9punkt - Die Debattenrundschau

Die auf Sylt Häuser hatten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.01.2022. In Charkiw hat man keine Angst vor Krieg, schreibt Serhij Zhadan in der FAZ. Die Bürger der Stadt vertrauen auf die ukrainische Armee - den Deutschen aber trauen sie nicht. "Keine Waffen" ist keine Friedensstrategie, schreiben Marieluise Beck bei libmod.de und Richard Herzinger in seinem Blog. Die Frankfurter Buchmesse soll rechtsextreme Verlage ausschließen, fordert Jutta Ditfurth in der FR, und sie weiß auch schon, wie's geht. In der taz erinnert sich Silke Burmester an Gruner + Jahr, wie es einmal war. Aber die Auflage der Bild ist auch unter eine Million gerutscht, notiert Meedia.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.01.2022 finden Sie hier

Europa

Charkiw (russische Schreibweise Charkow), die zweitgrößte Stadt der Ukraine mit anderthalb Millionen Einwohnern, liegt nur fünfzig Kilometer von der russischen Grenze und unweit der besetzten Gebiete. Aber um Krieg macht sich dort im Moment keiner Sorgen, schreibt Serhij Zhadan in der FAZ. Das liege auch an einem allgemeinen Misstrauen gegenüber der Politik, ob in- oder ausländisch. Das eigentliche Vertrauen, so Zhadan, setzen die Bürger in die ukrainische Armee, "weil sie wissen, dass diese 2014 den Vorstoß der Separatisten zum Stehen brachte und die meisten der von den Freischärlern eroberten ukrainischen Städte befreit hat. Die Ukrainer begreifen, dass sie in diesem Krieg mit einem Nachbarn, der offensichtlich Probleme mit dem Revanchismus und dem Komplex des Großen Bruders hat, sich vor allem auf sich selbst verlassen müssen und dass sie von den Politikern - sowohl von den eigenen wie auch von ausländischen - stets merkwürdige Kompromissentscheidungen und nicht ganz transparente Strategien zu erwarten haben." Gerade gegenüber deutschen Politikern herrsche inzwischen "eine von Ironie bis zu Verachtung reichende Ablehnung".

Die Ukraine braucht Waffen, und die Nato sollte ihre Partner an der Grenze zu Russland durch  größere Präsenz demonstrativ stärken, schreibt Richard Herzinger in seinem Blog, und Putins Angriff gilt nicht allein der Ukraine, sondern Europa insgesamt: "Es geht insgesamt darum, den Kreml von sich aus offensiv unter Druck zu setzen, statt ihm die Eskalationsdominanz zu überlassen und sich stets aufs neue von seinen seinen immer maßloseren Handlungen und Forderungen überrumpeln zu lassen. Bereitschaft zu Dialog und Verhandlungen zu zeigen, ist grundsätzlich richtig, doch können sie gegenüber einer autoritären Macht nur aus einer Position der Stärke heraus erfolgreich geführt werden."

Schon 2014 hieß es "keine Waffen", erinnert sich Marieluise Beck bei libmod.de: "Der ukrainische Oligarch Kolomojskyj, der damals eine führende Rolle in der Ostukraine spielte, ist kein ehrenwerter Mann. Aber hätte er keine Milizen aufgestellt und die Verteidigung organisiert, wäre auch Dnipro jetzt Separatistengebiet. Und in dem lebt es sich bekanntlich nicht gut. War es friedensstiftend, die Ukraine, die sich unter hohen Opfern gegen eine russische Übermacht verteidigen musste, nach dem Motto 'Keine Waffen in Krisengebiete' möglichst wehrlos zu lassen?"
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Religion

Hamed Abdel-Samad kommentiert in einem längeren Facebook-Post (auch hier bei hpd.de) die jüngsten Enthüllungen über sexuellen Missbrauch in Josef Ratzingers Diözese und die Ausflüchte des Expapstes (unsere Resümees): "Warum lässt ein Mann, der sich selbst Vertreter Christi auf Erden nennt, die Opfer im Stich und steht stattdessen auf der Seite der Täter? Warum verhindert ein Mann, der behauptet, die Wahrheit zu verkünden, dass die Wahrheit ans Licht kommt? Um dem Ansehen der Kirche nicht zu schaden? Das ist ein Argument aus der Welt der Mafia, wenn Skandale unter den Teppich gekehrt werden um das Ansehen der Familie zu bewahren. Vieles in diesem und anderen Kirchen-Missbrauchsskandalen erinnert in der Tat an die Mafia: Hierarchie und patriarchale Strukturen, Kultur der Angst und des Schweigens, Einschüchterung von Abtrünnigen damit kein Insiderwissen nach außen drängt."

Josef Ratzingers Antworten auf das jüngste Gutachten zu Missbrauchsunfällen liest sich kulturrelativistisch in Bezug auf die eigene Person, beobachtet Christan Geyer in der FAZ: "Nach 'heutigen Maßstäben' wäre auch in den Fällen, in denen dies rechtlich nicht vorgeschrieben gewesen ist, mehr 'Hinwendung zu den Opfern solcher Taten wünschenswert und richtig gewesen', so Ratzingers Eingabe. Tatsächlich nur nach heutigen Maßstäben? Sollte es ungehörig sein, in unbedingten Kategorien zu sprechen, sobald es um das Fehlverhalten von Hierarchen geht?"
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Kulturmarkt

