9punkt - Die Debattenrundschau

Keine Kraft mehr, panisch zu sein

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.02.2022. Putins stärkste Waffe wäre die Aufrechterhaltung der Kriegsdrohung ohne zuzuschlagen, fürchtet Ivan Krastev in der SZ. Timothy Garton Ash fordert in der Financial Times eine neue deutsche Ostpolitik. Was bringt den Duden eigentlich dazu, vom Gebrauch des Worts "Jude" abzuraten? Eine Kapitulation vor Schulhof-Rassisten, fürchtet Naomi Lubrich im Tagesspiegel. Steht hinter der Absage der Leipziger Buchmesse eine Machtprobe der Konzernverlage gegen den Rest der Branche, fragt die SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.02.2022 finden Sie hier

Europa

"Für Europa könnte sich die Kriegsandrohung zerstörerischer auswirken als der Krieg selbst", schreibt Ivan Krastev in der SZ: "Gerade ein russischer Überfall auf die Ukraine könnte paradoxerweise die derzeitige europäische Ordnung retten. Die Nato hätte keine andere Wahl, als mit Nachdruck zu reagieren, strenge Sanktionen zu verhängen und mit entschlossener Einigkeit zu handeln. Durch eine Verschärfung des Konflikts könnte Putin seine Gegner zusammenhalten. Russische Zurückhaltung hingegen könnte das Gegenteil bewirken: Eine Politik des maximalen Drucks, die aber nicht in einer Invasion mündet, würde am Ende womöglich die Nato spalten und lähmen. Um zu erkennen, wie das verlaufen könnte, muss man nur einen Blick nach Deutschland werfen."

Die ukrainischen Politiker Oleksandr Merezhko und Ivanna Klympush-Tsintsadze kommen in einem furiosen Text für die Zeit nochmal auf Putins Geschichtsessay (unsere Resümee) zurück, in dem er die Ukraine bekanntlich heim ins Imperium holen will. Für sie geht es in dem Text allerdings weder um die Ukraine oder Russland, sondern allein um Putins Selbstbild als Herrscher: "Die Ukraine ist der größte Horror und die größte Leidenschaft Putins. Ein Horror, weil eine demokratische und wohlhabende Ukraine die schärfste Bedrohung seines Regimes ist. Eine Leidenschaft, weil - um den großen Analytiker des Kalten Krieges, Zbigniew Brzeziński, zu zitieren - 'ohne die Ukraine Russland aufhört, ein Imperium zu sein, mit einer unterwürfigen oder gar unterworfenen Ukraine jedoch Russland automatisch ein Imperium wird'."

Die SPD kann sich heute nicht mehr auf die Ostpolitik Willy Brandts berufen, denn die Verhältnisse haben sich umgedreht, schreibt Timothy Garton Ash in der Financial Times: "Als Brandt 1969 die so genannte 'neue' Ostpolitik einleitete, war Westdeutschland eine revisionistische Macht, die letztlich die Vereinigung mit Ostdeutschland anstrebte, und die Sowjetunion war eine defensive Status-quo-Macht. Heute ist das vereinigte Deutschland die defensive Status-quo-Macht und Wladimir Putins Russland ist die revisionistische Macht, die bereit ist, alle verfügbaren Mittel einzusetzen, um ihre Hegemonie über die Ukraine und andere Teile Osteuropas wiederherzustellen." Zugang zum Artikel über diesen Link.

In der Welt schreibt der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan aus Charkiw, wo die Menschen kaum Angst vor einem Krieg spüren und sich nach wie vor der Ukraine zugehörig fühlen. Und doch müsse man "sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass die ukrainische Gesellschaft eine sehr vielschichtige Haltung zur russischen Aggression einnimmt. Schwer zu erklären, aber so ist es - im achten Jahr der Okkupation der Krim wird dieses Thema von einem Teil der ukrainischen Bürger ignoriert, einfach vermieden. Dabei sind diese Leute nicht etwa per se antiukrainisch eingestellt. Es ist vielmehr so: Hier ist Putin, hier das russische YouTube, das sie aus Gewohnheit nutzen, hier die Propaganda und hier der russische kulturelle Content, der auf ukrainischem Gebiet immer aggressiver ausgestrahlt wird. Es könnte scheinen, als müsse man die Dinge eigentlich auseinanderhalten, Kultur Kultur sein lassen und Politik Politik, nur zeigt die Erfahrung, dass hinter der kulturellen und informationellen Invasion der Russen immer auch der Anspruch auf politische Dominanz steht."

