9punkt - Die Debattenrundschau

Das sichtbarste Symbol

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.02.2022. Wladimir Putins Gebaren zeigt, dass jenseits neuer Konzeptionen von Außen- und Sicherheitspolitik am Ende die schiere Militärmacht zählt, fürchtet der Tagesspiegel. Nur eine unabhängige Aufarbeitung kann die Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der Katholischen Kirche bewältigen, meint der Jesuitenpater Klaus Mertes in der FAZ. In der NZZ zerstört Masih Alinejad die Idee, dass das Kopftuch Ausdruck von Freiheit sein könnte.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.02.2022 finden Sie hier

Politik

Anmerkung um 11.25 Uhr: Wir haben in unserer gestrigen Presseschau eine Frage zu John McWorter gestellt. Der Verlag hat geantwortet, mehr hier.

Der auf der am Wochenende stattfindenden Müncher Sicherheitskonferenz (MSC) beschworene neue Blick auf Sicherheit, der Klima und Flüchtlinge mit einschließt, hat sich durch Putin als ein wenig obsolet erwiesen, fürchtet Christoph von Marschall im Tagesspiegel. It's the military, stupid: "Die halbe Welt pilgert nach Moskau, zu seinen Bedingungen. Dabei hat er wenig zu bieten außer dem Militär, das gemessen an der russischen Wirtschaftskraft völlig überdimensioniert ist. Bürgerrechte, Klimawandel, globale Ungleichheit sind Putin egal. Ebenso, dass Öl und Gas in absehbarer Zeit an Wert verlieren und niemand sagen kann, von welchem Wirtschaftsmodell Russland dann leben will. Hauptsache, er kann sie heute als Hebel nutzen."

Sehr kritisch schreibt übrigens Matthew Karnitschnig bei politico.eu über die Konferenz und ihren Chef Wolfgang Ischinger, dem er Verquickung offizieller und privater Interessen vorwirft. Bei Journalisten ist die Konferenz aber beliebt: "Im Laufe der Jahre hat die MSC keine Kosten gescheut, um Medien zu umwerben. Die Veranstaltungen bieten ausgewählten Journalisten nicht nur leichten Zugang zu weltweit führenden Persönlichkeiten, sondern auch Zugang zu einem Bereich, den die meisten nur selten erleben - den Schoß des Luxus. Im Gegensatz zu den meisten Think-Tank-Veranstaltungen, die spartanische Angelegenheiten mit abgestandenem Gebäck und lauwarmem Kaffee sind, sind die Zusammenkünfte des MSC prunkvoll, mit dem besten Wein, Essen und Unterkünften im Angebot."

Kamaltürk Yalqun hat bei den Olympischen Spielen von 2008 das olympische Feuer entzündet. Ein paar Jahre später wurde sein Vater Rozi Yalqun, ein uigurischer Literaturwissenschaftler, deportiert und ist seitdem verschwunden, schreibt Friederike Böge, die China-Korrespondentin der FAZ in einem Artikel zur Lage in Xinjiang: "Rozi Yalqun war nur einer der Ersten. Nach und nach verschwanden Intellektuelle, die sich um die uigurische Sprache, Geschichte, Musik, Literatur und Volksglauben verdient gemacht hatten. Ethnologinnen, Historiker, Sängerinnen, Dichter, selbst Autoren von Wörterbüchern. Das Uyghur Human Rights Project in Washington hat mehr als 300 Namen aufgelistet."

Entgegen der romantischen Verzückung der modischen Linken, die das Kopftuch als "Freiheit" gegen Diskriminierung im Westen verteidigt, ist es in Ländern wie dem Iran ein täglicher und kalter Zwang, sagt Masih Alinejad, Erfinderin der Kampagne "My Stealthy Freedom", im Gespräch mit Lucien Scherrer und Kacem el Ghazzali in der NZZ: "Wir Frauen in Iran stehen also jeden Morgen vor dem Spiegel - nicht, um so auszusehen, wie wir wollen, sondern um so auszusehen, wie jemand anderes uns haben will, unsere Männer, unsere Väter, die Regierung. Sie nehmen dir deine ganze Würde. Jeden Tag musst du das sichtbarste Symbol einer frauenfeindlichen Ideologie an deinem Körper tragen."
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Europa

