9punkt - Die Debattenrundschau

Viele Antikörper

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.02.2022. Die Financial Times bringt neue Enthüllungen über Springer: Die Frauen, die Ex-Bild-Chef Julian Reichelt beschuldigten, seien nicht geschützt worden, und Mathias Döpfner habe sogar eine private "Gegenuntersuchung" gegen sie einleiten wollen. Es geht Amnesty International nicht darum, Menschenrechtsverletzungen in Israel anzugreifen - es geht darum, Israel abzuschaffen, fürchtet Meron Mendel bei Zeit online. Eugen Ruge vermisst in der SZ die Friedensbewegung und ein Zugehen auf Russland. Michael Rothberg staunt in der Berliner Zeitung, dass die Deutschen Immer noch an einem falschen Antisemitismusbegriff festhalten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.02.2022 finden Sie hier

Europa

Ein Twitterer enthüllte die Schwierigkeiten, die Emmanuel Macron überwinden musste, um bei seinem historischen Treffen ein Gespräch mit Wladimir Putin zu führen:


Später wurde aber eine neue diplomatische Balance errungen:


Friedrich Schmidt hatte gestern in der FAZ erläutert, dass sich Putin grundsätzlich nicht mit Maske zeigen will: "Was Letzterer gegen die Maske hat, ist unklar. Man kann nur vermuten, dass sie einem Selbstbild als Teflon-Herrscher zuwiderläuft, der vor allen Gefahren gefeit ist. Im Gespräch mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan rühmte sich Putin im vergangenen Herbst 'vieler Antikörper'." Besucher wie Macron werden darum auf Distanz gehalten. Nur Xi Jinping durfte Putin neulich berühren."

Die Stimmung in der Ukraine entspannt sich ein wenig angesichts der internationalen Unterstützung für das Land, schreibt  der ukrainische Autor Artem Tschech in der FAZ: "Die Mehrheit bedankt sich bei den Verbündeten und macht sich gleichzeitig über die Unentschiedenheit Deutschlands lustig. Wir verstehen natürlich die Liebe zur russischen Literatur und zum russischen Ballett, und wir verstehen auch, wie unangenehm es ist, Geisel einer Situation zu sein, wo dein Geschäftspartner sich von der Kette gerissen hat."

Was macht eigentlich die Friedensbewegung im Ukraine-Konflikt? Und warum gibt es auch aus der Kultur in Deutschland fast nur Stimmen, die sich für ein härteres Vorgehen gegen Russland einsetzen, fragt der Schriftsteller Eugen Ruge in der SZ. Er plädiert dafür, mehr auf die Russen zuzugehen: "Auch ich bin überzeugt davon, dass die Nato keinen Überfall auf Russland plant, und wohl auch keinen regime change. Aber es nützt überhaupt nichts, Russland das immer wieder zu versichern - während zugleich die Nato immer weiter vorrückt und andernorts Regime demontiert und destabilisiert werden. Die USA haben seit 1945 mehr als dreißig Kriegseinsätze durchgezogen, mit Millionen von Toten. Das kann man falsch oder richtig finden. Fest steht, dass die USA und auch die von ihr dominierte Nato kein zahnloser Tiger sind. Wir kommen ja nicht mit Kaffee und Kuchen an die russische Grenze, sondern mit modernster Waffentechnologie. Und es gehört eigentlich nicht viel Fantasie dazu, sich die Sache aus russischer Perspektive vorzustellen."
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Medien