Die Frankfurter Buchmesse sollte, falls sie nochmal stattfindet, rechtsextreme Verlage grundsätzlich ausschließen, fordert die ehemalige Grünen-Politikerin Jutta Ditfurth im Interview mit Florian Leclerc von der FR. Das geht ganz einfach, meint sie: "Die Buchmesse sollte die Öffentlichkeit frühzeitig informieren, welche Verlage im Anmeldeverfahren sind. Es würde reichen, rechte Verlagsprogramme in ihrer Hauptlinie zu bewerten, man muss nicht jedes einzelne Buch lesen. Wer ist der Betreiber des Verlags? Ist er mit organisierten rechtsradikalen Kreise verbunden? Wie tritt er im Netz und auf der Straße auf? Das können Historiker:innen, Wissenschaftler:innen und erfahrene Antifaschist:innen ohne Probleme in kurzer Zeit herausarbeiten."
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Ideen

Felix Heidenreich prüft für die NZZ die Schriften Bruno Latours, der den Kyoto-Preis erhalten hat, eine Art Nobelpreis für Philosophie, auf taugliche Ideen in Zeiten des Klimawandels und lernt bei ihm, dass die Gesellschaft nicht nur aus Menschen besteht, "die Dinge benutzen, sondern aus unendlichen Ketten von Aktanten, die teils menschlich, teils technisch, teils medial sein können - ein gigantisches Netzwerk voller Knoten, Loops, Verkettungen und Interaktionen".

Soll Wissenschaft objektives Wissen schaffen? Oder ist sie zuvörderst da, Identitäten zu stärken? In der NZZ bittet der Philologe Jonas Grethlein zu differenzieren: "Wissenschaft als rettender Lieferant von Fakten für die Politik contra Wissenschaft als solipsistischer Ausdruck von Identität - der Unterschied könnte kaum größer sein. Auf den ersten Blick erscheint es verführerisch, die erste Tendenz den Natur- und Lebenswissenschaften, die zweite den Geistes-, Gesellschafts- und Kulturwissenschaften zuzuweisen. Die alte These, dass diese erkennen und jene verstehen, wäre dabei zugespitzt. Doch sind die Wissenschaften bei allen Unterschieden zu sehr verzahnt miteinander, als dass sie sich auf diese Weise sauber voneinander trennen ließen." Auch in diesem Konflikt hilft die Lektüre von Latour, meint Grethlein.
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Gesellschaft

Tok Tok Tok, die wirklichen Probleme klopfen an die Tür, schreibt Stefan Laurin bei den Ruhrbaronen: "Der Plan des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, durch eine Erhöhung des Spritpreises die Energiewende zu finanzieren, reichte im Jahr 2018 aus, um in Frankreich die Gelbwesten auf den Plan zu rufen. Wochenlange Ausschreitungen waren die Folge. In Deutschland sind in den vergangenen Monaten die Strom-, Gas- und Benzinpreise explodiert. Viele Stadtwerke planen, sie erneut um über hundert Prozent zu erhöhen. Millionen Familien werden verzweifeln, wenn sie in den kommenden Monaten ihre Nachkostenabrechnung aus dem Briefkasten holen. Millionen Menschen werden auch nicht mehr wissen, wie sie ihre Fahrtkosten aufbringen sollen."
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Medien

Plastisch erzählt Silke Burmester, die ehemalige Medienkolumnistin der taz, was die Verlage von Gruner und Jahr, das ja auch Anteile am Spiegel hatte, für angehende Journalisten einst für einen Nimbus hatten: "Eine Welt, die man von außen bestaunen musste: große, prächtige Verlagshäuser, in denen jene arbeiteten, deren Name mit Ehrfurcht ausgesprochen wurde. Günter Gaus, Fritz J. Raddaz, Ingrid Kolb, Michael Jürgs. Die einen Sack voll Geld verdienten und auf Sylt Häuser hatten. Die bis in die Ressortleiter-Position hinein einen Firmenwagen bekamen und unbegrenzte Spesenbudgets. Verlagshäuser, die für ihre Mitarbeiter*innen Masseure beschäftigten und deren Kantinen auf Restaurantniveau kochten." Nun wird das Verlagshaus spurlos im RTL-Konzern aufgelöst, über Jahre hatte man aus alter Arroganz das Internet verschlafen.

Ebenfalls in der taz kritisiert Peter Weissenburger die Kritiker der Öffentlich-Rechtlichen in Britannien und Deutschland, die kein Reformkonzept vorlegten (er allerdings auch nicht).

Medienforscher Bernhard Pörksen beklagt auf der Medienseite der SZ eine Tendenz der Medien, Internethypes durch ihre Megafone in eine Art Feedbackschleife zu ziehen - so jüngst beim Fall Djokovic: "Die primäre und praktische Konsequenz der Sofort-Sichtbarkeit von Publikumsinteressen besteht für Medienunternehmen viel zu oft einfach darin, den allmählich entstehenden Hype aufzugreifen und ihn zu verstärken, also im allgemeinen Aufmerksamkeitspoker auf das ohnehin bereits Populäre zu setzen."

Eine kleine historische Zäsur notiert Meedia-Autor Jens Schröder bei der Durchsicht der IVW-Zahlen der Zeitungen, also der Zahlen mit der mehr oder weniger tatsächlichen Auflage, nach denen sich die Anzeigenpreise bemessen: "Auf nur noch 970.948 Abonnements und Einzelverkäufe kam Bild pro Ausgabe im vierten Quartal. Damit fällt das Blatt erstmals seit 1953 unter die Millionenmarke. Im Gesamtverkauf liegt sie dank Bordexemplaren und sonstigen Verkäufen noch über dieser Marke, doch auch dort ist die Million nicht mehr fern. Das Minus von 5,8 Prozent fällt immerhin geringer aus als noch in den vergangenen Jahren." Und die FAZ liegt noch bei 174.000, die Welt ist mit 40.600 kleiner als die taz mit 41.000. Die Zeit badet weiterhin im Erfolg.
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