Konrad Litschko singt in der taz eine Hymne auf Innenministerin Nancy Faeser, die am Samstag in Hanau gemeinsam mit den Familien des rechtsextremen Terroranschlags vor zwei Jahren gedenken wird. Die größte Bedrohung hierzulande sei der Rechtsextremismus, habe sie betont und ein starkes Engagement der Ampelkoalition versprochen: "Noch bleibt offen, wie viel Faser wirklich bewegen kann. Am Mittwoch führte die Bundesregierung schon mal einen Nationalen Gedenktag für Terroropfer ein, den 11. März. Die Opferfamilien verdienten mehr Empathie, sagte Faeser dazu. Ihr Aktionsplan aber ist bisher nur Ankündigung. Rechtsextreme Netzwerke sollen zerschlagen, die Szene entwaffnet, ihre Finanzströme ausgetrocknet werden. Zudem sollen Extremisten schneller aus dem öffentlichen Dienst fliegen und das lange geforderte Demokratiefördergesetz kommen." Der Gedenktag 11. März ist in Spanien nach den islamistischen Bombenattacken auf die Madrider U-Bahn geschaffen worden, mehr hier. Büşra Delikaya erzählt in eine großen Reportage außerdem, wie die Familien in Hanau heute mit dem Attentat umgehen.
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Kulturpolitik

Und noch eine Hymne auf eine Ministerin. Jörg Häntzschel lobt in der SZ Kulturministerin Claudia Roth, die einen neuen Politikstil einführt, wo es Monika Grütters nur um Geld für Gebäude gegangen sei. Und der "Pseudoskandal um die Documenta hätte leicht aus dem Ruder laufen können, die Künstler drohten Schaden zu nehmen. Doch Roth gelang es, die haltlosen Vorwürfe mit Gesprächen vom Tisch zu räumen. Als ein interner Bericht der Deutschen Welle kürzlich die antisemitischen Äußerungen von Mitarbeitern bestätigte, über die zuvor die SZ berichtet hatte, griff Roth ebenfalls durch. Die Pressemitteilung, die sie dazu verschicken ließ, glich einer heftigen öffentlichen Rüge des Intendanten." Bemerkenswert findet Häntzschel auch, dass Roth zur Münchner Sicherheitskonferenz fährt, wo sie mit Dissidentinnen aus Belarus sprechen will.
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Medien

In der Sache wegen Joe Rogan und Spotify kommt Martin Andree in der Welt nochmal auf medienrechtliche Rahmenbedingungen und Handhabungen zu sprechen. Dass Spotify sich mit dem Argument aus der Verantwortung herauswindet, dass man ja nur eine Plattform anbiete, werde spätestens dann wurmstichig, wenn man bedenkt, dass Spotify Joe Rogan 100 Millionen Dollar für Exklusivrechte an dem Podcast gezahlt hat, um damit gezielt Profite zu erwirtschaften. "Tatsächlich gibt es ein rechtliches Haftungsprivileg für Plattformen: Diese müssen im Gegensatz zu redaktionellen Angeboten (z. B. in Fernsehen, Radio oder Zeitungen) bis heute keine Verbreiterhaftung für kritische Inhalte übernehmen." Mit der Monetarisierung von Joe Rogan verwische diese Linie jedoch. "Buchstabieren wir das einmal aus: Wenn Joe Rogan über Spotify konsumiert wird, wäre die Plattform nicht verantwortlich (trotz der Zahlung von 100 Millionen US-Dollar). Würde Joe Rogan mit exakt denselben Inhalten etwa im Fernsehen auftreten, müsste der Sender volle Verbreiterhaftung übernehmen. Das ist eine massive Ungleichbehandlung, obwohl das wirtschaftliche Modell strukturell gleich ist (Content monetarisiert durch Gebühren oder Werbung)."

Der bekannte Journalist, Moderator und Autor politischer Biografien Peter Merseburger ist im Alter von 93 Jahren gestorben. Alice Schwarzer erinnert sich bei Spiegel online, wie er sich mit ihr solidarisierte, als ein Beitrag von ihr über Abtreibung auf der Druck von Kirche und Bild abgesetzt wurde. "Er galt als Linker, war aber eher ein Aufklärer und mit der SPD sympathisierender Liberaler. Politische Gläubigkeit war nicht seine Sache. Ihn charakterisierten Unabhängigkeit, Haltung und Gelassenheit." In der Berliner Zeitung schreibt Harry Nutt.
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Gesellschaft

Es passiert selten, dass eine Zeitung mal aufgreift, wenn in einer Stadt ein Traditionsgeschäft schließt, das eigentlich immer schon da war, so wie der große Schreibwarenladen Kaut-Bullinger nun in München, dessen letzte Tage Julia Schriever und Elisa Schwarz in der SZ begleiten. Probleme gab's schon länger: "Also haben sie versucht, die Kosten zu reduzieren, Stellen nicht nachbesetzt, Verträge mit Dienstleistern nicht verlängert. Und was ja keiner weiß: Sie beliefern Großkunden, die Allianz, BMW, bayrische Schulen, damit machten sie viermal so viel Umsatz wie mit den Kunden in der Rosenstraße. Aber es reichte nicht. Robert Brech sagt: 'Wir waren krank im Einzelhandel, und dann sind wir noch kränker geworden.' 2020, als die Seuche kam." Das Haus gehört jetzt natürlich der Signa-Gruppe von René Benko, der auch das KaDeWe zum Opfer fiel.

