9punkt - Die Debattenrundschau

Wie weggeschmolzen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.12.2021. Eine allgemeine Impfpflicht ist absolut mit der Verfassung vereinbar, schreibt der Rechtswissenschaftler Frank Mayer in der SZ.  In der FAZ erzählt der Schauspieler Christian Kahrmann, wie es sich anfühlt, wenn einem die Lunge ausgesaugt wurde. FAZ und Welt fragen, ob Verwaltungen grundsätzlich gendern sollten. Im Tagesspiegel fordert Christian Humborg von der Wikimedia Foundation eine Freigabe der Impfstoffpatente. Die Jüdische Allgemeine fragt, wie Claudia Roth zu Israel steht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.12.2021 finden Sie hier

Gesellschaft

Caroline Jebens führt in der FAZ ein beeindruckendes Gespräch mit dem Schauspieler Christian Kahrmann, der schwer an Corona erkrankt war und dessen Vater an Corona starb, während er selbst im Koma lag. Kahrmann ist immer noch im Genesungsprozess:  "Es war ein einziger Marathon von der Intensivstation zur Reha. Ich war so geschwächt, dass ich mich noch nicht mal von alleine auf die Bettkante setzen konnte. Mein Körper war wie weggeschmolzen: Ich hatte keine Muskeln, keine Kraft mehr, konnte nicht richtig essen. Ich habe 20 Kilo in der Zeit abgenommen. Man hat mir die Lunge ausgesaugt. Ich hatte glasige Augen, meine Wirbelsäule zeichnete sich ab. Ich sah aus wie ein Gespenst. Ich habe keine Fotos davon gemacht, heute ärgere ich mich etwas deshalb."

"Eine allgemeine Impfpflicht ist grundsätzlich mit der Verfassung vereinbar", schreibt der Rechtswissenschaftler Frank Mayer in der SZ, denn: "zugunsten der Allgemeinheit erlaubt das Grundgesetz durchaus auch erhebliche Beschränkungen der körperlichen Unversehrtheit und anderer Verfassungsgüter." Und weiter: "Es ist bereits jetzt deutlich, dass die Befürworter einer Impfpflicht die übergroße Mehrheit ausmachen. Demokratie ist aber Mehrheitsherrschaft - und das meint nicht die gefühlte Mehrheit der Boulevardpresse. Dass sich Mehrheits- und Minderheitsmeinungen gegenüberstehen, kommt regelmäßig vor. Spaltung droht erst, wenn die Minderheit die grundgesetzkonforme, demokratische, parlamentarische Mehrheitsentscheidung als fundamentale Spielregel nicht mehr hinnimmt. Wo sich Corona- und Impfskepsis zu einer identitären Abwehrhaltung entwickelt haben, steht häufig auch die Akzeptanz dieser Regel infrage. Dann aber wäre die Rücksichtnahme auf das Spaltungsargument die Duldung einer Tyrannei der radikalisierten Minderheit."

Ähnliche Fragen stellen sich auch beim Gendern, das eine Mehrheit ablehnt, in offiziellen Stellen. Hannovers Verwaltung gendert bereits seit drei Jahren, angesprochen werden "Wählende" und "Bürger:innen". Ulrike Lembke, Professorin für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien an der Berliner Humboldt-Universität hat nun ein 123seitiges Gutachten verfasst, das sich Reinhard Bingener bereits gestern für die FAZ angesehen hat. Lembke leite darin "eine Pflicht für staatliche Stellen ab, künftig gendergerechte Sprache zu verwenden und auch auf binäre Anreden wie 'Sehr geehrte Damen und Herren' zu verzichten. (…) Insgesamt attestiert die Gutachterin den deutschen Verwaltungen, bei Umsetzung und Anwendung geschlechtergerechter Sprache vielfach 'in grober Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze' ihre Bindung an das Gesetz zu vernachlässigen. Das ist ein schwerwiegender Vorwurf. Auch stellt sich die Frage, wie sich Lembkes Ableitung einer Pflicht zu anderslautenden Entscheidungen demokratisch legitimierter Politiker verhält, die eine gendergerechte Sprache jüngst explizit untersagt haben."