Auch in der Zeit schildert Zhadan heute die seltsame Vorkriegsstimmung in seinem Land: "Wenn dir jemand drei Monate lang tagaus, tagein erzählt, der Einmarsch der feindlichen Truppen stehe unmittelbar bevor, hast du irgendwann keine Kraft mehr, panisch zu sein, du distanzierst dich einfach von dem Gehörten."

Herfried Münkler erweist sich in einem Zeit-Text mal wieder als Großgeopolitiker und Fan von Einflusszonen. Und er erinnert daran, dass "auch Washington nicht zimperlich war, wenn es darum ging, seine Einflusszone selbst gegen den in Wahlen zum Ausdruck gebrachten Mehrheitswillen einer Bevölkerung durchzusetzen: Das zeigen die zahlreichen Militärputsche in Süd- und Mittelamerika, die mit wohlwollender Unterstützung durch die US-Geheimdienste erfolgten - wenn sie nicht gar von diesen initiiert wurden."

In deutschen Institutionen, besonders aber in der Bundesregierung, gibt es eine Inflation der "Beauftragten" für dies und jenes. Katrin Gottschalk und Daniel Schulz unterhalten sich in der taz mit dem neuen Ostbeauftragten der Bundesregierung, dem SPD-Mann Carsten Schneider. Ihm untersteht im Kanzleramt immerhin eine Abteilung mit vierzig Mitarbeitern! Einer der Punkte, die Schneider am Herzen liegen: "Wir brauchen zwingend Zuwanderung, sonst haben wir keine Zukunft. Dafür braucht es das notwendige Bewusstsein in der Bevölkerung. Der Osten muss Fremde willkommen heißen - und damit meine ich nicht nur Ausländer, sondern auch Fremde aus anderen Bundesländern. Sonst wird es elementare Grundbedürfnisse wie Krankenhäuser oder die Kneipe im Ort nicht geben. Die größte Wachstumsbremse in Ostdeutschland ist nicht wie früher oft das fehlende Kapital, sondern die fehlenden Mitarbeiter."
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Ideen

Amia Srinivasan ist eine feministische Philosophin und lehrt in Oxford. Ihr Buch "Das Recht auf Sex" erscheint demnächst bei Klett-Cotta. Im Gespräch mit der Zeit-Autorin Elisabeth von Thadden betont sie zwar auch, dass sie Transfrauen als Frauen sieht (der Feminismus sei "wie ein großer Schirm, unter dem sich alle versammeln, die für die Solidarität mit Frauen kämpfen wollen"), stimmt aber in die Kritik am akademisch geprägten Gender-Feminismus ein: "Der interessanteste Feminismus ist gegenwärtig nicht der angloamerikanische. Der entsteht vielmehr in Lateinamerika im Ringen um die indigenen Rechte, in Indien im Kampf der Bäuerinnen gegen die Modi-Regierung oder auch in Polen in der öffentlichen Mobilisierung gegen das Abtreibungsgesetz - und er zeigt sich nicht primär in den westlichen Theorien." Schade, dass sie die muslimischen Feministinnen vergisst.

Da das Wort "Jude" "wegen der Erinnerung an den nationalsozialistischen Sprachgebrauch als diskriminierend empfunden" werde, empfiehlt der Duden nun situationsabhängig auf die Bezeichnung "jüdische Menschen" auszuweichen oder andere Formulierungen zu wählen, zum Beispiel "jüdische Mitbürger". Dagegen protestierte der Zentralratspräsident Josef Schuster im Tagesspiegel: "'Das Wort 'Jude' ist für mich weder ein Schimpfwort noch diskriminierend.' Die Duden-Redaktion kündigte eine Überarbeitung an."

"Der Duden sollte nicht vor Schulhof-Rassisten kapitulieren", erwidert heute ebenfalls im Tagesspiegel Naomi Lubrich, Direktorin des Jüdischen Museums der Schweiz: "Wörterbücher stehen, was den Begriff 'Jude' angeht, in einer langen Tradition des Unsinns. Sie bildeten jeweils den Diskurs ihrer Zeit ab. Der heutige 'Duden'-Eintrag spiegelt den Wunsch der deutschen Bildungsbürger, kein Wort zu gebrauchen, das die Nationalsozialisten missbraucht haben. Er setzt sich mit der Realität des Schulhofantisemitismus auseinander, wo rassistische Beschimpfungen an der Tagesordnung sind. Und er meint offenbar, dass die Antisemiten die Deutungshoheit über das Wort 'Jude' haben."

