marchenkos zeigte, der zu Ajdar gehört und jetzt Gouvernerur Odessas ist. Jacques Pezet untersucht in einem Faktencheck für Libération die Vorwürfe gegen die beiden Gruppen und kommt zu dem Ergebnis, dass sie zumindest bei Ajdar und Marchenko keine Grundlage haben. Er zitiert den Experten Adrien Nonjon: "Maxim Marchenko war von 2015 bis 2017 Kämpfer des Ajdar-Bataillons. Zu diesem Zeitpunkt stand das Ajdar-Bataillon bereits unter dem Kommando des Innenministeriums und war in die ukrainische Nationalgarde integriert, da ab Juni 2014 das Minsker Protokoll vorsieht, dass paramilitärische Gruppen unter die Kontrolle der jeweiligen Behörden übergehen." Unterdessen entblödet sich das rechtspopulistische Magazin Causeur nicht, Alexander Dugin zu interviewen: "Dies ist kein Krieg gegen die Ukraine, sondern gegen BHL und die Globalisierung."

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Die katholisch geprägte reaktionäre und antisemitische Rechte existiert in Frankreich mindestens seit der Dritten Republik. Nun spaltet sie die extreme Rechte im Land, schreibt Joseph de Weck, Autor des Buchs "Emmanuel Macron - Der revolutionäre Präsident" in der SZ: "Die mit ihrem Vater verkrachte Marine Le Pen verfolgt .. eine andere Strategie. Früh hat sie erkannt, dass der Pétainismus zu viele Stimmen kostet. Sie hat die Partei in Rassemblement National umbenannt - und lobt de Gaulle. Umso leichter dringt nun Eric Zemmour in die verwaiste Wählernische."
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Medien

Roger Köppel, einst Springer-Verlag, heute Weltwoche und populistischer Politiker in Zürich, gehört zu den Putin-Verstehern in der Schweiz, erzählt Jürg Altwegg in der FAZ. "Problematischer wird seine Doppelrolle als Politiker und Publizist jetzt im Krieg. In dieser Ausnahmesituation muss er sich die Frage stellen, ob er nicht an einer Relativierung des russischen Angriffskriegs in der Ukraine teilhat. Köppel sitzt in einer Falle, die er sich selbst gestellt hat."

In der SZ berichtet Cathrin Kahlweit darüber, wie tendenziös die gleichgeschalteten Staatsmedien in Ungarn, wo am Wochenende gewählt wird, über die Opposition berichten. Sie empfiehlt die Dokumentation "Ungarn - Propaganda gegen Pressefreiheit", die im ZDF lief und in der Mediathek des Senders noch zu sehen ist.
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Geschichte

Putin ist mittlerweise ein lupenreiner Faschist, schreibt der Historiker Michael Khodarkovsky (nicht zu verwechseln mit dem Ex-Oligarchen Michail Chodorkowsky) in der Welt. Er unterstreicht die Bedeutung der faschistischen Autoren Iwan Iljin und Alexander Dugin für Putin und fürchtet, dass faschistische Diktatoren nur auf zwei Weisen enden können: durch einen Putsch oder eine Niederlage. Damit stünde Putin in einer hehren russischen Tradition: "Tatsächlich fanden wichtige Veränderungen und Reformen in der russischen Geschichte nur als Folge einer militärischen Niederlage statt. Die demütigende Niederlage im Krimkrieg 1856 führte unmittelbar zur Abschaffung der Leibeigenschaft, die Niederlage gegen Japan 1905 zur ersten Verfassung und zum ersten Parlament, die Niederlage im Ersten Weltkrieg zum Aufstieg der radikalen bolschewistischen Partei und die Niederlage in Afghanistan 1991 zum Zusammenbruch der UdSSR."
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