9punkt - Die Debattenrundschau

Oft wütend und anarchisch

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.02.2022. Die Ukraine sieht dem zweiten Tag nach dem Einmarsch russischer Truppen entgegen. Im Guardian hält Timothy Garton Ash dem Westen vor, fahrlässig Putins Kriegskasse mit mehr als 600 Milliarden Dollar aufgefüllt zu haben. In Atlantic beschreibt Anne Applebaum, wie sich die ukrainische Identität unter Bauern und Leibeigenen bildete. In der FR betont Ilija Trojanow, dass die Sowjetunion eine imperiale Macht war. Ebenfalls in der FR fürchtet Viktor Jerofejew, dass die Mehrheit der Russen Putins Rachegelüste teilt. 
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.02.2022 finden Sie hier

Europa

Die Ukraine sieht dem zweiten Tag des russischen Einmarschs entgegen, womöglich gar der Einnahme Kiews. Die Kampfhandlungen haben über hundert Menschenleben gefordert, auch Präsident Wolodimir Selenski muss um sein Leben fürchten.

Wenn der Westen die Ukraine militärisch besser ausgerüstet, nicht so willig Gas und Öl aus Russland gekauft und das schmutzige Geld der Oligarchen genommen hätte, dann würde sich Europa jetzt von Wladimir Putin nicht mit einem Atomkrieg bedrohen lassen müssen, erinnert Timothy Garton Ash im Guardian. Aber noch kann der Westen etwas tun, muss es aber auch: "Wir können weiterhin Waffen, Nachrichtentechnik und andere Ausrüstungen an diejenigen liefern, die sich völlig zu Recht mit Waffengewalt gegen bewaffnete Gewalt wehren. Mittelfristig können wir denjenigen helfen, die sich mit den bewährten Techniken des zivilen Widerstands gegen eine russische Besatzung und den Versuch, eine Marionettenregierung zu errichten, wehren werden. Wir müssen auch bereit sein, den vielen Ukrainern zu helfen, die nach Westen fliehen werden. Drittens: Die Sanktionen, die wir gegen Russland verhängen, sollten über das hinausgehen, was bereits vorbereitet wurde. Neben umfassenden wirtschaftlichen Maßnahmen sollte es zu Ausweisungen von Russen kommen, die in irgendeiner Weise mit dem Putin-Regime in Verbindung stehen. Putin hat sich mit seiner Kriegskasse von mehr als 600 Milliarden Dollar und seiner Hand am Gashahn nach Europa darauf vorbereitet, so dass die Sanktionen erst nach einiger Zeit ihre volle Wirkung entfalten werden."


Kann irgendwer oder irgendwas Putin stoppen? Die russische Zivilgesellschaft jedenfalls nicht, meint der russische Schriftsteller Wiktor Jerofejew im Interview mit Friedrich Conradi in der FR: "Das ist eine wirklich traurige Situation. Wir Russen sind keine besonders politischen Menschen. Wir sind emotional und haben große Träume. Dadurch dass die Russen sich politisch so wenig auskennen und auch wirklich einfach unpolitisch sind, ist es so leicht, sie über das Fernsehen in eine Armee Putins zu verwandeln. Auch weil sie seine Werte teilen. Ich würde sagen, dass um die 90 Prozent in Russland Anhänger Putins sind und glauben, dass alles gut läuft." Jerofejews neues Buch wird übrigens "Der große Gopnik" heißen: "Gopnik bedeutet so viel wie kleiner Rabauke oder Rowdy. Es gibt für mich in Russland zwei solcher Gopniks: Putin selbst und das Volk als eine Art kollektiver Gopnik. Beide sind voll aufgestauter Rachegelüste, gewaltbereit und fest miteinander verbunden. Sie passen gut zusammen."

Einige kritische Stimmen gibt es in Russland aber doch, die Kerstin Holm in der FAZ versammelt, allen voran der Friedensnobelpreisträger und Chefredakteur der Nowaja Gaseta, Dmitri Muratow, der Entsetzen und Scham bekundet habe: "Muratow begründet diese Scham damit, dass niemand da sei, der diesen Krieg aufhalten könne. Präsident Putin spiele mit dem Atomknopf wie mit dem Schlüssel eines teuren Autos, sagt der Friedensnobelpreisträger in einer Videoansprache. Jedenfalls drohe seine Bemerkung von einer 'rächenden Waffe' der Welt offensichtlich einen Atomschlag an. Aus Solidarität mit der Ukraine und weil seine Kollegen das Nachbarland niemals als feindlich ansehen würden, wie Muratow versicherte, produzierte die Nowaja gaseta eine zweisprachige Ausgabe auf Ukrainisch und auf Russisch."

