9punkt - Die Debattenrundschau

Ein Schritt in den Abgrund

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.02.2022. Wladimir Putin ist nicht realitätsfern, stellt James Meek im LRB-Blog klar, er ist die Realität. Der Handel mit Autokraten wandelt nicht, sondern korrumpiert, schreibt Ivan Krastev in der New York Times. Putin wollte die Welt so gern als maskuliner Kraftprotz beeindrucken, jetzt tut es der heldenhafte Wolodimir Selenski, stellen SZ und Welt fest. In der NZZ möchte sich Georgi Gospodinov nicht ins Gefängnis der Geschichte stecken lassen. Osteuropa übersetzt den Offenen Brief, in dem russische Wissenschaftler Putin vorwerfen, das Land in einen Paria-Staat zu verwandeln. Ljudmila Ulitzkaja hat in der FAZ dennoch wenig Hoffnung, dass Putin die Unterstützung der Eliten verliert.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.02.2022 finden Sie hier

Europa

Auch in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts hatten sich die Menschen in einer Nachkriegszeit gefühlt, erinnert Ivan Krastev in der New York Times. Wahrscheinlich steht uns jetzt ein ähnliches Erwachen bevor, vielleicht haben auch wir nur in einer Zwischenkriegszeit gelebt: "Jetzt wissen wir, dass sich Panzer nicht durch Sanktionen aufhalten lassen. Die von Europa gehegte Überzeugung, dass wirtschaftliche Abhängigkeit die beste Garantie für Frieden ist, hat sich als falsch erwiesen. Die Europäer haben einen Fehler gemacht, als sie ihre Erfahrungen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auf Länder wie Russland übertrugen. Kapitalismus reicht nicht aus, um Autoritarismus zu mildern. Der Handel mit Diktatoren macht das eigene Land nicht sicherer, und wenn man das Geld korrupter Politiker in den eigenen Banken aufbewahrt, zivilisiert man sie nicht damit, sondern korrumpiert sich selbst. Und Europas der russischen Kohlenwasserstoffe hat den Kontinent nur noch unsicherer und verwundbarer gemacht. Die destabilisierendste Auswirkung der russischen Invasion könnte sein, dass viele in der Welt anfangen, dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski zuzustimmen. Auf dem Münchner Sicherheitsforum in diesem Monat erklärte er, dass Kiew einen Fehler gemacht habe, als es die von der Sowjetunion geerbten Atomwaffen aufgab."

Im LRB-Blog wundert sich James Meek, wie viele westliche Politiker Wladimir Putin realitätsfern nennen, so wie Angela Merkel nach der Annexion der Krim meinte, er habe den Kontakt zur Wirklichkeit verloren: "Er ist nicht realitätsfern. Er ist die Realität. Wir sind diejenigen, die von der Realität losgelöst sind, dass Putin real ist und seine realen Streitkräfte wirklich Menschen töten, und dass wir wirklich nicht viel tun, um ihn zu stoppen, weil wir wirklich nicht bereit sind, unsere Kinder oder die Kinder anderer Leute in den Tod zu schicken. Und Putin ist es wirklich."

In der SZ weiß Nils Minkmar natürlich, dass es keine Helden gibt, aber trotzdem erkennt er in dem mit seinem Leben einstehenden Wolodimir Selenski einen Helden, der uns in unserer Indiffierenz erschüttern sollte: "Die Dominanz eines Denkens in persönlichen Interessen statt in Werten, die Selbstverständlichkeit, mit der Freiheit und Sicherheit, die die meisten nur geerbt haben, für eine Art von Dienstleistung erachtet werden, der Narzissmus, der noch die simpelsten Maßnahmen zur Eindämmung einer Pandemie wie das Maskentragen als unerträglichen Eingriff in die persönliche Freiheit denunziert. Dazu passte die moralische Gleichgültigkeit, mit der all die gut dokumentierten Verbrechen des russischen Präsidenten hingenommen wurden." Und das, wo sich doch Wladimir Putin seit Jahres mit kraftstrotzender Männlichkeit in Szene zu setzen versucht, ergänz Mara Delius in der Welt.

