9punkt - Die Debattenrundschau

Aus dem Zug geworfen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.11.2021. FAZ-Korrespondent Friedrich Schmidt besucht die Menschenrechtsorganisation Memorial in Moskau, der die Auflösung droht, weil sie sich nicht eilfertig genug als "ausländischer Agent" bezichtigt. Die SZ erklärt nochmal, warum von mRNA-Impfstoffen nichts zu befürchten ist. Die taz bespricht die Ausstellung "Ausgrenzung - Raub - Vernichtung", die am Beispiel eines Landstrichs in Baden-Württermberg zeigt, wie gründlich die Deutschen die Juden ausraubten. Nach einer Tagung stellt sich die Frage, ob alle Kulturgüter in den ethnologischen Museen zurückgegeben werden müssen. Gilt das auch für den Pergamon-Altar?, fragt der Tagesspiegel.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.11.2021 finden Sie hier

Wissenschaft

Die mRNA-Impfstoffe wie Biontech und Moderna sind eine wissenschaftliche Revolution, erklärt Andrian Kreye in der SZ. Um das zu verstehen, empfiehlt er das Erklärvideo des Vaccine Makers Project, einem Projekt des Kinderkrankenhauses in Philadelphia: "Dem kann man visuell schon mal ganz gut folgen. Die entscheidende Botschaft aber verkündet die freundlich-sachliche Frauenstimme bei Sekunde 45. Der Botenstoff des Vakzins dringt weder in den Zellkern des Menschen ein, noch verändert er das Erbgut. Er bleibt nicht einmal allzu lange im Körper, auch wenn die Wirkung bleibt. Die mRNA des Impfstoffs funktioniert eher wie ein Ausbilder, der die Abwehrzellen des Menschen darin trainiert, mit dem neuen Virus fertigzuwerden. Sie ist ein Botenstoff, der die Proteine anspricht, also jene Bausteine des Körpers, die alle biologischen Prozesse vollziehen. Das klingt wie eine Art Entwicklungshilfe für den Organismus. Ist es auch. Die Beherrschung dieser Proteine ist seit vielen Jahren eines der großen Ziele der Forschung. Die Wissenschaftler manipulieren das Erbgut des Menschen also nicht, sie verstehen es nur."

Vorne auf der Seite 3 der SZ erklären Michael Bauchmüller und Vera Schroeder, dass nach allen wissenschaftlichen Studien der mRNA-Impfstoff von Moderna, der jetzt erst mal bevorzugt verimpft werden soll, mindestens genauso gut und wirksam ist wie der von Biontech.
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Medien

Der Journalist Tanjev Schultz hat zehn Jahre nach den NSU-Morden ein Buch zum Thema veröffentlicht. Es lässt ihn nicht lost, sagt er im Gespräch mit Benedikt Schülter in der Weltfalenpost. Auch die Medien kritisiert er in seinem Buch scharf: "Die Medien haben in dem Zeitraum, als der NSU die Morde beging, unkritisch die Position der Polizei übernommen und deren Verlautbarungen geglaubt und publiziert. Damals war auch von dem Unwort 'Dönermorde' die Rede. Nicht nur in den Boulevardmedien, sondern auch in Qualitätsmedien wie der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung tauchte der Begriff auf. Die Medien haben es damals versäumt, auch die Perspektive der Opferfamilien einzunehmen."
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Stichwörter: NSU, Süddeutsche Zeitung

Ideen

In der Zeit hat eine Gruppe von Universitätsleuten jene "Übermacht" angegriffen, die sich mit Kathleen Stock solidarisiert habe - die Feministin Stock ist wegen ihrer nicht gendertheoriekonformen Ansichten gemobbt worden und hat ihren Posten an der Uni Sussex aufgegeben (unserer Resümees). Die Autorengruppe der Zeit hat auch das "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit" angegriffen, das sich mit Stock solidarisierte. In der FAZ antwortet der Politologe Uwe Steinhoff, der dem Netzwerk angehört: "Sowenig fehlende Parität automatisch Diskriminierung belegt, so wenig erzeugen umgekehrt 'die Einbeziehung marginalisierter Positionen' und 'pluralere Perspektiven' automatisch 'eine robustere Objektivität'. Die Objektivität einer wissenschaftlichen Theorie bemisst sich nicht an der paritätischen Besetzung des Forscherteams, das sie formuliert hat, sondern an ihrem methodisch prüfbaren Erklärungswert."
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Politik