In einem kurzen Statement in der taz zeigt sich der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch heroisch: "Jetzt kommt es darauf an, ob unsere Armee in der Lage sein wird, die Russen zu stoppen. Ob sie Widerstand leisten und sich der Invasion entgegenstemmen kann, ob sie die Euphorie im Kreml abkühlen kann... Putin kennt nur zwei Lösungen der Krise. Entweder ergeben wir uns und erkennen damit an, dass wir zusammen mit den Russen eine Nation sind. Oder er zerstört uns. Wenn es nötig ist, schließe ich mich den Partisanen an."

"Ich bin nicht überrascht, ich bin am Boden zerstört", sagt der polnische Schriftsteller Szepan Twardoch im NZZ-Interview mit Paul Jandl und deutet den Ausbruch militärischer Gewalt eigentlich als ein Zeichen politischer Schwäche: "Es hat mit den Ängsten Wladimir Putins zu tun. Er fürchtet um seine eigene Position innerhalb der russischen Machtelite. Seit Zar Nikolaus II. hatten nicht viele der russischen Machthaber in den letzten hundert Jahren einen ruhigen Abgang. Es gibt also Gründe, sich vor einem Coup zu fürchten oder vor einem Regimewechsel. Die ökonomischen Zahlen in Russland sprechen ja für sich. Das Pro-Kopf-Einkommen ist niedriger als das in Polen."

Die Sowjetunion war eine ebenso imperialistische Macht wie Großbritannien oder Frankreich, schreibt der Schriftsteller Ilija Trojanow all jenen ins Gebetbuch, die vergessen haben sollten, wie die Länder des Ostblocks zu Kolonien degradiert worden waren: "Es ist daher absurd, einer Imperialmacht das Recht zuzusprechen, ein Veto einlegen zu dürfen hinsichtlich der außenpolitischen Entscheidungen dieser unabhängigen Staaten. Imperialismus ist Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und ein Verbrecher hat kein Mitspracherecht bei der Zukunftsgestaltung seiner Opfer! Zumal diese weiterhin an den Spätfolgen der Okkupation leiden. Die ökologischen Verheerungen etwa, die einseitige Entwicklung der Volkswirtschaften, die Zerstörung von Kreativität, Fantasie und kritischem Denken. Weiterhin ist der homo sovieticus nicht überwunden, nicht in Russland und leider auch nicht in den ehemaligen Kolonien."
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Geschichte

In Atlantic beschreibt Anne Applebaum sehr anschaulich, wie sich im 16. und 17. Jahrhundert die ukrainische Identität herausgebildet hat, auch wenn der Adel sich am polnischen oder russischen Hof ausrichtete: "In diesen Jahrhunderten entwickelte sich auch ein Gefühl des Ukrainischen, das mit den Bauern, Leibeigenen und Landwirten verbunden war, die sich nicht assimilieren wollten oder konnten. Die ukrainische Sprache, die ukrainische Kunst und die ukrainische Musik wurden auf dem Lande bewahrt, auch wenn in den Städten Polnisch oder Russisch gesprochen wurde. Zu sagen 'Ich bin Ukrainer' war einst ebenso eine Aussage über den Status und die soziale Stellung wie über die ethnische Zugehörigkeit. 'Ich bin Ukrainer' bedeutete, dass man sich bewusst gegen den Adel, die herrschende Klasse, die Kaufmannsschicht und die Städter abgrenzte. Später konnte es auch bedeuten, dass man sich gegen die Sowjetunion abgrenzte: Ukrainische Partisanen kämpften 1918 gegen die Rote Armee und dann wieder in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs und in den ersten Jahren des Kalten Krieges. Die ukrainische Identität war anti-elitär, bevor man den Begriff anti-elitär verwendete, oft wütend und anarchisch, gelegentlich auch gewalttätig. Einige von Schewtschenkos Gedichten sind in der Tat sehr wütend und sehr gewalttätig."
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Gesellschaft

