9punkt - Die Debattenrundschau

Die Lüge, der Zynismus und die Ideologie

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.03.2022. Tag vierzehn der russischen Invasion. In der FAZ sieht Volker Weichsel Russland innerhalb einer Woche zur offenen Militärdiktatur gewandelt. In den Fluren der Macht herrscht Schockstarre, berichtet eine russische Journalistin auf Osteuropa. Thomas Friedman graut es in der NY Times vor dem Moment, in dem Putin realisiert, dass er nicht gewinnen kann. Die NZZ erinnert daran, wie sich Londons Theater und Museen den Oligarchen andienten. Und Peter Pomerantsev gratuliert dem Westen dazu, erfolgreich den Krieg von 2014 zu führen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.03.2022 finden Sie hier

Europa

Seit vierzehn Tagen kämpft die Ukraine um ihr Überleben. Russland spielt weiter Katz und Maus mit der Zivilbevölkerung von Kiew, Charkiw, Sumy und Mariupol. Es verspricht humanitäre Korridore, aber öffnet sie nicht. Die Zeit scheinen die russischen Truppen genutzt zu haben, um nach dem chaotischen Kriegsbeginn ihre logistischen Probleme zu beheben. Dem Guardian zufolge sagen Militärexperten einen Großangriff auf Kiew voraus. Die USA verhängen ein Embargo für Öl und Gas aus Russland.



Im Interview mit Paul Igendaay in der FAZ fürchtet der Osteuropa-Redakteur Volker Weichsel das Schlimmste für die Ukraine, wenn sich nicht in Russland eine Gegenelite formiert, die dem verbrecherischen Krieg ein Ende bereite. Weichsel stellt aber auch klar, warum sich der Zeitschrift Osteuropa nicht die moralischen Fragen stellen, denen sich der Klassikbetrieb mit seinen vielen Putinnahen Künstlern gegenüber sieht: "Die Lüge, der Zynismus und die Ideologie haben sich bereits seit vielen Jahren tief in die Köpfe und Herzen derjenigen gefressen, die der Macht dienten. Solche Autoren hatten wir schlicht nicht; da gibt es niemanden, den wir ausladen müssten. Unsere russischen Autoren sind äußerst mutige, integre Menschen, die wir gegen jede Anfeindung verteidigen würden. Das Problem ist ein anderes: Die Spirale der Repression hatte sich in Russland bereits in den vergangenen Jahren immer schneller gedreht. Für viele Autoren wurde es gefährlich, in einer westlichen Zeitschrift zu publizieren. Jetzt ist Russland innerhalb einer Woche zur offenen Militärdiktatur geworden."

Osteuropa selbst bringt den Text einer - anonymisierten - russischen Journalistin, die Zugang zur Moskauer Spitzenpolitik zu haben scheint: "Ein langgezogenes 'F*ck', so beschreibt einer meiner Gesprächspartner die Reaktion der Beamten auf den Krieg. Ihm zufolge ist die Stimmung auf den Fluren der Macht alles andere als rosig, viele befinden sich in einer Schockstarre. 'Niemand freut sich, vielen ist klar, dass das ein Fehler ist, aber weil sie einen Amtseid geschworen haben, lassen sie sich Erklärungen einfallen, um sich das irgendwie im Kopf zurechtzulegen', so eine weitere kremlnahe Quelle. Einige Beamte fühlen sich mit dem Geschehen überhaupt nicht verbunden; sie betrachten Putins Vorgehen als eine historische Entscheidung, die sie nicht beeinflussen können und deren Bedeutung die Welt wohl erst in geraumer Zeit verstehen wird. Hatte irgendjemand erwartet, dass Putin in den Krieg ziehen würde? Nein, sagen alle. Sie hatten geglaubt, dass der Präsident die Situation so weit wie möglich anheizt, um bei den Verhandlungen über Sicherheitsgarantien mehr Trümpfe in der Hand zu haben."

In der New York Times sieht Thomas Friedmann die größte Gefahr darin, dass es bald keinen Ausweg für Putin mehr geben wird: "Wenn Sie hoffen, dass die Instabilität, die Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine auf den globalen Märkten und in der Geopolitik ausgelöst hat, ihren Höhepunkt erreicht hat, ist Ihre Hoffnung vergebens. Wir haben noch nichts gesehen. Warten Sie ab, bis Putin voll und ganz begreift, dass er in der Ukraine nur noch die Wahl hat, wie er verlieren will - früh und klein und ein wenig gedemütigt oder spät und groß und tief gedemütigt. Ich kann mir gar nicht vorstellen, welche finanziellen und politischen Erschütterungen von Russland ausgehen werden - diesem Land, das der drittgrößte Ölproduzent der Welt ist und etwa 6.000 Atomsprengköpfe besitzt -, wenn es einen Krieg verliert, der von einem Mann angeführt wurde, der sich niemals eine Niederlage eingestehen kann."

