9punkt - Die Debattenrundschau

Das Risiko historischer Benennungen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.12.2021. Wenn Julian Assange ausgeliefert wird, ohne dass die europäische Politik einschreitet, "disqualifiziert sie all ihre künftigen Warnungen im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit in anderen Ländern zu hohlem Gerede", schreibt Eugen Ruge in der Zeit. In der FAZ erklärt Andreas Kilb die Hohenzollern-Debatte für beendet: "Was es jetzt braucht, sind keine weiteren Meinungen mehr, sondern Entscheidungen." Im Pariser Institut du Monde arabe läuft eine Ausstellung über "Juden des Orients". Arabische Intellektuelle wie Elias Khoury laufen Sturm gegen die "Normalisierung" der Beziehungen zu Israel, die sich darin ausdrücke, berichtet die Welt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.12.2021 finden Sie hier

Europa

Olaf Scholz setzt erste außenpolitische Akzente, stellt Dominic Johnson in der taz nach dem Prozess um den Tiergartenmord fest: "Während am Kammergericht in Berlin-Schöneberg der Richter Russland 'Staatsterrorismus' vorwarf, bekräftigte Bundeskanzler Olaf Scholz ein paar Kilometer weiter im Bundestag seine Bereitschaft zu 'konstruktivem Dialog' mit Russland. Später sagte sein Sprecher, für eine Reaktion der Bundesregierung auf das Urteil sei es 'zu früh'."

"Beten wir", dass Putin nicht in die Ukraine einmarschiert, schreibt Bernard-Henri Levy in einem Text, den Nils Minkmar für die SZ übersetzt hat. Denn die russische Armee sei in einem "kritischen Zustand", während "die heutige Ukraine nicht mehr die von 2014 ist, als die Krim überrannt wurde. Seit der Amtszeit von Petro Poroschenko hat das Land eine Armee aufgebaut, deren Feuerkraft, Verteidigungsfähigkeit und Moral ich und andere vor Ort überprüfen konnten. Nur ein Funke könnte zu einem Krieg hoher Intensität führen." Putins Ziel ist es, Europa zu "destabilisieren", so Levy weiter, der sich mit russischen Argumentation auseinandersetzt: Sie "beruht auf der Realität der Bevölkerungsbewegungen, die in der Tat in der gesamten Region stattfanden: Aber was folgt daraus? Soll Litauen Anspruch auf Smolensk erheben? Soll die Slowakei in Transkarpatien einmarschieren?"
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Politik

Umweltpolitik ist "Machtpolitik" geworden, schreibt Axel Bojanowski in der Welt: "Es brauchte eine mächtige Lobby, um Windkraft und Sonnenenergie durchzuboxen. Schwerreiche Stiftungen, Profit witternde Banken und mit der Branche vernetzte Politiker bahnten den Weg: Wissenschaftsinstitute wurden gegründet, Medien lobbyiert, Wind- und Sonnenenergiefirmen mit gigantischen Subventionszahlungen gefördert, Umweltverbände mit Zahlungen ruhig gestellt. (...) Wohl selten zuvor allerdings dürfte im Namen des Umweltschutzes ein solch riesiger Bürokratenapparat entstanden sein wie mit der aktuellen Energiewende. Er erhält Zugriff auf fast alle Lebensbereiche, beispielsweise auf Energieversorgung, Wohnen, Mobilität, Ernährung."
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Geschichte

Es geht in der Hohenzollern-Debatte nicht nur um den "erheblichen Vorschub", den Protagonisten des Hauses dem Naziregime geleistet haben sollen, sondern auch um das von der Familie geforderte Mitspracherecht bei der Präsentation von Memorabilien ihrer gloriosen Rolle in der Geschichte, resümiert Andreas Kilb in der FAZ, der nochmal auf den Sammelband der Apologeten unter dem scheinbar neutralen Titel "Die Hohenzollern-Debatte" eingeht. Was den Einfluss der Hohenzollern auf künftige Präsentation von Objekten in Museen angeht, fürchtet Kilb Stillstand: "Nach der Ernennung einer grünen Kulturstaatsministerin und eines rot-grün-roten Senats in Berlin ist ein außergerichtlicher Vergleich allerdings noch unwahrscheinlicher geworden. Der ungeklärte rechtliche Status von Tausenden historisch wertvoller Objekte wird so zum Dauerzustand." Kilb erklärt die eigentliche Debatte in seinem Artikel für beendet: "Was es jetzt braucht, sind keine weiteren Meinungen mehr, sondern Entscheidungen, sei es auf politischem oder gerichtlichem Weg."

