9punkt - Die Debattenrundschau

Das bedingte Weißsein

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.02.2022. Der Israel-Bericht von Amnesty UK sorgt für Debatten. Amnesty hat sich damit disqualifiziert, meint Jan Feddersen in der taz. Am Apartheidsvorwurf scheint schon deshalb etwas dran zu sein, weil ihn auch andere erheben, findet Hanno Hauenstein in der Berliner Zeitung. Israel entziehe sich der Kontrolle, weil es über Beziehungen zu mächtigen Staaten verfüge, klagen die Amnesty-Funktionäre Agnes Callamard und Philip Luther in der Times of Israel. Die Berliner Zeitung bringt eine Recherche über die Vermengung von Geschäftsinteressen und Berichterstattung im Holtzbrinck Verlag.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.02.2022 finden Sie hier

Gesellschaft

Jan Feddersen schreibt in der taz eine Art Nachruf auf Amnesty International. Der Sargnagel war für ihn der Israel-Bericht der britischen Sektion von Amnesty (unser Resümee), zu dem die deutsche Sektion mit Rücksicht auf die deutsche Vergangenheit lieber schweigt. Für Feddersen stimmt Amnesty hier nur in den "Top Hit der internationalen Polit-woke-Bewegung", die Israelkritik, ein: "Israel operiere in dem von dessen Militärs besetzten Gebieten in der Westbank nicht nur wie Südafrika bis zum offiziellen Ende der weißen Herrschaft, also als Apartheidsregime, sondern auch auf israelischem Kerngebiet in den Grenzen von 1967. Und genau dieser Vorwurf ist nicht nur eine Lüge, sondern auch eine Bagatellisierung dessen, was in Südafrika und auch in weiten Teilen der US-Südstaaten bis Mitte der sechziger Jahre entweder Staatsordnungsprinzip oder gang und gäbe war."

Für Hanno Hauenstein aus der Berliner Zeitung muss aber am Apartheidsvorwurf gegen Israel schon deshalb etwas dran sein, weil ihn auch schon andere erhoben hatten: "Der Amnesty-Bericht erschien auch fast genau ein Jahr, nachdem die israelische NGO B'tselem, die seit 1989 Menschenrechtsverstöße in den besetzten palästinensischen Gebieten dokumentiert, ein Positionspapier veröffentlicht hatte, in dem sie dafür plädiert, dass - was in den Augen ihrer Verfasserinnen wie Apartheid aussieht - auch so benannt wird. Ende April 2021 war ein ähnlicher Bericht von Human Rights Watch erschienen." Außerdem gebe es auch israelische Stimmen, die Israel der Apartheid beschuldigten.

In der Times of Israel interviewt Lazar Berman die Amnesty-Funktionäre Agnes Callamard und Philip Luther, die den Bericht vor einigen Tagen der Öffentlichkeit vorstellten. Seine Hauptfrage ist, warum zum Beispiel nicht China wegen der Behandlung der Uiguren der Apartheid bezichtigt wird. Sie antworten, dass es nicht genug Informationen gebe und dass sie in ihrem Bericht eine Debatte aufnehmen, die bereits existiere. Israel stehe doch schärfer unter Beobachtung als jedes andere Land, sagt der Interviewer. Darauf antwortet Luther: "Da stimme ich nicht zu, aber ok. Oder sagen wir, es ist dem Land gelungen, Kontrolle durch seine Beziehungen zu unterbinden." Auch die zahllosen UN-Resolutionen gegen Israel helfen da für Luther nicht: "Es gibt UN-Resolutionen, klar, aber es gibt auch die Passivität der UN. Denn Israel hat Einfluss auf mächtige Alliierte, die es hinkriegen, die Kontrolle zu unterbinden."

Whoopi Goldberg hat in den USA ein wenig Gegenwind bekommen, als sie in einer Talkshow sagte, der Holocaust sei kein rassistisches Verbrechen. Diese Interpretation entspricht der "Critical Race Theory", die den Holocaust als Verbrechen "von Weißen an Weißen" ansieht und darum als weniger relevant, erläutert Andrew Sullivan in seinem Blog The Daily Dish. Darin offenbare sich auch die Provinzialiät des amerikanischen Antirassismus, der das amerikanische Muster des Rassismus als universal gültig fantasiert: "In dem in Kalifornien vorgeschlagenen Pflichtfach 'Kritische Rassentheorie' lautete beispielsweise eine der ursprünglichen Lehrplanfragen: 'Wie hat der Holocaust die Stellung der jüdischen Amerikaner in der amerikanischen Gesellschaft verändert?"'Die richtige Antwort lautete: 'Sie gewannen dadurch das bedingte Weißsein.' Ja, das ist das Ergebnis des Massenmordes an Millionen von Juden laut der Critical Race Theory: Er hat ihnen in Amerika auf die Beine geholfen! Es gibt Zeiten, in denen Engstirnigkeit wirklich blind macht."

Auch Thomas Ribi (NZZ) findet Goldbergs Äußerungen "haarsträubend", aber sie sind doch mehr als ein Ausrutscher, meint er: "Die Vorstellung, Juden könnten nicht diskriminiert werden, weil sie weiß sind, zeigt in erschütternder Deutlichkeit, worum es den Aktivisten geht: den Opferstatus für sich zu bewahren."

