9punkt - Die Debattenrundschau

Orientbar mit Stripteasestange

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.02.2022. Sofi Oksanen beschreibt in der Zeit, was Finnlandisierung ist: freiwillige Unterwerfung, inklusive willfähriger Medien, Bildungsinstitute und Kulturschaffender. SZ und taz freuen sich über den juristischen Erfolg der EU gegenüber Polen und Ungarn. Die FAZ begeht virtuell Putins Versailles am Schwarzen Meer und findet viele Doppeladler. In der Zeit wird außerdem über die Absage der Leipziger Buchmesse und das Verhalten der Kulturwelt in der Pandemie gestritten. Anmerkung vom 18. Februar: Der Hoffmann und Campe Verlag antwortet auf eine Frage zu John McWhorter.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.02.2022 finden Sie hier

Europa

Die estnisch-finnische Autorin Sofi Oksanen beschreibt in einem beeindruckenden Text für die Zeit, was "Finnlandisierung" ist - und uns hoffentlich nicht bevorsteht: eine freiwillige Unterwerfung, inklusive willfähriger Medien, Bildungsinstitute und Kulturschaffender: "Aus estnischem Blickwinkel ist das alles schwer zu verstehen, denn das unter sowjetischer Besatzung lebende kleine Volk hatte keine andere Möglichkeit, als den Gesetzen der Diktatur zu folgen. Finnland dagegen war eine unabhängige westliche Demokratie, in der die Bürger ihre Entscheidungsträger in freien Wahlen bestimmten. Und für die Finnlandisierung bedurfte es nicht einmal irgendwelcher Gesetze: Jede Aktion, die sich gegen den Geist der sowjetischen Freundschaft richtete, scheiterte auch ohne amtliche Zensur oder Strafen. Der Konsens war robust, die Reinwaschung der UdSSR Landessitte." In den Mentalitäten, so Oksanen, ist die Finnlandisierung bis heute tief verinnerlicht.

Die EU hat gegenüber Polen und Ungarn vor Gericht einen Teilerfolg errungen, berichtet unter anderem Christian Rath  in der taz. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) lehnte Klagen gegen den sogenannten Rechtsstaatsmechanismus ab. Die EU darf Geldvergaben an die Bedingung knüpfen, dass rechtsstaatlich damit umgegangen wird: "Die EU habe das Recht, einen Mechanismus zum Schutz ihres Haushalts zu beschließen, so die Richter:innen. Das Ziel der neuen Verordnung sei nicht die Beseitigung von rechtsstaatlichen Mängeln in den Mitgliedstaaten, sondern der Schutz der finanziellen Interessen der EU. Das Geld aus Brüssel soll dafür ausgegeben werden, wofür es vorgesehen ist. Wenn in einem bestimmten Staat das EU-Geld vor allem an Regierungsgünstlinge gehe und es in diesem Staat keine unabhängige gerichtliche Kontrolle gebe, dann wären zugleich die finanziellen Interessen der EU verletzt."

"Rechtlich haben die beiden klagenden Staaten Polen und Ungarn eine totale Niederlage erlitten", freut sich Thomas Kirchner in der SZ nach der Niederlage von Polen und Ungarn vor dem EUGH: "Ja, die EU kann ihren Haushalt dagegen schützen, dass in Mitgliedstaaten gegen das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit verstoßen wird. Denn gerade in der Vergabe von Geld konkretisiert sich der 'tragende Grundsatz der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten'. Und ja, der neue Mechanismus ist ein zulässiger Ersatz für das Artikel-7-Verfahren, das eigentlich dazu vorgesehen ist, in die Illiberalität abgleitende Staaten zu stoppen. Er hat laut Urteil andere Ziele, einen anderen Gegenstand. Das Artikel-7-Verfahren ist letztlich ein zahnloser Tiger, weil Sanktionen nur einstimmig verhängt werden können. Deshalb verwenden die EU-Staaten nun das Geld als Druckmittel." Jetzt müsste nur die EU-Kommission in die Puschen kommen und ihre Vertragsverletzungsverfahren endlich selbst ernst nehmen, fordert Kirchner.