In der NZZ kommentiert Oliver Maksan die von dem Berliner Antisemitismus-Beauftragten Samuel Salzborn in Auftrag gegebene Studie, derzufolge 209 Berliner Straßen und Plätze nach Persönlichkeiten benannt seien, "wo wenigstens der Anfangsverdacht besteht, dass sie in ihrem Denken und Handeln antisemitische Bezüge aufwiesen." Von Aufrufen zur Umbenennung hält Maksan nichts: "Die Frage ist …, wo die Bewertung der Geschichte nach moralischen Maßstäben von heute ein Ende findet. Mag der Antisemitismus besonders widerlich sein: Warum nicht auch nach dem Frauen-, Homosexuellen- oder Demokratieverständnis fragen und beurteilen? Wer aber von historischen Figuren erwartet, dass sie heutigen Maßstäben vollumfänglich genügen oder sich wenigstens nicht greifbar dagegen verfehlt haben, darf eigentlich das Risiko historischer Benennungen kaum mehr eingehen."
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Kulturpolitik

Im Pariser Institut der arabischen Welt (IMA) ist derzeit die Ausstellung "Juifs d'Orient, une histoire plurimillenaire", die sich mit jüdischem Leben im Orient auseinandersetzt, zu sehen. Arabische Intellektuelle "laufen Sturm", berichtet Martina Meister in der Welt. Jack Lang, ehemaliger französischer Kulturminister und Leiter des IMA, wird etwa vorgeworfen, die israelische Sängerin Neta Elkayam, die das arabisch-jüdische Erbe besingt, eingeladen und die "Abraham Accords" begrüßt zu haben: "Seit Anfang Dezember kursiert im Internet ein öffentlicher Brief des libanesischen Schriftstellers Elias Khoury, den inzwischen 200 Intellektuelle der arabischen Welt unterzeichnet haben, in dem sie die Pariser Ausstellung als 'explizites Zeichen einer Normalisierung" mit Israel werten. Sie fordern das IMA wortwörtlich auf, 'Positionen zu revidieren', andernfalls drohen sie mit Boykott. Kritisiert wird der angebliche Versuch, Israel als 'normalen Staat im Nahen Osten' darzustellen, ungeachtet der Tatsache, dass es sich um ein 'koloniales Siedlungs- und Apartheidsregime' handele, das alles andere als normal sei. ... Über diesen Streit gerät in Vergessenheit, was die Pariser Ausstellung leistet: Dass Exponate aus drei Jahrtausenden zusammengetragen wurden, die das religiöse und kulturelle Leben der Juden auf drei Kontinenten und die gegenseitige Beeinflussung von Juden und Moslems dokumentieren."
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Medien

Wenn Julian Assange ausgeliefert wird, ohne dass die europäische Politik einschreitet, "disqualifiziert sie all ihre künftigen Warnungen im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit in anderen Ländern zu hohlem Gerede", schreibt Eugen Ruge in der Zeit: "Was hier seit zehn Jahren passiert, ist eine widerwärtige Verhöhnung jener Werte, die die westliche, besonders natürlich die US-amerikanische Politik unaufhörlich in Anspruch nimmt, um ihre Invasionen und Sanktionen zu rechtfertigen. Und die Europäer schweigen. Sie verweigern Assange das Asyl, obwohl in anderen Zusammenhängen ständig und mit Recht von der Verpflichtung zur Aufnahme von Verfolgten die Rede ist. Sie kollaborieren sogar mit den USA …" Im Freitag ärgert sich Wolfgang Michael, dass man sich im Westen mehr mit Alexej Nawalny als mit Julian Assange solidarisiert.

Seit einigen Tagen zirkuliert ein Papier der Initiative #UnsereMedien im Netz, das wortreich eine Reform und Stärkung der öffentlich-rechtlichen Sender fordert. Verfasst ist es von Journalisten und Medienwissenschaftlern, die dem Apparat zumeist nahestehen. Steffen Grimberg stellt es in der taz vor und zitiert ausführlich aus der Prosa des Papiers (die einen im Stehen einschlafen lässt): "Gefordert werden 'sinnvolle, transparente Maßstäbe' für eine 'unabhängige Kontrolle der Zielerreichung, die über rein prozessorientiertes Qualitätsmanagement' und den immer noch dominierenden Klick- oder Quotenfetisch - egal ob bei TV, Radio oder Online - hinausgehen."
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Gesellschaft