Neue Attacken gegen den Axel Springer Verlag und Mathias Döpfner, diesmal nicht von der New York Times, sondern von der Financial Times - bei Twitter herrscht helle Aufregung. Der FT-Artikel lässt sich über diesen Link eventuell lesen. Eine über Monate auf den Konzern angesetzte Gruppe von Autoren hat herausgefunden, dass der ehemalige Bild-Chef Julian Reichelt, dem Sex-Affären im Unternehmen (aber kein Missbrauch nach deutschem Recht) vorgeworfen wurde, offenbar von der Konzernleitung über den Gang der Gespräche mit den Frauen, die ihn beschuldigt hatten, informiert wurde. Der Springer Konzern und Julian Reichelt weisen das als Lügen oder Verfälschung zurück. "Die FT hat jedoch Beweise überprüft, die darauf hindeuten, dass Reichelt während der Ermittlungen Updates erhielt, die es ihm ermöglichten, viele der Zeuginnen zu identifizieren." Bei einer der betroffenen Frauen, die mit einem Ermittler der Anwaltskanzlei Freshfields gesprochen hatte, "kontaktierte der Redakteur die Mutter. Er machte deutlich, dass er von den Beschwerden wusste, obwohl die Frau eine schriftliche Vertraulichkeitszusage erhalten hatte. 'Mir wurde versprochen, dass ich diesen Männern vertrauen kann', ließ die Ex-Freundin über ihren Anwalt der FT mitteilen. 'Ich habe das Gefühl, dass sie mich in Gefahr gebracht haben, um Julian - und sich selbst - zu verteidigen.'" In dem Artikel werden weitere schwere Vorwürfe gegen Mathias Döpfner erhoben: "Nicht lange nach Abschluss der Freshfields-Untersuchung hatte Döpfner auf eigene Initiative eine Gegenuntersuchung eingeleitet, um eine 'Verschwörung' aufzudecken - ein Ausdruck, den er häufig in Textnachrichten an Führungskräfte verwendete... Döpfner und seine Vertrauten beauftragten einen externen Anwalt und erstellten eine Liste von Personen, gegen die ermittelt werden sollte." Auch Benjamin von Stuckrad-Barre, der eine private Mail von Döpfner an die Presse weitergegeben hatte, gehörte offenbar zu den Zielen von  Döpfners "Gegenuntersuchung".

Springer sei es in Reaktion auf die Affäre vor allem um eine geräuschlose Beerdigung des Skandals gegangen, kommentiert Nils Minkmar in der SZ: "Im Artikel wird ein Springer-Vorstand so zitiert, dass sie alle ihren Hut nehmen können, sollte der Inhalt der Untersuchung öffentlich werden. Was freilich, auch das lässt sich dem Artikel entnehmen, niemanden aus Vorstand oder Chefetage dazu bewog, Reichelts Gebaren und Döpfners Umgang mit dem Skandal laut und deutlich anzuprangern." Stefan Winterbauer meint bei Meedia: "Der Artikel in der FT ist für Axel Springer noch viel schädlicher als die Enthüllung der New York Times. Die FT zerlegt das Narrativ vom bedauerlichen Einzelfall. Hier zeigt sich das Bild einer systematischen Vertuschung von massivem Fehlverhalten durch das Springer-Management, angeführt von seinem CEO. Der ganz nebenbei auch noch als BDZV-Präsident für die deutsche Zeitungsbranche spricht."
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Gesellschaft

Dass Homöopathie in Deutschland auf Krankenschein verabreicht wird, dürfte wohl bald Geschichte sein, schreibt Constantin Huber bei hpd.de, sicher auch, weil sich Anhänger alternativer Heilmethoden als Impfgegner nicht unbedingt beliebt machen. Parteien des Bundestags wie die FDP und die Linkspartei wollen die Kassenfinanzierung abschaffen. "Auch die Grünen haben sich nach einem längeren Hin und Her dazu entschieden, die 'Privilegierung der besonderen Therapierichtungen' in Gesetzestexten und Arzneimittelrichtlinien zu verändern. Die Kosten für Homöopathie sollen fortan nicht mehr von der Solidargemeinschaft übernommen werden."
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Stichwörter: Homöopathie, Impfgegner, FDP

Internet

Der Pädagoge Michael Geiss warnt bei geschichtedergegenwart.ch davor, das Digitalkonzerne Schulen und andere Bildungsinstitutionen nutzen, um das Publikum sozusagen anzufixen: "Die Technologiekonzerne sehen im Bildungswesen eine attraktive Möglichkeit, ihre Kundschaft früh an die eigenen Produkte zu gewöhnen: Wer einmal gelernt hat, mit einer Software oder einem bestimmten System zu arbeiten, wird auch später eher zu diesem Angebot greifen. Lehrpersonen und Schulleitungen sind ebenfalls froh, wenn sie nicht ständig neue digitale Dienste kennenlernen müssen. Dasselbe gilt wohl auch für die Rechtsdienste in den Behörden und den technischen Support für die Schulhäuser. "
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Stichwörter: Digitalisierung