Und in der Welt resümiert Matthias Heine zunächst die Debatte, die sich auf Twitter entfachte - Juden kritisierten den Beschluss mehrheitlich - und schließt: "Gründe, jetzt den Begriff mit den vom Duden vorgeschlagenen Alternativen oder gar der Ausweich-Chiffre J-Wort zu umgehen - analog zum N-Wort oder zum Z-Wort -, gibt es nicht. Dafür müsste nachgewiesen werden, ob je ein Jude das Wort Jude als diskriminierend empfunden hat. Nachweisbar sind bisher immer nur nicht jüdische Deutsche, die sich durch das Wort unangenehm an die Verbrechen ihrer Vorfahren erinnert fühlen."

Ebenfalls in der Welt hat Alan Posener gar nichts dagegen, dass "ideologische Linke und Querdenker ihre eigene Wahrheit" besitzen. Aber der Staat sollte diese bitte nicht als gleichberechtigt betrachten oder sogar subventionieren: "Die linke 'Initiative GG 5.3' meint, dass die grundgesetzlich garantierte Freiheit von Wissenschaft, Forschung, Lehre und Kunst unvereinbar sei mit der Aufforderung des Bundestags, die antiisraelische Boykottbewegung BDS nicht mit staatlichen Mitteln zu unterstützen. Man dürfe wohl verschiedene Meinungen zu Israel haben. Klar darf man das. Man darf auch Lügen über den jüdischen Staat verbreiten und dazu auffordern, israelische Wissenschaftler, Forscher, Lehrer und Künstler im Sinne der Cancel Culture zu boykottieren. Aber der Staat schützt gerade die Freiheit der Wissenschaft und Kunst, wenn er Lügner nicht fördert und Boykotteure boykottiert."

"Arendts Begriff von Pluralität hat … nichts mit dem indifferenten Nebeneinander unterschiedlicher Positionen zu tun, das diejenigen im Kopf haben, die sich heute so gerne auf eine Kultur der Pluralität berufen", sagt die Philosophin Juliane Rebentisch, die mit "Der Streit um Pluralität" gerade ein neues Buch über Hannah Arendt veröffentlicht hat, im SZ-Gespräch mit Miryam Schellbach: "Von Pluralität ist heute ja vor allem immer dann die Rede, wenn es darum geht, Streit zu beenden, am besten noch, bevor er überhaupt losgehen kann. Für Arendt gibt es Pluralität aber erst da, wo ordentlich gestritten und für die eigene Position gekämpft wird. Allein durch Auseinandersetzung kann zwischen den unterschiedlichen Positionen so etwas wie eine gemeinsame Welt entstehen. Arendts Pluralität lässt sich aber auch nicht in die Diversitätsforderung der gegenwärtigen Identitätspolitik übersetzen. Worum es ihr geht, ist eine viel radikalere Pluralität, die der singulären Weltzugänge der Einzelnen."

Und Lorenz Jäger schreibt bei FAZ.net einen Nachruf auf den für Linke unangenehm zwischen ganz links und ganz rechts irisierenden Autor und Publizisten Günter Maschke, der nach 1968 nach Kuba ging und später zurückkehrte. "Einer seiner besten Aufsätze geht auf diese Zeit zurück. Die maoistische Guerilla des 'Leuchtenden Pfads', die grausamste, effektivste Terrorgruppe außerhalb des islamischen Raums, hat Maschke meisterhaft analysiert. Ihre Geschichte entpuppt sich als die einer missglückten, technokratisch-zentralistisch auferlegten Bildungsexpansion in einem der unterentwickeltsten Gebiete des Landes, die aus dem Ruder lief und in den Aberglauben an die fast magische Kraft einer Doktrin mündete: das 'bewaffnete Wort'."
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Medien