Für Stefan Cornelius stellt sich in der SZ die Frage, ob Chinas Staatschef Xi Jinping seit Eröffnung der Olympischen Winterspiele über Putins geplanten Überfall auf die Ukraine Bescheid wusste: "Wenn er es wusste, dann darf er als Komplize Putins gelten, der den Krieg zumindest hingenommen hat. Hat ihm aber der russische Präsident seine Pläne verschwiegen und dennoch die gemeinsame Erklärung eingefordert, muss sich Xi hintergangen fühlen."

In ihrem ukrainischen Tagebuch erzählt Oxana Matiychuk in der SZ von einem kurzem Trip zum Dolmetschen an die Grenze nach Rumänien: "Die Hilfsbereitschaft in Rumänien ist überwältigend. Freiwillige, Übersetzer, warmes Essen, Kleidung. Feuerwehrautos bringen Menschen nach Siret, dem nächsten Ort, wo Abholende warten. Bis an die Grenze dürfen sie mit ihren privaten Autos nicht fahren. Dann eine Begegnung am Ortsrand, ein Kennenlernen, eine Umarmung ... Die Zeiten haben sich gewandelt: Deutsche bringen Ukrainerinnen und Ukrainer vor Russen in Sicherheit, ganz Europa versucht das verzweifelt."

Um die französischen Parteien steht es nicht gut, vielleicht sogar um die Demokratie, aber immerhin sind im Präsidentschaftswahlkampf die rechtsradikalen Unterstützer Wladimir Putins brutal abgestürzt, wie Michaela Wiegel mit Blick auf Eric Zemmour und Marine Le Pen in der FAZ notiert: "Da hilft es auch nichts, dass Zemmour jetzt bekundet, ihn gefriere das Blut, wenn er Putins tschetschenische Krieger sehe, die mit Allahu-akbar-Rufen in den Kampf gegen die Ukraine ziehen. Das auf der Rechten gepflegte Bild des Kremlchefs als Hüter des Christentums und Bewahrer traditioneller Familienwerte ist zerrissen. Zemmour war so weit gegangen, Putins Imperialismus als nationaler Selbstbehauptung zu huldigen. Er pries seine virile, autoritäre Amtsführung als Programm gegen die Verweichlichung der westlichen Gesellschaften. Auch Marine Le Pen gelingt es nicht, sich von ihren früheren Lobeshymnen auf Putin loszusagen."

In der SZ widerstrebt Nele Pollatschek die Rhetorik dieser Tage, die sich immer wieder auf Kinder beruft. Sie ist ihr zu manipulativ, auch bei Annalena Baerbock, die dieses Stilmittel besonders häufig einsetze, selbst wenn sie für Waffenlieferungen argumentiere. Aber: "Krieg schützt Werte. Krieg schützt Ideen (das Volk, den Sozialismus, die Demokratie) und politische Systeme - manche davon sind unfassbar schützenswert, andere ebenso kritikwürdig. Aber Krieg schützt Kinder nicht. Opportunismus schützt Kinder, 'sich sofort ergeben' schützt Kinder, fliehen schützt Kinder - nicht immer, leider, aber deutlich häufiger als Krieg. Das ist nicht schön, aber in der Regel gibt es einen Konflikt zwischen dem Bedürfnis, Kinder zu schützen und dem Bedürfnis, die eigenen Werte zu schützen. Und in der Regel findet man einen Mittelweg. In wirklich schrecklichen Fällen ist das Krieg."

Weiteres: Der Kirchenhistoriker Reinhard Flogaus berichtet in der SZ vom verstörenden Schweigen, mit dem der russische Patriarch Kirill auf die Invasion in der Ukraine reagiere. In der taz würdigt Anastasia Magasowa die Ukrainerinnen, die das Land nicht verlassen, sondern auf ihre Weise verteidigen, indem sie humanitäre Hilfe organisieren: "Wieder andere retten Leben in Krankenhäusern, kochen Essen für Tausende von Menschen. Es gibt Frauen, die Tag und Nacht am Steuer sitzen und Medikamente an die Front bringen, andere bekämpfen die Feinde an der Nachrichten- oder Cyberfront." Im FR-Gespräch berichtet die ukrainische Künstlerin Olia Fedorova vom Alltag in Charkiw zwischen Barrikaden und Molotow-Cocktails bauen und von der Überrumpelung durch den Krieg: "Die meisten Menschen haben sich überhaupt nicht vorbereitet, weil nur wenige daran geglaubt haben, dass Putin wirklich angreifen würde. Erst als sich die russische Armee in der Nähe unserer Grenzen versammelte, fingen einige Leute an, Notfallrucksäcke zu packen."
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Kulturpolitik