Kürzlich beklagte der Leipziger Germanist Dirk Oschmann in der FAZ, der Westen maße sich an "den Osten identitätspolitisch zu interpretieren", Ostdeutsche würden lediglich als "Kunstdeutsche" betrachtet. (Unser Resümee). Ein solcher Text spaltet mehr, als dass er eint, erwidert heute im Tagesspiegel der Bielefelder Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal: Bei Oschmann werde "aus einer widersprüchlichen Gemengelage ein unvereinbarer Gegensatz zweier Lebenswelten in Deutschland. Er spricht von einem 'gänzlich irreparablen ökonomischen Ungleichgewicht'. Doch wie ist es um Wohnviertel, Schulen, Straßen und Parks in Städten wie Gelsenkirchen, Hagen oder im Essener Norden bestellt? Die Deindustrialisierung hat nicht nur in Ostdeutschland verheerende Spuren hinterlassen. Oschmann geht davon aus, dass eine durch Geburt, Ortsgebundenheit und Gemeinschaftserfahrung geprägte Ost-Identität existiert, die sich von der Herrschermentalität des Westens abgrenzen ließe. Das methodische Rüstzeug für ihre Beschreibung hat er offensichtlich aus den USA mitgebracht. Denn nicht nur bei den Rechten im 'Institut für Staatspolitik' in Schnellroda wird konfrontative Identitätspolitik betrieben, sondern auch dort, wo der Westen am westlichsten ist, an den links-liberalen amerikanischen Universitäten."
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Medien

In Kontext weist Josef-Otto Freudenreich auf den verzweifelten Kampf der MitarbeiterInnen der Südwestdeutschen Medienholding (SWMH) um ihre Zeitungen hin, also um Stuttgarter Nachrichten und Stuttgarter Zeitung. In der aktuellen Sparrunde sollen nicht nur weitere 55 Stellen gestrichen, sondern auch gleich die Ressorts aufgelöst werden - mit der aparten Begründung, dass eine weitere Reduzierung von Stellen für die Ressorts 'nicht mehr zumutbar gewesen' sei, wie 227 MitarbeiterInnen in einem Brief an die Geschäftsführung (pdf) schreiben: "Ihr Brief ist voller nie dagewesener Bitterkeit. Ein Manifest gegen eine Managerriege, die in ihren Augen (und die sehen es klar) alles zerschlägt, was diese Zeitungen einmal ausgemacht hat: die Qualität, die Köpfe, der Anspruch. Ihre Fragen kommen wie Kanonenschläge: Warum soll das Publikum für Inhalte zahlen, die keinen Mehrwert haben?"
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Politik

Passend zur russischen Invasion hat Freedom House einen neuen Report zur Demokratie in der Welt veröffentlicht. Es sieht düster aus, wie Yasha Mounk in Atlantic festhält. Im vorigen Jahr hat sich die Lage in sechzig Ländern verschlechtert: "Im Jahr 2021 hingegen stieg die Zahl der Putsche sprunghaft auf sieben an, den höchsten Stand seit 2000. Militärs in Ländern wie Myanmar, Sudan und Mali setzten im vergangenen Jahr die von ihnen bevorzugten politischen Führer mit Gewalt in hohe Ämter ein. Die Schwächung demokratischer Normen erlaubt es auch Präsidenten und Premierministern, die bereits im Amt sind, rücksichtsloser zu handeln. Unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges hatten selbst Diktatoren das Bedürfnis, sich vor dem Altar der Demokratie zu verbeugen. Die politischen Führer taten regelmäßig alles, um die Illusion aufrechtzuerhalten, demokratisch legitimiert zu sein. Auch wenn diese Bekenntnisse zur Demokratie nie aufrichtig waren, so schufen sie doch einen Anreiz für autoritäre Regime, Oppositionelle oder einfache Bürger nicht auf die offenste und brutalste Weise zu unterdrücken. Aber das ändert sich jetzt."

Die staatlich finanzierte Stiftung für Wissenschaft und Politik hat ein Papier vorgelegt, in dem es heißt, Israel betreibe "prima facie" eine Politik der Apartheid, berichtet Daniel-Dylan Böhmer in der Welt. Die Verfasserin Muriel Asseburg kritisiere darin zwar im einzelnen den Bericht von Amnesty International (Unsere Resümees), um dann aber doch Israel Apartheid vorzuwerfen, schreibt Böhmer und entgegnet: "Dass die Lebensverhältnisse in den besetzten Gebieten andere sind, lässt sich nur im Zusammenhang mit dem jahrzehntelangen Konflikt erklären und sicherlich auch aus beiderseitigen Ressentiments, nicht aber daraus, dass der Staat Israel an sich eine rassistische Ideologie zur Grundlage hätte oder durchzusetzen versuchte. Genau diese Unterstellung ist aber in dem Apartheid-Vorwurf enthalten. Er vergleicht Israel - nicht juristisch, sondern politisch - mit einem System, dessen Verfechter nicht ohne Grund enge Beziehungen zum nationalsozialistischen Deutschland pflegten. Damit ist er auch eine Steilvorlage für all jene Antisemiten, in deren Augen die Juden die eigentlichen Nazis sind und den Holocaust damit doch irgendwie verdient haben."
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