9punkt - Die Debattenrundschau

Warnsignal für ganz Europa

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.12.2021. "Alle bosnischen Traumata werden wieder zum Leben erweckt", sagt die Filmemacherin Jasmila Zbanic angesichts neuer serbischer Drohungen in der Welt. In der taz skizziert Kristina Lunz von der  Beratungsorganisation "Centre for Feminist Foreign Policy" eine feministische Außenpolitik. Bei heise.de erklärt Julia Reda, wie sie gegen Hassrede bei Telegram vorgehen würde.  Die FAZ beleuchtet die symbolische Rolle Armeniens in der französischen Politik.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.12.2021 finden Sie hier

Europa

Jonas Roth unterhält sich für die NZZ mit dem Fotografen Paul Lowe, der gerade eine Ausstellung mit Bildern aus der "Sniper Alley" in Sarajewo zeigt. Warum jetzt? "Ich habe mich oft gefragt, ob wir das Thema wirklich wieder aufrollen und die Leute daran erinnern sollen. Aber wann immer ich Zweifel habe, rufe ich mir in Erinnerung, dass es in Bosnien-Herzegowina immer noch Genozid-Leugner und Revisionisten gibt, die in aller Öffentlichkeit Kriegsverbrecher verehren und nationalistische Gewalt propagieren. Sie versuchen, die Wahrheit über die Vergangenheit auszulöschen. Dem müssen wir entgegenhalten."

Auch die Filmemacherin Jasmila Zbanic, deren Film "Quo vadis, Aida" gerade mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet wurde, sieht im Interview mit der Welt Warnzeichen für einen neuen Konflikt in Bosnien-Herzegowina: "Der serbische Innenminister Vulin spricht von einem neuen Krieg in Bosnien-Herzegowina, der serbische Präsident Vučić kauft mehr und mehr Waffen, und Dodik, der Präsident der Republika Srpska, kündigt - unterstützt von Russland - einen Bruch der Verbindungen zu Bosnien an, insbesondere die Aufstellung einer eigenen Armee. Das klingt für viele Bosnier so, als wiederholten sich die Neunziger. Eine solche Armee beging einen Völkermord, richtete das Massaker von Srebrenica an. Alle bosnischen Traumata werden wieder zum Leben erweckt. Der Faschismus in Jugoslawien ist von den Europäern 1995 nicht gestoppt worden. Heute haben wir in Europa, was damals unvorstellbar war: offen faschistische Parteien in Regierungen der EU. Die Vorgänge in Bosnien sind ein Warnsignal für ganz Europa. Was in Bosnien heute geschieht, wird auch euch blühen!"

Armenien spielt in der französischen Politik eine symbolische Rolle, die in Deutschland kaum wahrgenommen ist. Der rechtsextreme Präsidentschaftskandidat Eric Zemmour ist nach Armenien gereist und hat gesagt, "dass der Westen das Land in Stich gelassen" hat, berichtet Michaela Wiegel in der FAZ. Auch die gemäßigt rechte Kandidatin Valérie Pécresse war jetzt in Armenien und signalisiert damit, dass sie "in den bedrohten Christen des Orients den Vorposten einer auch in Frankreich attackierten Zivilisation" sehe: "Pécresse vermeidet es, von einem Zivilisationskrieg zu sprechen. Aber in ihrer Analyse liegt sie nicht weit entfernt von Zemmour. Seit Langem verfolgt sie, wie sich die EU unter deutscher Führung mit der Türkei arrangiert, statt ihr abzuverlangen, den Genozid an den armenischen Christen im Osmanischen Reich anzuerkennen. Die türkische Rückendeckung für Aserbaidschan im Konflikt mit Armenien sieht sie als logische Folge dieser nie vollzogenen Vergangenheitsaufarbeitung."
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Kulturmarkt

In der "Pléiade", der berühmten Klassikerbibliothek bei Gallimard, ist gerade unter dem Titel "L'Espèce humaine" ein Band mit wichtigen Erinnerungstexten an das Lagersystem der Nazis erschienen (unser Resümee). In der FAZ erinnert Jürg Altwegg an den Verleger Jacques Schiffrin, der die Pléiade erfunden hatte und sie bis 1940 leitete: "Die Umstände von Schiffrins Ablösung durch Jean Paulhan aber bleiben schleierhaft. Der Historiker Amos Reichman schildert sie in seiner soeben erschienenen Biografie 'Un éditeur en exil' (Le Seuil): Im November 1940 hatte Gaston Gallimard Schiffrin, der seit 1927 französischer Staatsbürger war, entlassen, weil er Jude war. Schiffrin konnte über Marokko nach Amerika fliehen. In New York tat er sich mit dem deutschen Verleger Kurt Wolff zusammen, der im Exil den Verlag Pantheon Books gründete - den später André Schiffrin leitete, der Sohn des Pléïade-Pioniers." Dessen Erinnerungen übrigens bei Wagenbach (siehe Literatur) erschienen.
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Gesellschaft