In ihrem ukrainischen Tagebuch in der SZ betont die Germanistin Oxana Matiychuk die Unterstützung für den Präsidenten: "Mir geht es in diesen Tagen wie sehr vielen anderen, die ihn nicht gewählt haben: Wir sind stolz auf unseren Präsidenten. Er wurde von der anderen Mehrheit gewählt, aber wir alle hatten freie Wahlen - im Unterschied zu unserem nördlichen 'Brudervolk'. Und alle, die sich als Bürgerinnen und Bürger der Ukraine verstehen, stehen hinter ihm. Um kurz nach sechs wird in Kiew ein Hochhaus von einer Rakete getroffen. Der russische Frieden, wie man ihn aus Tschetschenien, aus Georgien, aus Syrien kennt."

Putin will Europa nicht nur ins Jahr 1997 zurückschießen oder hinter die Auflösung der Sowjetunion, sondern eigentlich ins Jahr 1939, glaubt der bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinov in der NZZ: "Putin dreht die Zeit eigenhändig zurück. Mit diesem Krieg wendet er das 21. zurück ins 20. Jahrhundert. Er entscheidet das nicht nur für sein Land, sondern auch für ein Nachbarland, für ganz Europa, vielleicht sogar für die ganze Welt. Man kann niemanden mit Gewalt ins Gefängnis der Geschichte stecken, kein Individuum, noch weniger ganze Nationen."

Osteuropa hat übrigens den Brief russischer Wissenschaftler übersetzt, die die Verantwortung für den Krieg allein bei Russland sehen: "Indem Russland diesen Krieg begonnen hat, hat es sich international isoliert, Russland ist seit heute ein Paria-Staat. Das bedeutet, dass wir Wissenschaftler unsere Arbeit nicht mehr wie gewohnt fortführen können, denn wissenschaftliche Forschung ist ohne die umfassende Zusammenarbeit mit Kollegen aus anderen Ländern undenkbar. Die Abschottung Russlands von der Welt führt dazu, dass unser Land einen weiteren kulturellen und technologischen Niedergang erleben wird, ohne Aussicht auf einen Ausweg. Der Krieg gegen die Ukraine ist ein Schritt in den Abgrund."

In einem kurzen Interview in der FAZ sieht die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja wenig Hoffnungen, dass Putin die Unterstützung der russischen Eliten verliert: "Eine gewisse Wahrscheinlichkeit halte ich für gegeben. Aber ein Wechsel der Macht in die Hände der Militärs wäre kaum eine positive Perspektive für das Land. Und eine alternative politische Kraft gibt es derzeit in Russland nicht."

In der Berliner Zeitung sieht Michael Maier dagagen Putins Zeit sehr wohl ablaufen: "Putin weiß, dass seine Zeit abläuft. Die jungen unter den Oligarchen drängen nach. Eine Opposition gibt es zwar in Russland nicht mehr, wohl aber viele Opportunisten. Und sie alle haben Geld und Macht und können Putin zusetzen. Denn Freunde hat der einsame Präsident sicher keine. "
Archiv: Europa

Politik

Gut, dass Deutschland nicht mehr den "Geisterfahrer des Westens" spielt, kommentiert Dominic Johnson in der taz die Waffenlieferungen für die Ukraine zur Selbstverteidigung, aber die Zeitenwende wird erst noch kommen müssen: "Eine demokratische Neuordnung in Moskau ist unabdingbar, um nach der Schlacht um Kiew den Frieden in Europa wiederherzustellen. Ohne Putin könnte eine neue europäische Sicherheitsarchitektur unter Einbeziehung Russlands entstehen. Die Ukraine jetzt verteidigen und dann gemeinsam mit ihr an Europas zukünftiger Friedensordnung arbeiten - das wäre eine Langzeitperspektive für die deutsche Politik, die den Begriff der 'Zeitenwende' mit Inhalt füllen würde."

Herfried Münkler, Herr der Geostrategie, sieht im FR-Interview mit Bascha Mika bei Wladimir Putin einen "imperialistischen Opportunismus", der die strategischen Fehler des Westens genutzt habe. Schließlich sei die Nato nicht bereit gewesen, Atom-U-Boote ins Schwarze Meer zu schicken, um Russland mit einem Atomkrieg abzuschrecken: "Wenn man dieses Risiko von Beginn an nicht eingehen wollte - vielleicht zu Recht, um keine Eskalation zu provozieren - dann hätte man den Ukrainern aber deutlich machen müssen: Leute, die Finnlandisierung, also eine bündnispolitische Neutralität, ist das Beste, was ihr haben könnt. Im anderen Fall werdet ihr geschluckt, denn einen Krieg gegen Russland könnt ihr nicht gewinnen. Es war unfair vom Westen zu sagen, dass das Selbstbestimmungsrecht bei bündnispolitischen Fragen auch für die Ukraine gilt - um dann weder bereit noch in der Lage zu sein, die verkündeten Werte zu garantieren und durchzusetzen." Das Modell der Neutralisierung der Ukraine hatte Münkler schon im Dezember verfochten (unser Resümee): "Das Ziel bestünde darin, eine stabile Pufferzone herzustellen, zu der ganz sicher die Ukraine und Belarus gehören. Sie stehen zwischen den beiden großen Akteuren. So stoßen die nicht unmittelbar aufeinander. Das liegt doch auch in unserem Interesse."

