9punkt - Die Debattenrundschau

Stoisch und hart im Nehmen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.10.2021. Die Medien nehmen den Friedensnobelpreis für die beiden Journalisten Maria Ressa und Dmitrij Muratow mit Genugtuung auf: Nicht nur in Russland und den Philippinen tobe zwischen autoritärem Staat und Zivilgesellschaft die offene Feldschlacht, meint etwa ZeitOnline. Der Standard beschreibt, wie sich Österreichs Politik an der eigenen Hintertriebenheit berauscht. Die taz spricht mit dem nicaraguanischen Schriftsteller Sergio Ramírez, der vom verkümmerten Sandinisten-Regime Daniel Ortegas ins Exil getrieben wurde. Im Guardian prophezeit Jonathan Freedland Facebook ein Ende wie der Tabakindustrie, auch wenn Mark Zuckerberg noch immer behaupte, Rauchen sei gut für uns.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.10.2021 finden Sie hier

Medien

Der Friedensnobelpreis für die philippinische Journalistin Maria Ressa und den russischen Gründer der Nowaja Gazeta, Dmitrij Muratow, wird von den Medien mit großer Freude aufgenommen, wenn nicht Genugtuung und viel Hoffnung. Auf ZeitOnline schreibt Michael Thumann etwa: "Der Friedensnobelpreis für zwei Journalisten ist vielleicht der politischste Akt des Nobelpreiskomitees seit Langem. Diese Auszeichnung greift ein in eine offene Feldschlacht zwischen autoritären Herrschern und Zivilgesellschaften, zwischen systematischer Unterdrückung und trotziger Offenlegung dessen, was wirklich läuft in der Welt."

Auch in der SZ betont Katharina Riehl: "Der diesjährige Friedensnobelpreis ist alles andere als ein Konsenspreis. Er ist eine ziemlich deutliche Botschaft an all jene Länder, in denen die freie Presse unterdrückt und gegängelt wird. Die Mitglieder des Nobelkomitees haben auch betont, dass sie da nicht nur an Russland und an die Philippinen denken."

In der taz erklären Klaus-Helge Donath und Sven Hansen die Bedeutung von Muratows Nowaja Gazeta: "Die Zeitung gilt als eines der letzten Flaggschiffe des unabhängigen Journalismus in Russland. Trotz Bedrohungen und Einschüchterungen gelingt es den JournalistInnen seit fast 30 Jahren, eine eigene Stimme zu bewahren. Sechs ihrer JournalistInnen, darunter Anna Politkowskaja, wurden bei der Ausübung ihrer Arbeit getötet. Am Donnerstag hatte sich der Anschlag auf sie zum fünfzehnten Mal gejährt." Hier eine Auswahl ihrer bewunderungswürdigen Reportagebände aus Putins Russland.
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Europa

Österreichs Politik überbietet sich immer wieder selbst an Hintertriebenheit. Wer die schmutzige, aber auch recht intrikate Inseratenaffäre noch nicht ganz durchschaut hat, die womöglich zum Sturz von Kanzler Sebastian Kurz führt, kann sich mit dieser hilfreichen Rekonstruktion von Gerald John und Fabian Schmid im Standard einen Einblick verschaffen: "Für einen Augenblick hat es den Anschein, als sei das Mastermind über die eigene Kühnheit erschrocken. 'So weit wie wir bin ich echt noch nie gegangen', schreibt Thomas Schmid im Jänner 2017 an einen Kollegen. Ausgelöst hat den wohligen Schauer eine in der Zeitung Österreich erschienene Umfrage. Für die eigene Partei, die ÖVP, fällt diese katastrophal aus - in den Augen Schmids aber ist das Ergebnis nur allzu gut."

Die Europäische Kommission muss gegenüber Polen standhaften bleiben, fordert Nikolas Busse sehr kategorisch in der FAZ nach der Entscheidung des Warschauer Verfassungsgerichts, polnisches Recht über europäisches zu stellen: "Ausschließen kann man Polen nach derzeitiger Rechtslage nicht, es wäre auch nicht klug. Das Land muss selbst entscheiden, ob sein Platz wirklich noch im Herzen Europas ist, wie der Ministerpräsident sagt. Ein polnischer Austritt würde die EU schwächen und ein strategisches Loch in Ostmitteleuropa reißen. Aber das würde die EU überleben, den Verlust der Rechtsstaatlichkeit nicht."

