9punkt - Die Debattenrundschau

Keine belastbaren Kriterien

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.01.2022. Die Skandale um Missbrauch und das Schweigen darüber schieben die Katholische Kirche langsam aus der Gesellschaft hinaus, meint Kurt Kister in der SZ. In der FAZ betont der Historiker Gerhard Hirschfeld, dass die Geschichte der Judenräte in den Niederlanden in den Kontext gestellt werden muss. Und er fragt, warum in den Niederlanden mehr Juden umkamen als in anderen westeuropäischen Ländern. Die NZZ erzählt die Geschichte barbarischer Gewalt, die japanische Samurai den Koreanern im 16. Jahrhundert angetan haben. In Berlin wird über religiöses Mobbing an Schulen gestritten. Das Phänomen existiert, so die taz. Aber soll man es untersuchen?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.01.2022 finden Sie hier

Religion

Auch in Polen konnte die Katholische Kriche die Diskussion über sexuellen Missbrauch in den letzten Jahren nicht mehr verhindern. Im Moment macht die Geschichte des heute 48-jährige Janusz Szymik von sich reden, der als Zwölfjähriger von einem Prieseter mehrfach vergewaltigt wurde. Die Diözese hatte wie unter Ratzinger zur Vertuschung beigetragen, und Szymik verklagte sie darum auf Schmerzensgeld, berichtet Daniela Wakonigg bei hpd.de: "Da Schmerzensgeldzahlungen an Missbrauchsopfer der Kirche selbst bekanntlich ebenfalls große Schmerzen bereiten, entschied sie sich zu einem Gegenangriff gegen Szymik. Laut Bericht des großen polnischen Nachrichtenportals Onet.pl verlangte das beklagte Bistum vom Gericht festzustellen, ob Szymik schwul sei und er deshalb während des Missbrauchs sexuelle Befriedigung empfunden habe."

Die Skandale um Missbrauch und das Schweigen darüber schieben die Katholische Kirche langsam aus der Gesellschaft hinaus, meint Kurt Kister in der SZ. "Zudem findet der grassierende Vertrauensverlust vor dem Hintergrund einer immer stärkeren säkularen Bewegung in Deutschland statt. Diese säkulare Bewegung bedeutet keine grundsätzliche Verweltlichung der Gesellschaft, denn die Bereitschaft, an alles Mögliche zu glauben, wird eher größer. Gleichzeitig allerdings wächst die Zahl derer, die ihre - analog zum Schicksal der Volksparteien - Volkskirche verlassen. Viele, die glauben, lösen sich von der Organisation. Menschen, die aus CDU oder SPD austreten, bleiben deswegen durchaus nach wie vor Demokraten. Es gibt eine Demokratie ohne Volksparteien, und man kann Christ sein ohne die katholische Kirche."
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Gesellschaft

Seit eine Studie herausgefunden hat, dass an einigen Berliner Schulen muslimische Schüler ihre Mitschüler mobben, wenn ihnen die nicht religiös genug sind (unser Resümee), schwelt der Streit darüber, ob diese sogenannte "konfrontative Religionsbekundung" weiter erforscht und thematisiert werden kann. taz-Autorin Susanne Mermania, die der Idee kritisch gegenübersteht, berichtet, dass Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse (SPD) den Bedarf auf eine solche Untersuchung vor einer Finanzierung zunächst mal eingehend überprüfen lassen wolle. Mermania gesteht zwar ein, "dass es an Schulen Probleme mit Religionsbezug gibt", aber für sie überwiegen die Bedenken, "dass die Wertung von Konflikten als 'konfrontative Religionsbekundung' Vorurteilen Vorschub leistet. 'Meine größte Kritik ist die Fahrlässigkeit in Bezug auf die Gefahr des Stigmatisierens von gläubigen Menschen, insbesondere Muslim:innen", sagt etwa Dervis Hizarci, Vorstandsvorsitzender der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA) und früherer Antidiskriminierungsbeauftragter der Bildungsverwaltung."

Mermania berichtet in ihrem Artikel auch über eine kritische Stellungnahme von "rund 120 Wissenschaftlern, Mitgliedern der Zivilgesellschaft sowie Organisationen", aus der Frank Bachner im Tagesspiegel eingehender zitiert. Die Stellungnahme fordere die "Unterlassung der (Weiter-)Förderung des Projekts durch öffentliche Mittel". Unterzeichnet ist sie von Landespoilitikern der SPD, aber auch Fachleuten wie Micha Brumlik. Es lägen "keine belastbaren Kriterien für die Einordnung von Verhaltensweisen als 'konfrontativ' vor. Es wird der subjektiven Wahrnehmung von Lehrkräften überlassen, was als 'konfrontativ' zu bewerten sei und was nicht." Dies werde unweigerlich zu Fehleinschätzungen durch Lehrkräfte führen." Und für Mobbing-Fälle gebe es bereits Mobbing-Beauftragte.

Der 1972 eingeführte Radikalenerlass war nicht gerade ein Ruhmesblatt der Ära Brandt, konstatiert Marlene Grunert im Leitartikel der FAZ. "Bis 1976 wurde eine halbe Million Bewerber auf ihre Verfassungstreue kontrolliert, 430 wurden abgelehnt. Die Angst vor einem Berufsverbot ging um." Schon 1979 wurde der Radikalenerlass, der es Behörden erlaubte, routinemäßige Anfragen an den Verfassungsschutz zu stellen, wieder abgeschafft. Allerdings merkt Grunert auch an: "Fünfzig Jahre später würde man sich Ansätze des damaligen Eifers wünschen, wenn es um Rechtsextreme in der Justiz geht."