Im Feuilleton-Aufmacher der FAZ beklagt Gerald Wagner das gestörte Verhältnis von Bundeswehr und deutscher Gesellschaft in postheroischen Zeiten und lernt etwa in Uwe Hartmanns Brevier "Der gute Soldat", dass verschiedene Zeiten verschiedene Soldatenbilder brauchen: "Hartmann wendet sich damit entschieden gegen die Tendenz zur Etablierung einer 'heroischen Gemeinschaft' elitärer Krieger, die auch die Gedankenwelt einiger Autoren von 'Armee im Aufbruch' geprägt hatten. Die mag Kampfeinsätzen wie in Afghanistan gerecht geworden sein. Die territoriale Sicherheitslage im heutigen Europa hingegen verlange wieder eine möglichst große Schnittmenge zwischen der politischen Kultur des Landes und der Führungskultur seiner Streitkräfte, fordert Hartmann."
Archiv: Politik

Wissenschaft

Auch der Klimawandel bleibt als katastrophische Drohung virulent, in der FAZ weist Joachim Müller-Jung allerdings darauf hin, dass Wissenschaftler wie der Amerikaner Michael Mann fürchten, ihre richtigen Befunde falsch kommuniziert zu haben: "In einem Kommentar mit dem Titel 'Die beste Wissenschaft, von der sie nie etwas gehört haben' propagiert er mit zwei Mitstreitern eine neue Sicht auf die Katastrophe. Allzu lange, sagt er, hätten Wissenschaftler den Eindruck vermittelt, mit dem heute in die Luft geblasenen und in der Atmosphäre sehr beständigen Kohlendioxid werde die Klimakatastrophe noch in dreißig, vierzig Jahren befeuert. Tatsächlich jedoch könne dem Temperaturanstieg quasi über Nacht Einhalt geboten werden, wenn die Emission augenblicklich energisch reduziert würden."
Archiv: Wissenschaft

Medien

Die chinesische, in den USA vom Pulitzer Center geförderte Wissenschaftsjournalistin Jane Qiu recherchierte mehr als ein Jahr zur "Laborthese" in Wuhan, sie ist die einzige Journalistin, der Shi Zengli, Leiterin des Labors, das im Zentrum der Vorwürfe steht, ein Interview gab, schreibt Marcel Gyr in der NZZ. Zengli beteuert, dass Sars-CoV-2 nicht aus dem Labor komme, Qiu glaubt ihr in ihrer Reportage, verweigert allerdings mediale Anfragen und vergleicht Verfechter der Laborthese mit Holocaust-Leugnern, berichtet Gyr.
Archiv: Medien

Religion

"Es gab und gibt ein klerikales Vertuschungssystem in der Kirche", aber kein "System Ratzinger", verteidigt in der Welt der katholische Philosoph Martin Rhonheimer den ehemaligen Papst Benedikt gegen die Vorwürfe, er habe zu den Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche zu lange geschwiegen. (Unsere Resümees). "Wie der Sekretär des Päpstlichen Rates für die Gesetztestexte in einem ausführlichen Artikel aus dem Jahre 2010 über den Einfluss Ratzingers bei der Revision der kirchlichen Strafrechtsordnung erläutert, lag das Problem darin, dass das Zweite Vatikanische Konzil die Stellung der Bischöfe gegenüber Rom stärken wollte. In diesem Geist dezentralisierte der neue Codex des Kirchenrechtes von 1983 strafrechtliche Kompetenzen, die früher beim 'Heiligen Offizium' (heute Glaubenskongregation) lagen, und setzte die bisher existierenden Strafnormen außer Kraft. Was Rom, und zwar der Kleruskongregation, verblieb, waren nur noch Gesuche zur Zurückversetzung von Priestern in den Laienstand. Das war aber für Missbrauchs-Straftäter absolut unpassend und zudem ungenügend. Ratzinger sah das und bemühte sich, der Kleruskongregation diese Kompetenz zu entreißen."
Archiv: Religion