Außerdem: In der FAZ kritisiert Thomas Thiel einseitig antiisraelische Tendenzen in Sendungen des ZDF (mehr hier) und des WDR (mehr hier). In der SZ äußert der bekannte Soziologe Heinz Bude die Überzeugung, dass die Ampelkoalition nur Erfolg haben kann, "wenn sie eine Wende im Denken hinbekommt. Politik ist nie nur das Lösen konkreter Probleme, sondern immer auch das Deuten der jeweiligen gesellschaftlichen Situation."
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Medien

In der Zeit gab es vor einigen Monaten einen Artikel mit unangenehmen Details über die Berliner Zeitung (unser Resümee). Heute gibt es einen Artikel in der Berliner Zeitung mit unangenehmen Details über den Holtzbrinck Verlag, zu dem auch die Zeit gehört. Maximilian Both hat recherchiert, dass dem Verleger Dieter von Holtzbrinck ein Finanzierungsuntenehmen für Start-ups gehört, DvH Ventures, das den Start-ups Berichterstattung in seinen Medien anbietet. Das ist vor allem im Pharmabereich lukrativ, wo DvH Ventures Berichterstattung in der allein durch Anzeigen finanzierten Apotheken Umschau anbiete: "DvH Ventures hatte damals gerade zusammen mit weiteren Partnern aus dem Apotheken-Geschäft einen neuen 60 Millionen Euro schweren Fonds aufgelegt, der sich auf Investitionen im Gesundheitsbereich spezialisiert. Die Medienmacht der Holtzbrinck-Gruppe sollte es dabei erleichtern, sich gegen die Konkurrenz durchzusetzen - damit geht man auf der Website von DvH Ventures ganz offen um. Für Start-ups, die neue Produkte im heiß umkämpften Gesundheitsmarkt etablieren wollen, ist der Zugang zu Zeitungen wie der Apotheken Umschau Gold wert."

Die Schließung der Deutschen Welle in Moskau - die russische Retourkutsche für die Verweigerung der RT DE-Lizenz in Deutschland (unser Resümee) - stößt auf harsche Kritik der deutschen Regierung, berichtet Jasmin Kalarickal in der taz: "Das Sendeverbot sei 'in keiner Weise hinnehmbar', kritisierte Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Die Gleichsetzung von RT DE und der Deutschen Welle entbehre 'jeglicher Grundlage'. RT DE sende zurzeit ohne Lizenz, das sei nicht vergleichbar. Zudem sei die Deutsche Welle 'staatsfern' organisiert. Im ARD-'Morgenmagazin' bezeichnete Roth das Vorgehen Moskaus 'als aggressiven Akt'."
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Politik

Unter eiserner Kontrolle lässt Xi Jinping die Farce der Olympischen Spiele inszenieren. Eine Autorengruppe in der taz erinnert an die Sommerspiele von 2008, als es noch Hoffnung auf Öffnung gab: "Zwar war China auch 2008 schon ein autoritärer Staat. Und doch war die Führung damals um ein freundlicheres Image bemüht. Sie führte ein Jahr vor Beginn der Spiele ein neues Pressegesetz ein, das es ausländischen Journalist:innen erlaubte, sich frei im Land zu bewegen und Leute auch ohne Anmeldung bei den Behörden zu interviewen. Und es gab zumindest die grundsätzliche Bereitschaft, sich an die Olympische Charta zu halten, etwa was Meinungsfreiheit betrifft. Das hatte das Internationale Olympische Komitee (IOC) unter seinem Präsidenten Jacques Rogge auch noch eingefordert. Zu den Spielen musste Peking sogar eigens eine Zone für Proteste einrichten."

Diese Olympischen Spiele sind auch der offizielle Abschied von der Olympischen Idee, findet Christoph Giesen in der SZ: "Dass Olympia ein Land verändern kann, es öffnet und demokratisiert, ist spätestens mit diesen Spielen widerlegt. Die Welt wird in diesen Tagen vielmehr ein Stück verschlossener, ein Stück chinesischer, es wird eine Veranstaltung, wie der Apparat in Peking sie sich vorstellt: mit nahtloser Überwachung und ständiger Kontrolle."

Julia Neumann besucht für die taz Monika Borgmann-Slim, die Witwe von Lokman Slim, der vor einem Jahr im Libanon regelrecht exekutiert wurde. Zusammen mit Slim, der schiitischer Herkunft war, hatte sie in einem Hisbollah-Viertel Beiruts ein Kulturzentrum betrieben, das für alle offen war. Die Mörder von Slim sind nicht belangt worden - es wird sich um die Hisbollah handeln. Politische Morde werden im Libanon selten aufgeklärt, so Neumann: "Dass Beweise verschwinden und Ermittlungen behindert werden, erinnert an die Untersuchung der Explosion von Beirut. Am 4. August 2020 explodierte Ammoniumnitrat im Hafen der Stadt. Der Untersuchungsrichter wird durch Proteste und Klagen der Hisbollah und ihrer Verbündeten immer wieder an der Arbeit gehindert. Einen Tag nach der Explosion hatte Slim im Fernsehen darauf hingewiesen, dass die Fassbomben des syrischen Regimes ebenfalls Ammoniumnitrat enthielten. Die Hisbollah unterstützte Assads Krieg. Dass Slim den Mut hatte, solche und ähnliche Zusammenhänge zu benennen, kostete ihn am Ende vermutlich das Leben."
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Ideen

In der NZZ analysiert Helwig Schmidt-Glintzer, Professor für Sinologie in Tübingen, die Bedeutung des chinesischen Schriftzeichensystems für das Land: "Die Beibehaltung des Schriftzeichensystems verklammert die Gegenwart mit der gesamten schriftlichen Überlieferung Chinas und vermag sich auf zurückreichende Systeme der Anspielungen und des Tabubruchs und eine geradezu grenzenlose Ermöglichung von Allegorese zu beziehen. So bleibt prinzipiell ein grosser Resonanzraum für Distanznahmen erhalten. Dass dieser aktuell immer wieder beschnitten zu werden droht, ändert nichts an dem Fortbestand solcher Möglichkeitsräume."
Archiv: Ideen
Stichwörter: Schmidt-Glintzer, Helwig