In der Welt ärgert sich Anna Schneider: "Worum es Lembke eigentlich geht, blitzt in auffällig abfälligem Ton an einigen Stellen durch. Da ist von der 'überfälligen De-Privilegierung' der Männer bis in die Verwaltungssprache die Rede. 'Das Grundrecht auf Gleichberechtigung ist ein zugunsten von Frauen wirkendes, antipatriarchales Verbot, von der gesellschaftlich dominanten Gruppe der Männer unterdrückt zu werden.' Weder ist jeder Mann privilegiert, noch ist jede Frau ein Opfer, und es ist ganz sicher nicht im Sinne des Grundgesetzes, Frauen gegen Männer - oder Männer gegen Frauen - auszuspielen."
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Ideen

Im Tagesspiegel fordern Christian Humborg von der Wikimedia Deutschland e.V. und Christian Katzer von Ärzte ohne Grenzen einen TRIPS Waiver für medizinische Covid-19 Produkte, also "eine vorübergehende Aussetzung des internationalen Patentschutzes und bestimmter anderer geistiger Eigentumsrechte", aber: "Ausgerechnet Deutschland war bisher ein erbitterter Gegner des TRIPS Waivers. Damit stellt Deutschland eigene wirtschaftliche Interessen klar über die globalen Gesundheitsbedürfnisse. Der Grund liegt auf der Hand - zwei große Akteure im Bereich der mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19 haben hier ihren Sitz, Biontech und Curevac. Allein das Mainzer Unternehmen Biontech wird voraussichtlich für ein Achtel des deutschen Wirtschaftswachstums in diesem Jahr verantwortlich sein, eine gigantische Summe. Ebenfalls gigantisch ist die Förderung aus öffentlicher Hand, die beide Unternehmen erhalten. Trotz öffentlicher Gelder und Not der Weltgemeinschaft halten die betroffenen Pharmaunternehmen ihr Wissen unter Verschluss."

Marlene Hobrack schreibt in der taz einen Nachruf auf die Social-Justice-Theoretikerin Bell Hooks, die sich selbst bell hooks schrieb ("es ist der Name ihrer indigenen Großmutter. Mithilfe der Kleinschreibung zeigt sie ihre Rolle als Nachkommin - auch das ist eine Form der Verortung in der Welt", so Hobrack). Hobrack schildert sie vor allem als Klassentheoretikerin: "Man erfasst beim Lesen intuitiv, wie sich die Kategorien race, class und gender verschränken und muss dafür nicht von 'intersektionalem Feminismus' gehört haben." Weitere Nachrufe bei Zeit online (hier) und im Tagesspiegel (hier).
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Europa

In der letzten Legislaturperiode war die AfD die größte Oppositionspartei, was ihr Vorteile im Protokoll und im starren Zeremoniell der "Tagesschau" verschaffte. Das ist nun vorbei, freut sich Sabine am Orde in der taz: " Mit CDU-Fraktionschef Ralph Brinkhaus gibt es einen neuen Oppositionsführer. Vorbei ist die Zeit, in der die AfD-Spitze unmittelbar nach einer Regierungserklärung minutenlang Hass und Hetze im Plenum verbreiten konnte. Den radikal Rechten geht es vor allem darum, später möglichst scharfe Redeausschnitte in die eigene Blase zu senden. Dafür bleiben ihr jetzt erst ein späterer Sendeplatz und auch weniger Redezeit. Der Bedeutungsverlust der AfD war erfreulich greifbar."

Die SPD hat auf ihrem letzten Parteitag doch glatt die Gründung eines säkularen Arbeitskreises beschlossen, berichtet hpd.de. Bisher war dies den "säkularen Sozis" von der Parteiführung verwehrt worden: "Für die weitere Arbeit hat sich der Initiativkreis auf zwölf inhaltliche Fragestellungen verständigt, die in einem möglichen Arbeitskreis diskutiert werden und zu denen gegebenenfalls positionierende Beiträge oder Empfehlungen erarbeitet werden. Darüber hinaus soll der Arbeitskreis für parteiinterne sowie externe Foren offene Diskussionen anbieten. Eine Zusammenarbeit mit den religiösen Arbeitskreisen in der SPD ist ausdrücklich erwünscht."