Sebastian Conrad lehrt "Global History" am Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin. In einem Artikel auf der Gegenwart-Seite der FAZ erklärt er, warum ihm Kritik an China oft nicht behagt: "Es soll keineswegs bezweifelt werden, dass die Kritik an Chinas Politik, etwa in Xinjiang, Hongkong oder dem Südchinesischen Meer, nicht am Platz ist. Das ist eine andere Diskussion. Hier geht es darum, dass die Form, in der die Kritik formuliert wird, nämlich als Konflikt zwischen unterschiedlichen Kulturen, sich nicht selten mit Anliegen vermischt, die mit Ostasien gar nicht in erster Linie zu tun haben... Häufig stellt der China-Diskurs vielmehr auch ein Vokabular zur Verfügung, mit dem ganz andere gesellschaftliche Konflikte verhandelt wurden - und werden."
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Europa

FAZ-Korrespondent Friedrich Schmidt besucht die Menschenrechtsorganisation Memorial in Moskau. Sie droht ausradiert zu werden, weil sie nicht in Putins Geschichtsbild passt. Vorwand ist, dass sie nicht überall, wo es möglich war, eilfertig genug betont hat, dass sie als "ausländische Agentin" agiert: "Bestraft wurde die Organisation für unterbliebene Selbstbezichtigungen in sozialen Netzen und Datenbanken, zu deren Markierungspflichtigkeit bis dahin nichts gesagt war. Die meisten Klagen gingen auf die Vertretung des Geheimdiensts FSB in der Nordkaukasus-Teilrepublik Inguschetien zurück, offenbar aus Rache dafür, dass sich Memorial erfolgreich für Willküropfer einsetzte. Die Organisation zahlte die Bußgelder wegen unterbliebener Markierung, insgesamt mehr als 72 000 Euro, sammelte dafür Spenden."

Die Europäer und ganz besonders Deutschland behandeln Wladimir Putin im Konflikt um die Ukraine und bei den Geschehnissen in Belarus immer noch als einen unbeteiligten Dritten. Dabei haben Putin und Lukaschenko längst einen Fahrplan zum Zusammenschluss ihrer Staaten unterzeichnet (mehr hier). Putin wird die Europäer weiter ausspielen, ist sich Richard Herzinger in seinem Blog sicher: "Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Putin das seinem Willen unterworfene Belarus als Aufmarschgebiet gegen Polen und das Baltikum, vor allem aber gegen die Ukraine nutzen wird. Neueste gemeinsame Militärmanöver russischer und der Truppen Lukaschenkos unterstreichen dies. Aktuell zieht Moskau erneut Truppen an der russisch-ukrainischen Grenze zusammen. Eine offener Einmarsch in die Ukraine in nächster Zukunft wird immer wahrscheinlicher."
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Gesellschaft

Die taz veranstaltet ein Pro und Kontra zum Thema Impfpflicht, bei dem sich die Kontrahenten eher einig sind. Susanne Kaul schreibt im "Pro": "Im öffentlichen Leben ist für Ungeimpfte nahezu kein Platz mehr. Warum also das Kind nicht beim Namen nennen - nicht zuletzt, um ein Stück verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen." Jan Feddersen will sich im "Kontra" nicht auf eine langwierige juristische Prozedur einlassen und schlägt vor: "Besser als eine Impfpflicht wäre der Verzicht auf Augenzwinkerei bei der 2G-Regel. Dass nötigenfalls Passagiere eines ICE aus dem Zug geworfen werden, wenn sie sich nicht als 2G ausgewiesen haben; in Bussen, U- und S-Bahnen können die impfungeschützten Coronaschleuder*innen dann auch nicht mehr fahren. Wer sich in Züge und Abteile hineinmogelt, muss mit hohen Geldstrafen rechnen. Wer das kontrollieren soll? Ist doch klar: Polizei, Ordnungsämter - und auch die beschäftigungsarmen Leute der Bundeswehr."