Willi Schmidt erzählt in einem persönlichen Erinnerungstext in der taz, wie es war ein "Verschickungskind" zu sein - die Verschickungen von Kindern in "Kinderkurheime" in den siebziger Jahren und ihre traumatischen Erfahrungen werden jüngst thematisiert (unser Resümee): "Neben drastischen Fällen von Qual und Erniedrigung sind es auch die scheinbar kleinen Dinge, die für Kinder lange nachwirkende Wunden hinterlassen können. Es sind übereinstimmende Erfahrungen, die das System der menschenverachtenden Heimerziehung deutlich machten. Die herablassende Art der Erzieher*innen. Der rücksichtslose Essenszwang. Das Zurschaustellen der Kinder, die ins Bett gemacht hatten. Der Zwang zur Lüge, in dem der Text der Post nach Hause diktiert und keine ehrlichen Aussagen zugelassen wurden. Das Öffnen der Briefe der Eltern an ihre Kinder."
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Politik

Annalena Baerbock will eine "feministische Außenpolitik" machen, so steht es auch im Koalitionsvertrag. Dabei handelt es sich um ein Schlagwort, das wohl seit einigen Jahren zirkuliert. Kristina Lunz von der  Beratungsorganisation "Centre for Feminist Foreign Policy" erklärt im Gespräch mit Patricia Hecht und Tobias Schulze von der taz, was darunter zu verstehen ist: "Für uns geht es um ein Infragestellen der grundlegenden Paradigmen von Außen- und Sicherheitspolitik. Das sogenannte realistische Paradigma muss analysiert und hinterfragt werden: Können Staaten wirklich nur durch militärische Stärke, Dominanz und Unterdrückung anderer überleben? Diesen patriarchalen Strukturen müssen wir einen Fokus auf Menschenrechte entgegensetzen, menschliche Sicherheit und alles, was zu einer gerechten Gesellschaft beiträgt." Und eins muss klar sein: Aufrüsten geht mit einer feministischen Außenpolitik gar nicht: "Kernforderungen davon waren immer Abrüstung und Demilitarisierung."
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Internet

(Via Netzpolitik.) Amazon lässt sich sehr weitgehend auf Kompromisse mit dem chinesischen Regime ein, um Geschäfte in China machen zu können, zeigt eine Recherche von Steve Stecklow und Jeffrey Dastin bei reuters.com, die mit Amazon-Mitarbeitern gesprochen haben. Ein Buch des Vorsitzenden der KP Xi Jinping ist bei amazon.cn als einziges nicht kommentierbar. Ein internes Briefing fordert politische Zurückhaltung von Amazon-Mitarbeitern: "Das interne Dokument und die Interviews zeigen, dass ein Kernelement dieser Strategie darin bestand, dass Amazon sich mit einem Arm des chinesischen Propagandaapparats zusammenschloss, um ein Verkaufsportal auf der US-Website des Unternehmens, Amazon.com, einzurichten - ein Projekt, das als 'China Books' bekannt wurde. Das Projekt, das schließlich mehr als 90.000 Publikationen zum Verkauf anbot, hat keine nennenswerten Einnahmen gebracht. Das Dokument zeigt jedoch, dass es von Amazon als entscheidend angesehen wurde, um Unterstützung in China zu gewinnen, da das Unternehmen sein Kindle-Gerät für elektronische Bücher, Cloud-Computing und E-Commerce-Geschäft ausbauen wollte."

Soll man Telegram in Europa wirklich sperren? Julia Reda spricht sich bei Heise dagegen aus - trotz auf Telegram verbreiteter Hetzreden, die bis zu Mordaufrufen gehen. Zugleich kommt das Bußgeldverfahren gegen den in den Vereinigten Arabischen Emiraten sitzenden Dienst nicht vom Fleck. Aber Versuche, mit Hilfe des NetzDG gegen Telegram vorzugehen, hält Reda für verfehlt. Die EU kann das besser, meint sie: "Bereits im Sommer könnten sich Parlament, Rat und Kommission auf einen gemeinsamen Digital Services Act (mehr dazu hier) einigen, Ende 2022 könnte er in Kraft treten. Das wäre eine deutlich bessere Grundlage für die Regulierung von Telegram als eine Reform des NetzDG, das bereits jetzt wegen der Datenweitergabe an das Bundeskriminalamt auf verfassungsrechtlich wackeligen Beinen steht. Anders als das NetzDG sieht außerdem der Digital Services Act keine strikten Löschfristen nach Meldung von Inhalten vor, die dem Overblocking Vorschub leisten. Probleme mit der internationalen Rechtsdurchsetzung können durch den Digital Services Act zwar auch nicht völlig ausgeräumt werden. Dennoch ist es wahrscheinlicher, dass sich ein großer kommerzieller Dienst über kurz oder lang an einheitliche europäische Regeln hält, die verhältnismäßig ausgestaltet sind, als wenn jedes Land sein eigenes Süppchen kocht."
Archiv: Internet