Während in Alexej Nawalnys Strafkolonie ein neuer farcenhafter Prozess gegen den deutlich abgemagerten Regimegegner geführt wird (es drohen ihm weitere 15 Jahre Gefängnis, unser Resümee), haben Nawalnys Anhänger neues Material über Putins Versailles am Schwarzen Meer gefunden, berichtet Kerstin Hom in der FAZ: "Dokumentiert sind eine Bar, ein Schwimmbad, ein Bad, ein Schlafzimmer und ein Salon mit vergoldetem Stuck, Deckenfresken, Seidentapeten und bestückt mit Louis-quatorze- sowie Louis-seize-Stilmöbeln, außerdem eine Orientbar mit Stripteasestange. Allgegenwärtige Doppeladlerembleme bekräftigen, dass der Palast als Präsidentenresidenz und keineswegs, wie der Kreml nach der Publikation des Films behauptete, als Luxushotel konzipiert war."

Die neuen Fotos sind hier zu sehen - und in diesem Video:

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Ideen

Der Linguist John McWhorter, selbst schwarz, kritisiert in seinem Buch "Die Erwählten" den Antirassismus der modischen Linken als Religion. In Deutschland äußert sich dieser Antirassismus unter anderem darin, dass man das Wort "schwarz", wenn von Schwarzen die Rede ist, auch in adjektivischer Verwendung groß schreibt (mehr zur Begründung dieser Praxis etwa hier). Armin Pfahl-Traughber zitiert in hpd.de aus McWhorters Buch (der Verlag bringt auf seiner Website leider keine Leseprobe). Und das liest sich so: "Wir sollen wegsehen, wenn Schwarze Kinder in der Schule von anderen Schwarzen Kindern angegriffen werden" oder "Wir sollen darüber hinwegsehen, wenn Schwarzen Intellektuellen in ihrer Arbeit Fehler unterlaufen, denn Schwarzen Menschen fehlen schließlich die weißen Privilegien." Hat da das Sensitivity Reading des Verlags zugeschlagen, macht es nur hpd.de so, oder will McWhorter es selbst?

Anmerkung vom 18. Februar. Der Hoffmann-und-Campe-Verlag hat auf unsere Frage geantwortet. "Folgenden Hinweis möchten wir dazu geben: Die Schreibweise 'Black' ist selbstverständlich mit dem Autor abgestimmt und in seinem Sinne - schreibt er doch selbst in seinen Kolumnen 'Black' und nicht 'black'."
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Internet

Dana Hajek hat für die FAZ unter dem Hashtag #Impfung Twitterdaten untersucht - die Recherche auf der Medienseite der FAZ bezieht sich auf den letzten Dezember und soll die Polarisierung bei dem Thema zeigen: "Unter den fünfzig größten Hubs, also den Accounts, die die meisten Reaktionen von anderen Nutzern erhalten haben, befinden sich etwa 67 Prozent aufseiten der Impfkritiker, lediglich 33 Prozent aufseiten der Befürworter."
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Politik

Frankreich muss in Mali Russland weichen, das mit seiner Kampfgruppe Wagner die frankreichfeindlichen Putschisten unterstützt, berichtet Michaela Wiegel in der FAZ: "Gewonnen hat Russland vor allem den Informationskrieg. Russia Today und Sputnik haben ein dichtes Netzwerk in Westafrika aufgebaut. Allein 622 afrikanische Nachrichteninternetportale stützen sich auf die Kreml-Organe, als seien sie zuverlässige Quellen. 37 dieser Informationsdienstleister unter russischem Einfluss sind in Mali tätig. Mehrere afrikanische Nachrichtenagenturen haben zudem Kooperationsverträge mit RT und Sputnik abgeschlossen. In Desinformationskampagnen wird eine feindselige Stimmung gegen die 'Besatzer' geschürt."
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Gesellschaft