Streit um die Grünenpolitikerin Tessa Ganserer, eine von zwei Transfrauen im neuen Bundestag. Die Initiative "Geschlecht zählt" hat kritisiert, dass Ganserer sozusagen bereits nach dem noch gar nicht beschlossenen Selbstbestimmungsgesetz als Frau im Bundestag geführt wird. Rechtlich gilt sie als Mann, weil sie sich nicht den bisher vorgeschriebenen Gutachten unterziehen wollte, berichtet Elena Witzeck in der FAZ: "Die Frauenzeitschrift Emma hat sich diese Argumente zu eigen gemacht. Ganserer habe den Körper eines Mannes, lebe mit einer Frau zusammen, sei 'Vater' zweier Kinder und besetze nun den grünen Frauenquotenplatz."

Sibel Schick vermutet in der taz empört Methode hinter Alice Schwarzers Emma-Artikel über Gansera: Es solle "verhindert werden, dass trans Personen die Möglichkeit haben, politische Ämter einzunehmen. Soll verhindert werden, dass die Interessen von trans Menschen politisch repräsentiert werden. Das Selbstbestimmungsgesetz müsste insofern ein Anliegen aller Demokrat*innen sein." Hier ein Bericht auf der Website von Emma, der wohl nicht mit Schwarzers Artikel identisch ist.
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Geschichte

Unabhängig von der Frage, ob ein jüdischer Notar und Mitglied des Judenrats das Versteck der Familie Anne Franks verriet, muss man sich über den Kontext klarwerden, in dem der von den Nazis eingerichtete Jüdische Rat operieren musste, schreibt der Historiker Gerhard Hirschfeld, Autor von Büchern über die Niederlande in der Nazizeit, in der FAZ. Der Jüdische Rat befand sich in einer unmöglichen Mittlerposition, in der er sich nur kompromittieren konnte: "Obgleich beunruhigt über das Schicksal der Deportierten, setzte der Judenrat weiterhin auf eine Kooperation mit den Deutschen. Nur so könne man hoffen, 'wenigstens die wichtigen Leute so lange wie möglich hier zu halten'. Es entstanden zahllose Listen, auf denen jene privilegierten Personen verzeichnet waren, die von den Deportationen künftig ausgenommen sein sollten." Dass in den Niederlanden proportional so viele Juden umkamen wie sonst nur in osteuropäischen Ländern, erklärt Hirschfeld mit der starken Präsenz der SS. Aber es gab auch ein Paradox: "Der Grad an erfahrener Integration förderte bei vielen von ihnen ein nachvollziehbares Gefühl der Zugehörigkeit und der Sicherheit, das sich angesichts einer bislang weder erlebten noch vorstellbaren Verfolgungssituation als fatal erweisen musste."

In der NZZ blättert Hoo Nam Seelmann ein besonders gruseliges Kapitel der japanisch-koreanischen Geschichte auf: Ende des 16. Jahrhunderts beschloss der Kaiser Hideyoshi China zu erobern, um seine Samurai zu beschäftigen. Dafür musste man aber erst mal durch Korea. Der Krieg dauerte mehrere Jahre. Zum Beweis ihrer Tapferkeit schnitten die Samurai ihren Opfern Nasen und Ohren ab: "An Sammelstellen wurden sie abgezählt und registriert, da die Prämien davon abhingen. Nach dem Bericht von Ogawachi Hidemoto sollen während des Krieges Köpfe oder Nasen von 180 538 Koreanern und 29 014 Chinesen in Japan gelandet sein. Da aber die Zahl der koreanischen Soldaten nie so groß war, meint man, dass viele Zivilisten ihr Leben oder ihre Nasen verloren haben. Die japanischen Soldaten hätten, so die koreanischen Zeitzeugen, jedem, dem sie begegnet seien, wahllos die Nase abgeschnitten. Nach dem Krieg habe man lange noch Menschen ohne Nasen auf der Straße gesehen." Es gibt in Japan mehrere Gräber nur für diese abgeschnittenen Körperteile, das Mimizuka von Kyoto zum Beispiel: "Vermutet wird, dass darin die Nasen von gut 100 000 Menschen begraben liegen", erzählt Seelmann.
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Politik

Sven Hansen liest für die taz zwei Bücher von Uigurinnen, die ihre Geschichte erzählen: "Gulbahar Haitiwaji hatte schon zehn Jahre in Frankreich gelebt, als sie im November 2016 von ihrem früheren Arbeitgeber unter einem Vorwand nach China gelockt wurde. Anders als ihr Mann und ihre Töchter hatte sie Chinas Staatsbürgerschaft behalten, um so leichter ihre Eltern besuchen zu können. Bei der Ankunft in Xinjiang schnappte die Falle zu. Man hielt ihr ein Foto vor, das ihre ältere Tochter auf einer Demonstration von Uiguren in Paris zeigte. Für die nächsten zweieinhalb Jahre verschwand Haitiwaji, die früher in China als Ingenieurin gearbeitet hatte, im Umerziehungslager Baijiantan." Heute Abend wird sich Hansen mit den Autorinnen unterhalten, übertragen wird der Talk per Youtube.
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