Ja, es ist wirklich so schlimm wie im Fernsehen, versichert Marion Löhndorf in der NZZ angesichts der britischen Versorgungskrise. Es könnte aber gut sein, dass die Regierung damit durchkommt, sie einfach stur zu leugnen: "Natürlich findet es niemand gut, stundenlang auf der Suche nach einer noch nicht trockengelegten Tankstelle in der Gegend herumzukreuzen. Aber der große Aufstand in Anbetracht der prekären Situation bleibt aus. Man stelle sich Frankreich vor, wenn es nicht mehr tanken könnte; das Land würde auf die Barrikaden gehen. Auch Deutschland und die Schweiz würden vermutlich weniger gelassen reagieren. In Großbritannien aber gilt es in allen Lebensbereichen als Tugend, stoisch und hart im Nehmen zu sein."
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Ideen

Im taz-Gespräch mit Waltraud Schwab fordert die ägyptische Schriftstellerin Nadia Wassef, die einst den legendären Buchladen Diwan in Kairo gründete, ein neues Nachdenken über die Geschichte des Landes, jenseits von Kolonialismus, aber auch von islamischer Hegemonie: "Ich meine, wenn man die kurze Geschichte von Ägypten betrachtet, muss man schon 7.000 Jahre zurück. Dem Islam gehören davon die letzten 1.400 Jahre. Wir müssen auch auf die Jahrtausende davor schauen. Und Geschichte muss durch andere Linsen als die von religiöser Eroberung oder Kolonialismus betrachtet werden. Wir müssen herausfinden, was in der Geschichtsschreibung fehlt... Ich schaue mir die Welt aber lieber aus einer kulturellen Perspektive an. Kultur macht uns zu Menschen; durch Kultur verbinden wir uns. Schauen Sie sich doch die Kraft, die von Literatur, Theater, Musik, Tanz ausgeht, an."

Der Wiener Kulturwissenschaftler Wolfgang Müller-Funk sinniert im Standard über die Bedeutung von Grenzen und kann ihnen zumindest im übertragenen Sinne durchaus etwas abgewinnen: "Neurotische Menschen lassen sich als von Grenzen eingeschüchterte und neutralisierte Individuen begreifen, die wie gebannt auf diese starren und sich angesichts des Hindernisses nicht mehr zu rühren vermögen. Sie hocken wie Kafkas Mann vom Lande vor dem Tor, das für sie offen stand, wie der Torwächter am Ende ungerührt meint. Bei genauerem Blick sind Grenzen indes nicht nur schikanös, sie schränken nicht nur ein. Sie tun das vor allem, wenn sie auf Dauer gestellte Schließungen sind. Grenzen sind keineswegs unnötig, vielmehr unhintergehbar. Durch Grenzen strukturiert der Mensch seine Welt, in der er lebt."
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Politik

Der nicaraguanische Schriftsteller Sergio Ramírez ist vom verkümmerten Sandinisten-Regime Daniel Ortegas ein zweites Mal ins Exil gezwungen worden, nachdem er bereits vom alten Diktator Somoza aus dem Land vertrieben worden war, wie Ramírez im Interview mit Ralf Leonhard in der taz berichtet: "Ich war im Juni aus gesundheitlichen Gründen in den USA. Dann wurden in Nicaragua die Oppositionspolitiker der Reihe nach festgenommen. Als auch Dora María Téllez und Hugo Torres verhaftet wurden, habe ich beschlossen, lieber nicht nach Nicaragua zurückzukehren sondern nach Costa Rica zu gehen. Hier lebe ich jetzt seit Juni... Mir war klar, dass sie früher oder später auch hinter mir her sein würden. Das Regime nimmt keine Rücksichten mehr, auch die internationale Reputation ist ihnen egal. Sie haben die Vorkandidaten der Opposition für die Präsidentschaftswahl festnehmen lassen, sie pfeifen auf die internationale Anerkennung der Wahlen am 7. November. Obwohl ich mit den Wahlen nichts zu tun habe, werfen sie mir dieselben Verbrechen vor, wie den jetzt inhaftierten Oppositionellen."