Kulturstaatsministerin Claudia Roth hat als eine ihrer ersten Amtstaten das Holocaust-Mahnmal besucht, wo sie versprach, das Existenzrecht Israels zu verteidigen - eine wichtige Äußerung angesichts jüngster Debatten, findet Ayala Goldmann in der Jüdischen Allgemeinen. Roth sei bisher vor allem durch ihre Kontakte zum iranischen Regime hervorgetreten und hat sich gegen die BDS-Resolution des Bundestags ausgesprochen. "Doch wäre es voreilig, sie schon jetzt aufgrund ihres Verhaltens in der Vergangenheit zu beurteilen. Jede Politikerin muss eine faire Chance bekommen, sich in ein neues Amt einzuarbeiten - zumal der Koalitionsvertrag mit Blick auf jüdisches Leben in Deutschland Rahmenbedingungen setzt."
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Politik

Nicht den Friedensnobelpreis, aber doch den Hessischen Friedenspreis möchte die CDU-Politikerin Lucia Puttrich Äthiopiens Ministerpräsidenten Abiy Ahmed Ali gern wieder aberkennen angesichts der "Gräueltaten durch äthiopische Regierungstruppen und ihre Verbündeten. Unabhängige Beobachter, NGOs und Nachrichtenagenturen berichten übereinstimmend über gezielte Massaker gegen Zivilisten und systematische Massenvergewaltigungen an Frauen und Mädchen. Verlässliche Berichte über Todesopfer gibt es nur wenige. Schätzungen gehen bisher von über 10 000 zivilen Toten und vielen Tausenden gefallenen Soldaten auf beiden Seiten aus. Gemessen an diesen Opferzahlen, gehört der Konflikt in Tigray ohne Zweifel zu den blutigsten bewaffneten Konflikten der letzten Jahre - weltweit. Ein Ende des Konfliktes ist nicht in Sicht. Die Türkei hat kürzlich bewaffnete Drohnen an die äthiopische Regierung verkauft. Für die Eskalation des Konfliktes ist der Friedenspreisträger Abiy Ahmed Ali vielfach persönlich verantwortlich. Es ist nicht nur seine abstoßende Kriegsrhetorik, die den Konflikt immer stärker anheizt, es sind auch viele Einzelmaßnahmen gegen Zivilisten."
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Kulturpolitik

Jenseits von Großprojekten wie Humboldt Forum oder Elbphilharmonie gibt es genug Kulturbetriebe in Europa, die zunächst erstmal geschützt werden müssten, schreibt Nils Minkmar in der SZ: "Die pragmatische, einfallsreiche Pflege von Institutionen in der Provinz, darin besteht heute die wesentliche kulturpolitische Agenda. Das ist immer öfter auch im Wortsinn nötig: Der Klimawandel macht auch vor Schlössern und Museen nicht halt… Steigende Temperaturen und zunehmende Feuchtigkeit durch heftigere Regenfälle greifen Denkmäler innen und außen an. Doch bislang macht sich kaum ein politisch Verantwortlicher die banale Frage reißender Mauern, schimmelnder Stoffe und brüchiger Ziegeln zu eigen."
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Kulturmarkt

Bruce Springsteen hat offenbar seine kompletten Rechte an Sony Music verkauft - für eine Summe von einer geschätzten halben Milliarden Dollar, berichtet Benjamin Fischer in der FAZ. "Der Verkauf hatte sich angebahnt, nicht zuletzt angesichts des Ansturms von Finanzinvestoren wie KKR, Blackstone oder Apollo Global Managment auf Rechte an Werken etablierter Künstler, der das schon hohe Preisniveau weiter befeuert. Billboard hatte schon Anfang November über Gespräche berichtet, ohne dass beide Seiten diese kommentierten. Im Falle von Springsteen galt Sony Music allerdings vor allem mit Blick auf die Rechte an den Aufnahmen stets als Favorit für den Zuschlag. Denn Springsteen arbeitet seit 1972 mit dem Sony-Label Columbia Records zusammen. Alle seine Alben sind über dieses erschienen."
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