Ein Weilchen blieb es still. Nun greifen die SZ-Medienredakteure Anna Ernst und Verena Mayer aber die Recherche der Berliner Zeitung zu Holtzbrinck-Medien (eine Retourkutsche zu Zeit-Recherchen über die Berliner Zeitung, unser Resümee) auf. Die Vorwürfe der Berliner Zeitung gegen Holtzbrinck sind immerhin schwerwiegend. Ein Start-up-Unternehmen des Verlegers soll mit kostenfreier Berichterstattung in den Medien des Hauses geworben haben: "Verschiedene Holtzbrinck-Medien erklären, dass sie sich mit der Kritik auseinandergesetzt haben. Vom Tagesspiegel etwa heißt es, dass die Chefredaktion den Bericht zum Anlass genommen habe, 'die internen Abläufe und Transparenzrichtlinien zu überprüfen'." Allerdings sei es gar nicht zu Einflussnahmen gekommen."
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Politik

Der von Amnesty stark gemachte Apartheidsbegriff im Blick auf Israel rückt die Probleme in Israel und den besetzten Gebieten in die Nähe des Rassismus- und des Kolonialismusvorwurfs. Der Politologe Daniel Marwecki hält ihn in der taz für abwegig. Die Probleme sind für ihn nicht "das Resultat einer rassistischen Kolonialideologie, sondern die Folge eines Konflikts zweier verfeindeter Nationen um dasselbe Land. Das, was Amnesty International Apartheid nennt, sind in dieser Betrachtung die Resultate der israelischen Überlegenheit in einem gnadenlos geführten und hochgradig emotionalisierten Krieg. Die simple Konfliktformel 'zwei Nationen - ein Territorium' hat den Vorteil, dass sie ohne den Apartheidbegriff auskommt, ohne aber die schon seit Jahrzehnten andauernde Entrechtung der palästinensischen Seite auszuklammern."

Auch im heutigen Indien haben Hindus und Muslime im wesentlichen friedlich zusammengelebt, schreibt Martin Kämpchen in der FAZ. Aber in letzter Zeit kommt es bekanntlich von beiden Seiten zu identitätspolitischer Verhärtung, durch den Hindunationalismus, der sein Land mit Volkszählungen bereinigen will, aber auch durch den Islamismus aus dem nahen Osten, der die indischen Muslime ideologisiert: "Die Anzahl von Moscheen ist nicht nur in den Großstädten, sondern auch in kleinen Städten enorm gewachsen. Frühmorgens und abends verbindet sich der Ruf des Muezzin aus unterschiedlichen Richtungen zu einem frommen Konzert. Auch die Madrasa-Schulen haben sich vervielfacht. Zweitens bewirkt der Hindu-Nationalismus der gegenwärtigen Regierung der Bharatiya Janata Partei (BJP) eine muslimische Abwehrreaktion."

In polarisierten Zeiten ist eine Begriffsklärung zuweilen hilfreich:

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Kulturmarkt

Zum dritten Mal in Folge wurde nun die Leipziger Buchmesse abgesagt, nicht durch die Stadt Leipzig, sondern aufgrund vieler Verlage, die ihre Teilnahme absagten. Nun steht nicht nur die Zukunft der Messe auf dem Spiel, sondern auch der Vorwurf im Raum, dass die drei großen Verlagsgruppen Randomhouse, Holtzbrinck und der schwedische Bonnier-Konzern "am Beispiel der Leipziger Buchmesse ausprobieren wollten, wie groß ihre Macht tatsächlich ist", schreibt Felix Stephan in der SZ: "Der Vorstoß der Konzerne sorgt ... auch deshalb für so viel Ärger, weil er ökonomisch kurzsichtig, gesellschaftlich rücksichtslos und für die kulturelle Landschaft schädlich ist: Während der Messewochen ist das Buch eines der medial bestimmenden Themen. Die Aufmerksamkeit, die diese Großereignisse herstellen, kommen nicht zuletzt kleineren Verlagen und (noch!) unbekannteren Autoren zugute. Malchow befürchtet in diesem Sinne, ohne die Messen werde sich ein Trend noch verstärken, der seit Beginn der Pandemie zu beobachten ist: Die Verkaufsschlager", die vor allem aus den Konzernen kommen.

Merken wir dazu an, dass auch die Zeitungen eine Rolle in diesem Spiel spielen. Die Zeit, der es so prächtig geht, hat heute keine einzige Buchkritik (als der Perlentaucher anfing, hatte sie ein ganzes "Buch" für Kritiken). Die Welt bringt nur noch einmal im Monat Kritiken. Wo die NZZ ihre Kritiken versteckt, ist auch nicht so ganz klar.
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