Auf ZeitOnline versucht sich der Soziologe Steffen Mau einen Reim darauf zu machen, dass die FDP bei jungen Wählern nicht mehr als Apothekerpartei dasteht, sondern für Bildung, Digitales, Innovation und Fortschritt. Mau erklärt es mit der Generationenerfahrung der Pandemie: "Die Zumutungen der Corona-Auflagen, die zahllosen Appelle der Solidarität, die Erfahrung eines schwerfälligen, mitunter paralysierten Staates, der behördliche Verzug bei der Digitalisierung, die Bildungsmisere - all das hat die Welthaltungen beeinflusst und den subjektiven Freiheitsbedarf erhöht. Viele Ältere mögen durch Kurzarbeitergeld und Finanzhilfen den Staat in einer neuen Rolle als gebende Hand sehen, für die Jüngeren war das auch eine Erfahrung des Unvermögens und zuweilen sogar des 'nanny state'. Das hat Staatsskepsis durchaus befeuert - aber nicht in Form querdenkerischer Gegenwehr, sondern in Form einer Desillusionierung. Handlungsfähigkeit, Professionalität, effizientes Entscheiden und der Staat als Hüter individueller Freiheit wurden vermisst."
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Kulturpolitik

In München soll die alte Synonage am Gärtnerplatz restauriert werden, in der SZ schüttelt Nils Minkmar den Kopf angesichts der Umständlichkeit, mit der die Behörden auf das Ansinnen der prominenten jüdischen Initiatoren reagieren: "Die Kosten von zehn Millionen Euro sind für solch ein hochsymbolisches Vorhaben in einem reichen Land und einer sogar steinreichen Stadt eigentlich überwindbar. Aber die Ämter und Abteilungen, mit denen Rachel Salamander und Ron Jakubowicz zu tun hatten, erwiesen sich als unterbesetzt, überfordert und immer wieder schlicht planlos. Der Denkmalschutz etwa war darauf eingerichtet, den Bau wieder in den Zustand von 1947 zu versetzen. Das war aber die unmittelbare Nachkriegszeit, als man die Räume für jüdische amerikanische Soldaten und displaced persons aus dem Osten irgendwie notdürftig hergerichtet hat.
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Stichwörter: Denkmalschutz

Internet

Wird Facebook so etwas wie die Alkoholindustrie oder wie die Waffenlobby? Nein, es wird die Tabakindustrie des 21. Jahrhunderts, meint Jonathan Freedland im Guardian nach den Aussagen der Whistleblowerin Frances Haugen: "Hat Facebook-Gründer Mark Zuckerberg diesen Befund zugegeben, als er im März vor dem Kongress aussagte? Hat er nicht. Stattdessen sagte er: 'Die Forschung, die wir gesehen haben, zeigt, dass die Nutzung sozialer Apps, um mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, positive Auswirkungen auf die psychische Gesundheit haben kann.' Mit anderen Worten: Rauchen ist gut für Sie. Aber wenn es um Leben und Tod geht, ist die Rolle von Facebook direkter als der psychologische Schaden allein. Haugen sagte aus, dass die Plattform in Äthiopien 'ethnische Gewalt anheizt', so wie es in Myanmar verheerende Auswirkungen hatte, wo Facebook schließlich seine fatale Rolle in der Kampagne des Militärs gegen die muslimische Minderheit der Rohingya zugab, die zu Mord, Vergewaltigung und Enteignung führte. Die Behörden in Nigeria sind ebenfalls der Meinung, dass über Facebook verbreitete Fake News Menschen töten, da Gruppen sich gegenseitig als Vergeltung für Gräueltaten angreifen, die nie stattgefunden haben."

Und auch der Netzaktivist und Gründer von Digitalcourage, padeluun, plädiert in der taz dafür, die Digitalkonzerne zu zerschlagen: "Der Bundesdatenschutzbeauftragte hat angekündigt, gegen Behörden vorzugehen, die auf Facebook sind. Und was passiert? Die gehen teilweise zu Instagram. Instagram! Eine Plattform, auf der man noch nicht mal Links nach draußen setzen kann, ein völlig abgeschottetes System. Gleichzeitig lassen wir Kinder darauf. Auf eine Plattform, deren Algorithmus einen abwertet, wenn man auf einen Post keine Antwort von seinen 'Friends' bekommt. Das erzeugt brutalen Druck. Es sind verbrecherische Systeme, den auch die meisten Erwachsenen gar nicht gewachsen sind. Deshalb bin ich hier ein Verbieter."
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