Ziemlich heftiige Vorwürfe macht der Medizinjournalist Werner Bartens im SZ-Feuilleton dem deutschen Gesundheitssystem mit seinen "Fallpauschalen", das inzwischen von Controllern regiert werde: "Häufig kommt es vor, dass die Pauschale aus wirtschaftlicher Sicht zu gering ausfällt. Dann werden zusätzliche Diagnosen erfunden, ergänzt und vor allem 'codiert', denn nur so sind sie für die Abrechnung relevant. Die Kranken werden kränker gemacht, als sie sind. Wenn das nicht reicht, werden Patienten 'blutig entlassen', also mit pflegeintensiven Wunden oder noch so geschwächt, dass sie kein Hausarzt und erst recht kein Angehöriger zu Hause versorgen kann."
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Geschichte

Es wird immer unwahrscheinlicher, dass Rosemary Sullivans mit einem Rechercheteam verfasstes Buch "The Betrayal of Anne Frank" (unsere Resümees) auf deutsch erscheint, berichtet in der Welt Sven Felix Kellerhoff, der mit Kritikern des Buchs gesprochen hat. Die Verlagsgruppe Harper-Collins, die das Buch auf deutsch herausbringen soll, bekundet zwar, noch an einer eigenen überarbeiteten deutschen Version zu arbeiten, nennt aber keinen Erscheinungstermin mehr.
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Stichwörter: Frank, Anne

Religion

Der Jesuitenpater Klaus Mertes hat im Jahr 2010 die sexuelle Missbrauchsgeschichte am Berliner Canisius Kolleg aufgedeckt. Im FAZ-Gespräch mit Paul Ingendaay blickt er kritisch auf den mangelnden Willen der Kirche zur Aufarbeitung zurück. Der in Endlosschleife vorgebrachten zerknirschten Rhetorik der Kirchenoberen traut er nicht. Auf die Frage, wie dieser Kreislauf zu durchbrechen sei, antwortet er: "Die Kirche kann das gar nicht selbst. Die Aufarbeitung muss unabhängig sein. Die Politik macht sich diesbezüglich einen schlanken Fuß... Beim Vorgehen gibt es mehrere Möglichkeiten. Eine von ihnen haben die Österreicher 2010, inzwischen auch die Franzosen und die Portugiesen ergriffen. Man beauftragt eine unabhängige Person von hohem öffentlichen Ansehen mit der Aufgabe, eine Kommission zu berufen, die ihrerseits einen Bericht verfasst, und die hochverdiente öffentliche Person kann nicht nur die nötigen Gelder dafür anfordern, sondern auch entscheiden, ob und wann dieser Bericht veröffentlicht wird und wie mögliche Entschädigungszahlungen aussehen sollen." Mertes  fürchtet allerdings, dass es dafür jetzt zu spät ist.
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Stichwörter: Katholische Kirche

Kulturmarkt

Einige kleine Verlage haben nun eine Leipziger Ersatzmesse organisiert, freut sich Tilman Spreckelsen in der FAZ. Teilnehmen werden aber auch "Verlage wie Aufbau, C. H. Beck, Hanser und Suhrkamp, aber auch Kampa, Klett-Cotta, Matthes & Seitz oder Schöffling - die Namen der sogenannten Konzernverlage fehlen. Auf sie hatte sich in der Berichterstattung nach der Absage der Messe einiger Unmut konzentriert, obwohl besonnenere Stimmen wie die des Messedirektors Oliver Zille vor einseitigen Schuldzuweisungen - West gegen Ost, Groß gegen Klein - gewarnt hatten."

Die Absage der Leipziger Buchmesse, die durch die Absage wichtiger Akteure nötig wurde, zeigt, dass sich die Buchbranche wie auch Publikum fragmentieren, schreibt Buchmarktexperte Rüdiger Wischenbart in seinem Blog. Und in anderen Ländern geht's noch brutaler zu: "In New York ist nach Jahren der zunehmenden Erosion die größte Business Veranstaltung der Buchbranche, die BookExpo America, de facto eingestellt worden. Immer weniger war den großen Akteuren in der nationalen Book Industry zu vermitteln gewesen, warum sie sich Raum und Aufmerksamkeit mit allen möglichen Anderen aus der vermeintlich gemeinsamen Branche hätten teilen sollen. Lieber arrangierten jene, die es konnten, die Meetings in den eigenen Büros in Manhattan. Da blieb man unter sich."
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