In der SZ fragt sich die Schriftstellerin Husch Josten, ob sie in der Kirche bleiben soll: "Der Blick auf die zweitausendjährige Geschichte der Institution ist zumeist wenig erbaulich, wenn er auch immerhin beweist, dass Veränderungen möglich waren. Aber jetzt? Der Sachverhalt ist klar, doch mein Glaube bringt mich ins Schleudern, weswegen mit Woelkis Wiederkehr am Aschermittwoch für mich noch nicht alles vorbei ist. Denn der Austritt ist für mich auch eine Kardinals-, vor allem aber Glaubensfrage. Kann ich ohne Glaubensheimat glauben, ohne glaubenseinsam zu werden? Noch schaffe ich es nicht, meinen Glauben von der Institution vollkommen zu trennen, und ich kenne viele, denen es ebenso geht."

In der Zeit sieht Ijoma Mangold den Kampf zwischen den kanadischen Truckern und Premier Justin Trudeau als einen neuen politischen Kampf mit alten Mitteln: "Hier wird nämlich kurzgeschlossen, was bisher nur ahnungsweise als aufeinander reagierend in der Luft lag: die Verknüpfung des Corona-Protests mit dem Kulturkampf - das Woke-Establishment gegen die weiße working class. Der sogenannte Freiheits-Konvoi hätte nie weltweite Aufmerksamkeit gewonnen, wäre er nicht an diese Erzählungen anschlussfähig. Und die Verknüpfung funktioniert so gut, weil gleichzeitig eine Werte-Rochade stattgefunden hat. Stand links früher für Widerstand und Unangepasstheit, rechts für Law and Order und staatliche Autorität, ist es heute umgekehrt: Demselben Milieu, das im Bereich der politischen Korrektheit auf sprachliche Regulierung drängt, kann der Lockdown im Interesse des Gemeinwohls gar nicht hart genug sein, während die rechts-libertären Maskenverweigerer im Namen der Freiheit gegen den Maßnahmen-Staat demonstrieren."
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Kulturmarkt

Den Konzernverlagen die Schuld an der Absage der Leipziger Buchmesse zu geben, ist Adam Soboczynski in der Zeit zu einfach. Generell fehlte es den Verlagen an Mut und "Risikobereitschaft", überhaupt müsse sich das Kulturmilieu die Frage gefallen lassen, "ob es in all den Monaten zum Teil rigider Gesundheitspolitik, die für lange Zeit nicht einmal Veranstaltungen mit Masken zuließ, nicht zu duldsam, zu verständnisvoll, zu staatsfromm eingestellt war. Wer so lange die Verdrängung der liberalen Öffentlichkeit hinnahm, braucht am Ende nicht überrascht zu sein, wenn sie tatsächlich wegrationalisiert wird."

Die Zeit hat außerdem AutorInnen wie Thea Dorn, Anke Stelling oder Jonas Lüscher zur Absage befragt. Für Dorn passt sie "in das Bild, das die 'Kulturnation' Deutschland seit zwei Jahren bietet: Kultur lässt sich bereitwillig als 'nicht systemrelevant' einstufen, folgt weitestgehend widerspruchslos dem neuen kategorischen Imperativ, der da lautet: Handle so, dass du alles unterlässt, wodurch du dich, deine Mitarbeiter und dein Publikum einem erhöhten Infektionsrisiko aussetzt!" Auch Julia Schoch ärgert sich: "Die Unterwerfung kultureller Dinge - speziell von Büchern - unter marktwirtschaftliche Ansprüche ist an sich schon fatal bis widerlich. Doch selbst wenn man sich auf diese Ebene begibt, lässt sich sagen: Der Umsatz an Büchern, Emotionen, Leserbindung nehmen zuverlässig dort zu, wo Schreibende und Lesende sich begegnen. Die Verkaufszahlen von Büchern sind mittlerweile eng an den Kontakt zwischen beiden geknüpft."
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