Ideen

Zu seiner Depression muss Michael Rothberg, der in seinem Buch "Multidirektionale Erinnerung" doch die richtigen Anweisungen zu einer neuen Erinnerungskultur gegeben hatte, feststellen, dass die deutsche Öffentlichkeit nicht einfach einschwenkt und weiterhin einen falschen Antisemitismusbegriff pflegt. Er bezieht sich in einem Artikel der Berliner Zeitung auf die größte Autorität in diesen Dingen, A. Dirk Moses: "Wie dieser vorausgesagt hatte, verbreiten sich seither zweifelhafte Antisemitismusvorwürfe beinahe inflationsartig, um beispielsweise Journalistinnen (Carolin Emcke und Nemi El-Hassan) und zuletzt Künstler und Kunstinstitutionen (das indonesische Kollektiv Ruangrupa und die Documenta) zu diskreditieren. Zweifellos wird der jüngste Bericht des britischen Amnesty International, in dem Israel als Apartheid-Regime bezeichnet wird, zu weiteren Auseinandersetzungen in Deutschland führen, auch wenn Menschenrechtsgruppen in Israel selbst bereits den Begriff Apartheid verwendet haben."

Der Staat Israel macht im Umgang mit den Palästinensern vieles falsch, erklärt der Pädagoge Meron Mendel bei Zeit online. Aber ihn als Apartheidsstaat darzustellen, wie Amnesty International das jüngst tat, empfindet er nicht nur als zutiefst unfair, sondern auch als potenziell tödliche Propaganda zur Abschaffung des israelischen Staates: "Aus dem Versuch, das gesamte zionistische Projekt seit 1948 als Unrecht darzustellen, folgen daraus logischerweise politische Forderungen. Als Lösung bliebe nur die Abschaffung des Nationalstaats, die Abschaffung der Unterscheidung zwischen israelischem Kernland und besetzten Gebieten, das Ende der Selbstdefinition Israels als jüdischer Staat. Dem Bericht geht es explizit nicht nur um die Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen in der Westbank und im Gazastreifen nach internationalem Recht. Nein, es geht Amnesty darum, 'die Kernursachen des Konflikts anzugehen', nämlich die Existenz des jüdischen Nationalstaates. Für Israelis, egal welcher Seite des politischen Spektrums, bedeutet der Bericht eine Einladung, ihre eigene Existenz aufs Spiel zu setzen, nach dem Vorbild der mehrnationalen Nachbarstaaten Libanon und Syrien. Es ist eine Einladung zur Selbstzerstörung. Kein Wunder, dass sich die überwiegende Mehrheit der israelischen Friedensbewegung von Amnesty verraten fühlt."

Ein Gutes hatte die Pandemie ja: Endlich wurde mal wieder über Freiheit diskutiert, über ihre Voraussetzungen und ihre Grenzen, meint in der NZZ der Jurist René Rhinow. Denn Freiheit in einem liberalen Sinne heißt nicht, einfach machen zu dürfen, was man will, wie Impfgegner das gerne propagieren. Rhinow plädiert für "einen 'mitfühlenden' Liberalismus im Sinne des großen liberalen Vordenkers John Stuart Mill, um anzudeuten, dass liberale Antworten auch für das Schicksal benachteiligter Menschen gesucht werden müssen. Was wenig bekannt ist: Bereits Adam Smith, der Begründer der Nationalökonomie, entwickelte eine Theorie des Mitgefühls als Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen, mit Empathie und Sozialkompetenz auf sein Gegenüber zu reagieren, sich selber nicht als individuelles Atom, sondern als soziales Wesen zu begreifen. Eine offene Wahrnehmung für die Lebenssituation anderer, gerade von schwächeren und notleidenden Menschen in ihrer Furcht, ist unabdingbare Voraussetzung dafür, erkennen zu können, wie es um ihre Würde und deren Gefährdung tatsächlich steht."
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