Transfrauen sind Männer, die nicht einfach Zugang zu Räumen suchen sollten, die Frauen vorbehalten sind, beharrt Kathleen Stock im Gespräch mit Anna-Lena Scholz von der Zeit: "In Großbritannien konnten auf diesem Wege Männer erwirken, in Frauengefängnisse verlegt zu werden. Natürlich sind die meisten Männer keine Vergewaltiger. Und die meisten Transfrauen sind ungefährlich. Aber das weiß man vorher nicht. Deswegen ist es sinnvoll, diese Gruppe von einigen Orten auszuschließen, also: Männer. Mein Maßstab ist: Wie schützen wir Frauen? Dieses Sicherheitsprinzip besagt, dass wir vom schlimmstmöglichen Szenario ausgehen sollten."

Vielleicht wundert sich ja nicht nur Yascha Mounk, dass Willy Brandts berühmter Kniefall nun eine 2-Euro-Münze ziert:

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Ideen

Der Soziologe Andreas Reckwitz sieht in der Zeit ein neues Zeitalter der Pflicht auf uns zukommen, getrieben von "Fridays for Future": "Es ist durchaus eine historische Ironie, dass gerade die Kinder der Generation der Selbstverwirklichungs- und Konsumrevolution eine Gegenbewegung dazu initiieren - mit guten Gründen. Dabei geht es nicht um eine Renaissance traditioneller Pflichten, sondern um neue, gleichsam universale Verpflichtungen, die sich nicht selten auf Argumente aus den Wissenschaften stützen können." Wohl an die Adresse der Ampel mahnt Reckwitz allerdings auch, das Instrument neuer Pflichten mit Bedacht anzuwenden: "Es ist ein starkes Mittel mit erheblichem Konfliktpotenzial. Man sollte es für besondere Situationen reservieren."

"Der absolute Wert des Individuums scheint mir eine deutsche Idee zu sein, vielleicht im Anschluss an Kant", sagt im SZ-Gespräch mit Niklas Elsenbruch der australische Moralphilosoph Peter Singer, dessen Buch "Effektiver Altruismus" gerade neu aufgelegt wurde: "Für mich ergibt das keinen Sinn. Nehmen Sie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dass man ein gekapertes Flugzeug nicht abschießen darf, das auf eine Veranstaltungshalle zufliegt - obwohl die Insassen in wenigen Minuten ohnehin sterben werden. Aus meiner Sicht ist das verrückt. (…) Wenn in einer großen Gruppe alle Menschen jeweils absoluten Wert haben, muss es doch einen Unterschied machen, dass sie gegenüber einer Einzelperson in der Mehrzahl sind. Die Idee des absoluten Wertes leugnet die Relevanz von Zahlen."

Außerdem: In der NZZ sinniert der Soziologe Stefan Müller-Doohm über Theodor W. Adornos "Minima Moralia", die vor siebzig Jahren erschienen.
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Internet

Telegram, einst sichere Alternative zu Whatsapp, ist längst zum Tummelplatz für Rechtsextreme, Verschwörungstheoretiker und andere Radikale geworden. In der FR meldet Andreas Apetz: "'Innenpolitiker in Deutschland stehen vor einem Telegram-Dilemma, das sie nicht einfach lösen können', sagt die Leiterin des Digitalbereichs der Amadeu Antonio Stiftung, Simone Rafael. Die einzige Möglichkeit Telegram in den Griff zu bekommen, wäre den Dienst komplett abzuschalten. 'Aber das will im demokratischen Deutschland verständlicherweise niemand', sagt Rafael im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AFP."

Was tun, wenn Telegram sich weiterhin weigert, Verschwörungstheorien zu löschen oder Mordaufrufe zu melden, fragt Philipp Bovermann in der SZ. Die Weg über die Justiz wird lange dauern, deshalb muss anderweitig Druck aufgebaut werden, fordert er: "Über Google und Apple, die sich entscheiden könnten, Telegram aus ihren Stores zu werfen. Außerdem müssen die Strafverfolgungsbehörden anfangen, konsequent die Identitäten von Tätern auf Telegram zu ermitteln - und nicht erst warten, bis das wie im Fall Kretschmer ZDF-Reporter für sie erledigen. Die App, die fälschlicherweise als völlig anonym gilt, bietet in Wahrheit dafür zahlreiche Möglichkeiten."
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