Ungeimpfte sind nicht dasselbe wie Impfgegegner, erläutert Elke Bruhn in der taz und zitiert aus Erkenntnissen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung  über das Impfen allgemein: "Unter den Befragten mit formal höherer Schulbildung ist der Anteil der Impfbefürworter höher als unter Personen mit niedrigerem oder mittlerem Bildungsniveau." Und: "Befragte ohne Migrationshintergrund können etwas häufiger als Personen mit Migrationshintergrund als Impfbefürworter bezeichnet werden."

Dass es toxische Männlichkeit gibt, ist für die Kultur- und Sozialanthropologin Ingrid Thurner glasklar. Aber ebenso klar gibt es auch toxische Weiblichkeit, schreibt sie in einem Essay für den Standard. "So arbeiten Frauen mit an der Unterdrückung von Frauen, an der Aufrechterhaltung von Geschlechterasymmetrien - als Mütter, Schwiegermütter, Ehefrauen, Vorgesetzte, Kolleginnen. Sie tun dies aktiv, wenn sie Gewaltregime mitgestalten, etwa im familiären Bereich bei Kindesmisshandlungen, Kindesmissbrauch oder Kinderpornografie - auch wenn der Anteil von Müttern bei solchen kriminellen Aktivitäten sehr viel kleiner ist als der von Vätern und männlichen Verwandten. Sie tun dies passiv, indem sie die Verhältnisse dulden und schweigen, sich nicht zuständig fühlen, nicht eingreifen. Sie tun dies durch direkte und indirekte Zustimmung zur Höherwertung des Mannes, wodurch sie Privilegien und Anerkennung ernten. Die deutsche Sozialwissenschafterin Christina Thürmer-Rohr hat sich mit der These der weiblichen Mittäterschaft viele Feindinnen geschaffen - Frauen, die sich lieber nur in der Opferrolle wahrnehmen."
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Geschichte

Wie der Raub am Besitz jüdischer Nachbarn funktionierte, zeigen beispielhaft eine Ausstellung und Studie über einige Landstriche im heutigen Baden-Württemberg, die teilweise von ehrenamtlichen Historikern erarbeitet wurden. "Ausgrenzung - Raub - Vernichtung" heißt die Ausstellung, die wegen Corona verspätet stattfindet und über die Benno Stieber in der taz berichtet. Sie geht maßgeblich auf eine Initiative der Historikers Heinz Högerle zurück: "Das Ausmaß, in dem sich Behörden und Bürger am Vermögen der ausgereisten und deportierten Juden in einer mittelgroßen Stadt wie Horb bereichern, lässt für Högerle keine Ausreden zu: 'Die Akten zeigen, dass breite Teile der Bevölkerung davon ausgingen dass jüdisches Leben in Deutschland endgültig zu Ende sei und dass man sich ohne Gefahr am Raub beteiligen könne.' So fand noch am 13. April 1945, keinen Monat vor dem Kriegsende, eine größere Verkaufsaktion von jüdischem Vermögen für die Angestellten des Horber Finanzamts statt."
Archiv: Geschichte

Kulturpolitik

Im Tagesspiegel berichtet Nicola Kuhn von einer Tagung zu Rückgabeforderungen an deutsche und europäische Museen, die zeigte, wo die Reise hingehen soll: Rückgabe aller Kulturgüter in den ethnologischen Museen auf der Grundlage des Rechts des Herkunftslandes und oral history. Die Berliner Museumsdirektoren Barbara Helwing und Martin Maischberger würden das im Interview mit dem Tagesspiegel etwas differenzierter sehen: Für den Pergamonaltar, so Maischberger, gibt es nicht mal eine Rückforderung der türkischen Regierung. Und die Behauptung, alles sei geraubt, sei schlicht falsch: "Es steht außer Frage, dass die Pergamongrabung 1878 - 1886 im Kontext asymmetrischer Machtverhältnisse durchgeführt wurde. Eine koloniale Situation bestand jedoch nicht. Wenn solche Begriffe in Bezug auf das Verhältnis zwischen Osmanischem Reich und Deutschem Reich verwendet werden, halten wir das für historisch falsch und verzerrend. Es ist übrigens schon seit langem bekannt, dass für das Erwirken von Grabungslizenzen, Genehmigungen von Fundteilungen etc. Gefälligkeiten eingesetzt wurden, dass hin und wieder etwas getrickst wurde und dass die Grabung heutigen Kriterien von Augenhöhe natürlich nicht entsprach."
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