Die russischen Oligarchen haben in London nicht nur ihr schmutziges Geld gewaschen, sie haben sich auch Nobilitierung kaufen können, entweder direkt bei Boris Johnson oder durch großzüge Spenden an die Kultur, berichtet Marion Löhndorf in der NZZ. Museen und Theater müssen nun die einst so freudig begrüßten Abermillionen zurücküberweisen an Pjotr Awen, Viktor Vekselberg und Jewgeni Lebedew. Oder Len Blavatnik:  "Im Jahr 2017 wurde er in den Ritterstand erhoben. Als er 2016 ein Gebäude für die 2010 von ihm gegründete und mit 75 Millionen Pfund geförderte Blavatnik School of Government in Oxford errichten ließ, war er der reichste Mann Britanniens. Blavatnik unterstützte Ausstellungen im British Museum sowie in der National Gallery und machte eine der größten Spenden in der Geschichte der Tate Galleries zur Errichtung des Erweiterungsbaus der Tate Modern in London: 50 Millionen Pfund sollen es nach Angaben der Financial Times gewesen sein. Die jüngst abgeschlossene Renovierung des Courtauld Institute of Art unterstützte er mit 10 Millionen Pfund. Seit Jahrzehnten tritt er als hochgeschätzter Teil des kulturellen Establishments in Erscheinung, kritisch hinterfragt nur vom Guardian."
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Medien

In der FAZ blickt Michael Hanfeld auf Pawel Durows Telegram-Dienst, der von Ukrainern und Russen gleichermaßen genutzt wird, in keiner Weise Desinformation und Propaganda filtert, aber dennoch  einigermaßen sicher ist: "'Vor neun Jahren', schreibt Durow auf Twitter, 'habe ich die Privatsphäre von Ukrainern gegen die russische Regierung verteidigt - und verlor meine Firma und mein Zuhause. Ich würde ohne zu zögern wieder so handeln.'" Durows Mutter ist Ukrainerin.
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Geschichte

Am 9. März 1972 wurde in der DDR das "Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft" beschlossen, das das Abtreibungsrecht fortschrittlicher regelte, als es noch heute in Paragraf 218a geregelt ist, erinnert Arno Widmann in der FR: "Die Schwangere erhielt einen Termin in einem Krankenhaus, wurde vom Arzt, der Ärztin über die Art des Eingriffes und über Verhütungsmethoden aufgeklärt. Es folgte der Eingriff. Später gab es kostenlose Verhütungsmittel. Noch gegen Ende der 80er Jahre sollen in der DDR rund ein Drittel der Schwangerschaften abgebrochen worden sein. Das Ergebnis war ein deutlicher Geburtenrückgang. Den versuchte die Regierung der DDR durch die finanzielle Unterstützung junger Ehepaare zu bekämpfen. Mit dem Gesetz von 1972 brach die DDR radikal auch mit ihrer eigenen Tradition. Das Gesetz aus dem Jahr 1950 'Über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau' erlaubte einen Schwangerschaftsabbruch nur nach medizinischer oder embryopathischer Indikation, 'wenn die Austragung des Kindes das Leben oder die Gesundheit der schwangeren Frau ernstlich gefährdet oder wenn ein Elternteil mit schwerer Erbkrankheit belastet ist'.
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Gesellschaft

"Frauen betonen immer ihre Opferrolle. Ihr seid doch gar nicht die Opfer!" ist einer der "25 Bullshit-Sätze", den die Autorin Alexandra Zykunov in ihrem Buch "Wir sind doch alle längst gleichberechtigt" aufgreift. Aber Frauen sind Opfer, betont sie im Welt-Gespräch mit Marie-Luise Goldmann: "Wir müssen verstehen, dass es nicht an uns liegt, wenn wir in Teilzeitfallen landen und der Mann das Doppelte verdient. Klar gibt es auch unter Frauen mal mehr, mal weniger fähige Verhandlerinnen. Aber das erklärt nicht die Massen an beruflich und finanziell benachteiligten Frauen. Laut Expertinnen wird es noch drei bis vier Generationen dauern, bis wir bei einem gleichberechtigten Lohn angekommen sind. Und es ist übrigens auch nicht so, dass Frauen selbst schuld sind, wenn sie sich schlechter bezahlte Berufe aussuchen. Es ist nämlich genau andersherum: Studien zeigen, dass, sobald Frauen in eine gewisse Branche strömen, die Gehälter dieser Branche ganz automatisch zu sinken beginnen."
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Stichwörter: Gender Pay Gap